Dann nehme er eine Pfanne voll glühender Kohlen vom Altar vor dem Ewigen, und seine Hände voll feingestoßenes Räucherwerk aus Spezereien (Ketoret) und bringe es hinein innerhalb des Vorhangs.

Und er lege dann vor dem Ewigen das Ketoret auf das Feuer, auf dass die Wolke des Ketoret den Deckel einhülle, der über dem Gesetz liegt.

Lev. 16, 12–13

Das Streben des Menschen G-tt zu dienen kann von jedermann, zu jeder Zeit und überall umgesetzt werden. Der Gipfel dieses menschlichen Bemühens um Nähe zu G-tt, führte den heiligsten Menschen auf Erden am heiligsten Tag des Jahres an den heiligsten Ort der Welt: Am Jom Kippur betrat der Kohen Gadol (der „Hohepriester“) das Allerheiligste des Tempels in Jerusalem, um Ketoret (Räucherwerk) darzubringen. Ketoret war eine besondere Mischung von elf Kräutern und Balsamen, deren genaue Zutaten und Zubereitungsweise Moses von G-tt aufgetragen worden waren. Das ganze Jahr über wurde zweimal täglich Ketoret auf dem „goldenen Altar“ verbrannt, der im Tempel stand. Am Jom Kippur kam zu den regulären Ketoret-Darbringungen hinzu, dass der Hohepriester mit einer Pfanne glühender Kohlen in der rechten Hand und einer Schöpfkelle voller Ketoret in seiner linken die innerste Kammer des Tempels, das „Allerheiligste“, betrat; dort verteilte er das Ketoret über die Kohlen, wartete, bis der wohlriechende Rauch die Kammer füllte, und verließ dann schnell den Raum. Dieses Ritual stellte den Höhepunkt des Dienstes zu Jom Kippur dar.

Die Aufgabe des Ketoret

Als einen Zweck des Ketoret beschreibt Maimonides die Beseitigung von unangenehmen Gerüchen, die sonst den Tempel durchzogen hätten. „Da täglich viele Tiere an diesem heiligen Ort geschlachtet wurden, ihr Fleisch vorbereitet und verbrannt wurde und ihre Eingeweide entfernt wurden, wäre der Geruch zweifelsohne der Geruch eines Schlachthauses gewesen ... Deshalb befahl G-tt, zweimal täglich Ketoret zu verbrennen, einmal morgens und einmal am Nachmittag, um dem [Heiligen Tempel] und den Gewändern jener, die den Dienst taten, einen angenehmen Geruch zu verleihen.“1

Maimonides’ Aussage darf aber nicht oberfl ächlich gelesen werden. So schreibt schon der mittelalterliche Torakommentator Rabbenu Bechaja: „G-tt hüte uns, den wichtigen Grundsatz und das Geheimnis des Ketoret auf diesen profanen Zweck zu beschränken.“2

In der chassidischen Lehre wird ausgeführt, dass mit dem „Tieropfer“ das Darbringen der eigenen „tiergleichen Seele“ gemeint ist. Der Mensch hat nicht eine Seele, sondern zwei – die „g-ttliche Seele“, die der Ursprung alles Guten im Menschen ist; und die tiergleiche Seele mit ihren ungezähmten und ego-geladenen Trieben und Wünschen. Die „tierische Seele“ ist als grundsätzlicher Antrieb für Selbsterhaltung des Menschen notwendig und besitzt auch positive Elemente, die im Sinn der Tora genutzt werden können; vor allem aber ist sie die Quelle vieler negativer und zerstörerischer Züge.

Selbst wenn das „eigene Tier“ in den Tempel gebracht und das Feinste davon vor G-tt dargebracht wird, entsteht ein „schlechter Geruch“ – aus der Rücksichtslosigkeit, dem Triebhaften und Primitiven des Tieres im Menschen –, der diesen Vorgang begleitet. Da wird das Ketoret gebraucht, mit seiner einzigartigen Fähigkeit, den abstoßenden Geruch der tierischen Seele in seinem himmlischen Duft zu verfeinern.

Heute keine Läuterung des Bösen

Doch befriedigend ist auch diese Beschreibung des Ketoret nicht. Ja, die äußeren Tempelbereiche waren dem schlechten Geruch ausgesetzt, der von den dort dargebrachten „Tierseelen“ aufstieg, aber das Allerheiligste selbst war ein Sanktuarium ungeschmälerter Heiligkeit. Hier fanden keine Tieropfer statt, dieser Teil des Tempels war ausschließlich dem Aufbewahren der „Bundeslade“ vorbehalten, in der sich die Tafeln mit den Zehn Geboten befanden. Selbst wenn den „Gewändern“ (als Metapher für „Charakter“ und „Verhalten“) des gewöhnlichen Kohen der negative Geruch der „geschlachteten Tiere“ anhaftete, mit denen er zu tun hatte, war das sicher nicht der Fall beim Hohepriester, „dem spirituell Größten seiner Brüder“.

Und wenn an jedem Tag des Jahres mieser Geruch als Nebenwirkung von selbst hehrem Bemühen aufsteigt, ist doch aber Jom Kippur der eine Tag, an „dem es keine Erlaubnis für die Kräfte des Bösen für das Belasten“3 gibt, wie unsere Weisen sel. A. sagen.

