Frage?

Wie sieht das traditionelle Judentum die Psychoanalyse? Ich bin insbesondere an den scheinbaren Parallelen zwischen den Philosophien von Freud und Chabad interessiert.

Antwort!

Es gibt hierzu viele Ansichten, die von begeisterter „Umarmung“ bis zur bedingungslosen Verdammung reichen. Was nunmehr folgt basiert auf den Briefen des Lubawitscher Rebbe zu diesem Thema.

Der Rebbe schreibt, dass Psychoanalyse Menschen geholfen hat, aber seitdem Freud und seine Kollegen Religion selbst als eine Krankheit angesehen haben, müssen wir den Arzt, zu dem wir gehen, sehr sorgsam auswählen. Sie mögen vielleicht von Dr. Viktor Frankl gehört haben, der Man’s Search for Meaning geschrieben hat. Die Grundlage der Theorie Frankls war es, dass ein Mensch nach einem Sinn im Leben sucht und dass das Hauptziel der Psychoanalyse darin liegen sollte, diesen Sinn zu finden. Der Rebbe unterstützt die Ansichten Frankls im Gegensatz zu denen von Freud und bedauert die Tatsache, dass die Mehrheit der Psychoanalisten der Meinung Freuds, und nicht der Frankls, gefolgt sind.

In anderen Briefen sagt der Rebbe, dass es viele Ähnlichkeiten zwischen dem Freudschen Modell der menschlichen Psyche und dem gibt, welches Rabbi Schneur Salman in seinem Werk, der Tanja, geschrieben hat. Das erste Buch der Tanja gibt spirituelle Anleitung, und beschreibt oft die inneren Aspekte der menschlichen Seele. All dies basiert auf dem Talmud und anderen rabbinischen Schriften, wie den Werken von Rabbi Mosche ben Maimon (Maimonides), Rabbi Jehuda Loeb von Prag (Maharal), Rabbi Jizchak Luria (Ari), Rabbi Jeschajahu Horowitz (Schelo), und natürlich den mündlichen Überlieferungen des Baal Schem Tov und des Maggid von Mesritsch. Dennoch behandelt es als Erste die vielschichtigen Aspekte der menschlichen Persönlichkeit klar und eindeutig.

Außerdem hatte ethische Literatur vorher einen allgemeinen, auf das Verhalten bezogenen, Ansatz: Tu dies, doch tu jenes nicht. Sei wie dieses, vermeide es jenes zu sein. Wenn sie es nicht tun, werden sie es bedauern. Schneur Salmans Ansatz, der als „Chabad“ bekannt wurde, ist, dass unsere Emotionen und unser Verhalten das widerspiegeln, was in unserem Kopf passiert. Man kann sich nicht direkt an das Herz richten, schrieb er, wie sich auch das Verhalten nicht wirklich verändert, wenn man Belohnung offeriert und Strafe androht. Vielmehr kann ein wahrer Wandel nur erreicht werden, wenn man mit der ganzen Person arbeitet, beginnend mit dem inner mind.

Es war ebenfalls Freuds Verdienst, als er demonstrierte, dass viele Krankheiten auf geistige Störungen zurückgeführt werden können. Freud leistete auch Pionierarbeit für das Konzept eines vielschichtigen Bewusstseins, mit multiplen Kräften, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegen. Die Wörter, die er verwandte – Ich, Über-Ich und Es – haben auffallende Ähnlichkeiten zu der g-ttlichen Seele, der tierischen Seele und dem Körper (Guf), die in der Tanja charakterisiert werden. Viele andere Ähnlichkeiten könnten noch angeführt werden.

Wo Freud den sexuellen Trieb des Menschen als zu Grunde liegende Kraft sah, ist es in der Tanja die g-ttliche Seele. Dies ist der größte Unterschied, allerdings mit ernsten Auswirkungen.

Ferner, während Freud nur eine Therapie durch den Eingriff eines Arztes vorschreiben konnte, gab Schneur Salman für den gewöhnlichen Menschen einen klaren Weg vor, indem er für sich selbst aktiv werden konnte. Wir kontrollieren alle unseren Verstand, schrieb er, wir denken über all das nach, was wir wollen. Und dann gab er Anweisungen wie man eine Denkweise entwickeln kann, die die grundlegenden g-ttlichen Qualitäten des Herzens hervorbringen kann. Natürlich ist die Anleitung und die Hilfe des Zaddik in diesem Prozess von großer Bedeutung, aber die grundlegende Arbeit, betonte Schneur Salman, liegt auf den Schultern des Menschen, der sich verbessern möchte.

Natürlich war die Tanja nicht als Mittel gegen Psychosen bestimmt. Sie wurde für den gewöhnlichen Menschen geschrieben, der Führung beim Überwinden von Hindernissen auf seinem geistigen Pfad braucht. Aber die Grundlagen liegen alle vor und warten darauf angewandt zu werden.

Verschiedene Autoren haben sich mit den jüdischen Wurzeln der Ideen Freuds befasst. Einige verwiesen auf seine Begeisterung für die Kabbala und seine Gespräche mit Rabbi Schalom DovBer, dem fünften Rebbe von Lubawitsch. Andere waren der Ansicht, dass das Meiste, von seinen theoretischen Konstrukten, sich auf das im jüdischen Volk verbreitete Wissen zurückgeführt werden kann.