Der Baal Schem Tow1 besuchte einmal einen seiner Chassidim, Raw Nisan. Er überreichte ihm einen verschlossenen Umschlag und bat ihn, zum Schloss des Grundherrn, Graf Radswill, zu fahren und den besten Freund des Grafen, Pierre Louis, zur Rückkehr zum Judentum zu bewegen. In zwei Tagen sollte Raw Nisan den Umschlag öffnen. Er war verdutzt, denn so viel er wusste, war Louis kein Jude. Dennoch befolgte er die Anweisungen seines Rebbe ohne Widerspruch.
Graf Radswill war gütig und gerecht zu allen, die auf seinem Land lebten, zu Juden und Nichtjuden gleichermaßen. Als Raw Nisan am Schloss ankam, waren der Graf und Pierre Louis gerade von einem zweimonatigen Urlaub in Europa zurückgekehrt. Viele Menschen hatten sich versammelt, um sie zu begrüßen.
Die beiden Männer gingen ins Schloss, und die Menge zerstreute sich. Raw Nisan ging den ganzen Tag lang auf dem Schlosshof hin und her und überlegte, wie er es anstellen sollte, mit Pierre Louis zu sprechen. Am Abend fuhr er in die Stadt und schlief dort in der Synagoge. Am nächsten Morgen kehrte er zeitig zum Schloss zurück und hoffte, eine Audienz bei Pierre Louis zu erhalten. Doch als er sich dem Schloss näherte, bemerkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, und viele weinten.
Raw Nisan fragte, was geschehen sei, und erfuhr, dass der Graf und sein Freund am Abend zuvor auf die Jagd gegangen waren. Als sie nach dem erfolgreichen Ausflug zurückkehrten, stolperte der Graf auf der Treppe, worauf seine Pistole sich entlud. Nun hatte er eine große, blutende Wunde in der Brust, und obwohl die besten Ärzte ihn behandelten, gelang es ihnen nicht, die Blutung zu stillen. Der Graf lag im Sterben.
Plötzlich erinnerte Raw Nisan sich an den Umschlag, den der Rebbe ihm gegeben hatte. Er öffnete ihn, nahm den Brief heraus und begann zu lesen. Dort stand, wie er eine Salbe bereiten konnte, die eine Schusswunde im Brustkorb heilte!
Raw Nisan eilte zum Schlosstor, winkte mit dem Brief und bat um Einlass. Aber die Wachen weigerten sich. Pierre Louis hörte den Lärm, rannte sofort zum Tor und schrie: „Was willst du hier, Jude? Erzähl mir nicht, dass du Arzt bist! Verschwinde auf der Stelle! Was hast du da in der Hand?“ Raw Nisan versuchte zu erklären, aber der Franzose riss ihm den Brief aus der Hand und las ihn. „Das soll ein Heilmittel sein?“ schrie er. „Das ist Unsinn!“ Er wollte das Papier eben zerreißen, als einer der Ärzte aus dem Schloss kam, den Aufruhr sah und herbeilief. Er las den Brief, drehte sich zu Pierre Louis um und flüsterte: „Wir haben aufgegeben. Lass es ihn versuchen, es kann nicht schaden.“
Minuten später war Raw Nisan im Schloss, bereitete die Arznei zu und begann mit der Behandlung. Er rieb die Wunde mit der Salbe ein und trug ein wenig davon auf andere Körperteile auf. Das wiederholte er alle paar Minuten, wobei er sich genau an die Anweisungen hielt. Zur Überraschung aller hörte die Wunde fast sofort zu bluten auf! Nach wenigen Anwendungen schien der Graf tiefer und gleichmäßiger zu atmen, und eine Stunde später war er nicht etwa tot, wie jedermann es erwartet hatte, sondern die Farbe war in seine Wangen zurückgekehrt. Kurz darauf kam er wieder zu sich. Die Ärzte und Professoren waren sprachlos. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Pierre Louis war bis in den Grund seiner Seele erschüttert.
Nach einigen Stunden war der Graf stark genug, um Raw Nisan an sein Bett zu rufen und ihm zu danken. Er bot ihm reichen Lohn an, doch der Chassid lehnte ab. „Dass Ihr wieder gesund werdet, ist für mich Lohn genug. Bitte seid weiter gütig zu den Juden. Aber einen Wunsch hätte ich schon: Ich möchte mit Pierre Louis allein sprechen.“ Der erstaunte Pierre Louis und Raw Nisan gingen in ein Nebenzimmer und schlossen die Tür. Raw Nisan sagte: „Ich bin ein Schüler eines großen Juden namens Jisrael Baal Schem Tow. Er hat das Rezept geschrieben und Euren Freund gerettet. Er schickte mich her, um ... Euch zum Judentum zurückzuführen.“
Pierre war immer noch tief bewegt. Sein Freund war fast gestorben und auf wundersame Weise gerettet worden. Und nun das? Er sah Raw Nisan ungläubig an. „Soll das heißen, dass ich ein Jude bin? Das ist unmöglich!“ Er weigerte sich, weiter über dieses Thema zu reden, und beendete das Gespräch abrupt. Immerhin versprach er, darüber nachzudenken.
Fast ein Jahr später hörte Raw Nisan jemanden an seine Tür klopfen. Erstaunt sah er einen bärtigen Juden vor sich stehen: Pierre Louis, nun Pesach Tswi, war zum G-tt seiner Väter zurückgekehrt.
Fußnoten
1.
Begründer der chassidischen Bewegung
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