Daraus schließen wir: Wenn der Hohepriester am Jom Kippur Ketoret darbrachte, war der spirituelle Zweck nicht die Läuterung des Bösen.

Frei von Zwängen und Einschränkungen

Was also ist das Wesen und die tiefere Bedeutung des Ketoret? Wörtlich bedeutet Ketoret „Bindung“ und ist so ein Ausdruck für das urtümliche Sehnen des Menschen, G-tt anzuhaften – ein Sehnen, das aus dem Innersten der Seele kommt. Dieses Sehnen ist frei von den Zwängen und Einschränkungen, die den Menschen im täglichen Leben von außen und von innen hemmen.

Das Ketoret hat durch seine Reinheit die Kraft, auch den abstoßendsten Geruch zu läutern. Aber seine wahre Wirkung findet sich nicht beim Kontakt mit dem Bösen. Sein höchster Ausdruck entfaltet sich vielmehr im Allerheiligsten am Jom Kippur, wo das Böse nicht existiert.

Das Berichtigen von Sünden

Heute steht der Heilige Tempel nicht mehr, und auch der Hohepriester betritt das Allerheiligste nur in unserem Erzählen des Ablaufs vom Dienst im Tempel, während des Gebets an Jom Kippur; und in der Hoffnung auf den zukünftigen Jom Kippur im wiedererbauten Tempel.

Das Ketoret bleibt dennoch ein grundsätzlicher Bestandteil unseres Dienstes an G-tt im Allgemeinen und unseres Dienstes an Jom Kippur im Besonderen. Die Rede ist natürlich von geistigem Ketoret – das in der menschlichen Seele als die Kraft von Tschuwa liegt.

Wie dem Räucherwerk, das im Heiligen Tempel brannte, kommt auch Tschuwa die offensichtliche Aufgabe zu, Negatives und Unerwünschtes zu korrigieren. Auf der täglichen, der praktischen Ebene ist Tschuwa „Reue“ – eine Reaktion auf eine Missetat. Aber ist Tschuwa nicht auch das beherrschende Thema von Jom Kippur, dem heiligsten Tag des jüdischen Jahres? Offensichtlich beinhaltet Tschuwa also mehr als nur das Berichtigen von Sünde.

Das Einbringen der Vergangenheit

Das Wort Tschuwa bedeutet „Rückkehr“ – Rückkehr zur immanenten Reinheit und Ganzheit der Seele. Das Wesen des Menschen, der „Funke von G-ttlichkeit“, ist immun gegen Korruption und bleibt unberührt von den Launen des Egos, unberührt von der Verwicklung in das Weltliche und Materielle. Tschuwa ist der Prozess, der die äußeren Schichten aus fehlgeleiteten Taten und verzerrten Prioritäten durchdringt, um das wahre Selbst zu offenbaren.

Das erklärt, wie Tschuwa Sühne für vergangene Sünden bewirkt. Tschuwa ermöglicht es dem Sünder, an seine eigene immanente Gutheit anzuknüpfen, an jenen Teil seiner selbst, der nie gesündigt hat. In gewisser Hinsicht hat der Mensch nun ein neues Selbst, eines mit einer unbefl eckten Vergangenheit; tatsächlich ist dieses „neue Selbst“ jedoch sein wahres Selbst, das ans Licht gekommen ist, während sein korruptes „Selbst“ lediglich ein Zerrbild war.

Nur Tschuwa besitzt solche Macht über die Vergangenheit; nur sie kann eine negative Tat „ungeschehen“ machen. Aber das ist nur eine ihrer Funktionen. Tschuwa ist nicht nur Sündern vorbehalten, sondern gilt auch für den Gerechten. Auch der vollkommen Gerechte ist angehalten, sich von den Hemmnissen der Vergangenheit zu befreien.

Welche Hemmnisse schränken den vollkommen Gerechten ein? Noch nicht erworbenes Wissen, noch nicht gewonnene Einsichten, noch zu entwickelnde Gefühle, noch nicht erreichte Stufen der Spiritualität; mit einem Wort, Einschränkungen der Zeit und ihres Gesetzes, dass es nur in eine Richtung geht.

Während der Mensch im Leben voranschreitet, überwindet er diese Hemmnisse, gewinnt Erfahrung und Weisheit, verfeinert seinen Charakter. Aber ist unsere Fähigkeit zur Entwicklung auf die Zukunft beschränkt und die Vergangenheit ein abgeschlossenes Kapitel?

Wenn der Mensch seine Tschuwa-Fähigkeit des Nach-Innen-Suchens anwendet in allem, was er tut, muss er keine unvollkommene Vergangenheit am Wegrand seines Lebens zurücklassen. Im Zustand von Tschuwa entdeckt er, wenn er etwas Neues lernt, die tiefere Dimension seines Selbst, das sich dieser Wahrheit stets bewusst war; wenn er eine Facette des Charakters verfeinert, bringt er die zeitlose Vollkommenheit seiner Seele ans Licht. Nicht zufrieden damit, einfach vorwärtszugehen, erschafft der Mensch mit der Suche nach seinem wahren Selbst auch die Vergangenheit neu.4