Was bedeutet es, unentbehrlich zu sein?

Die längste Zeit meines Lebens habe ich mir diese Frage gestellt. Vielleicht nicht genau in diesen Worten, doch hatte ich immer das Gefühl, dass es in meinem Leben irgendeine Aufgabe geben muss, die nur für mich bestimmt war, und die nur ich erfüllen konnte.

Ich kann mich erinnern, wie ich als junger Mann Anfang 20 unter einem Baum saß und gegen den Stamm gelehnt auf den Wald blickte. Ich war in Woodstock, New York, in den Jahren, die einige pflegen, die Woodstock-Jahre zu nennen. Es waren die Tage des Nachdenkens über das Leben und seine Bestimmung, in denen wir uns frei und uneingeschränkt fühlten: Tage unbegrenzter Möglichkeiten.

Ich fragte Ihn, warum Er diesem Baum Leben gab und mich im Dunkeln tappen ließ

Ich war jung, ledig, kinderlos. Geld war bedeutungslos, denn es war entweder leicht zu erwerben oder unwichtig.

Und da fragte ich mich unter dem Baum sitzend, wozu das Ganze? Warum hat mich G-tt überhaupt auf diese Erde gestellt? Was soll ich mit mir anfangen?

Ich war damals kein religiöser Mensch; jedenfalls nicht formal - doch eine spirituelle Person. Selbst in meiner Kindheit war ich ein heimlicher Gläubiger in einem säkularen Haushalt, auch wenn ich im Vergleich zu heute nicht sagen kann, dass ich religiös war. Doch war ich durchaus interessiert, mit einem Universum zu kommunizieren, das mein mickrig-kleines Selbst übersteigt.

In jenem Moment war das G-ttes Geschöpf, dass sich mir zur Betrachtung bot, dieser Baum, gegen den ich gerade mein Rücken lehnte. So dachte ich über diesen Baum nach und fing an, ihn dafür zu beneiden, dass er weder diesen seelischen Wirrwarr noch eine Identitätskrise hatte.

Der Baum schien genau seine Aufgabe zu kennen. Der Zweck seines Daseins war nicht nur klar, sondern auch für die ganze Welt um ihm herum von großem Nutzen, mich eingeschlossen, da doch mein Rücken von seinem Stamm gestützt wurde, mein Kopf den Schatten seiner Blätter genoss und mein ganzer Körper von der kühlen, schwarzen Erde und dem grünen Gras profitierte, das seine blättrige Krone vor glühender Sonne schützte.

So tat ich was jeder junge Mann in meiner Position tun würde: Ich begann, mich mit G-tt zu unterhalten. Diese Gespräche waren mir nicht neu, - zwar nicht jeden Tag, wie jetzt, - doch regelmäßig, Und sie waren immer sehr bewegend und tiefgründig.

In meinen Gesprächen tat ich sehr oft das, wenn ich zu G-tt sprach: Ich beklagte mich. Ich fragte Ihn, warum Er diesem Baum ein sinnvolles Leben schenkte und mich im Dunkeln tappen ließ. Ich bat Ihn dann, mir dieselbe Klarheit darüber zu geben, was wohl der Zweck meines Lebens sei. Ich erklärte G-tt, dass ich genauso geschätzt werden möchte, wie Er ich diesen Baum schätzt und jemand mir diese Anerkennung klar bestätigen soll.

Ich denke, wenn ich mich recht erinnere, dass ich vor allem wissen wollte, warum G-tt mich auf diese Erde gestellt hat, - nämlich um das für mich Vorgesehene tun zu können, um den Zweck meines Daseins zu erfüllen.

An jenem Tag gab es keine Offenbarung. Ich zog mich dann vom Dialog zurück, stand auf und ging weiter auf meinem verworrenen Weg.


Die Jahre gingen mit viel Suchen und Trachten vorüber, - und mehr Gesprächen mit dem Ewigen.

In jenen Jahren befasste ich mich mehr mit der Tora, entdeckte die Lehren der chassidischen Meister und fühlte mich näher an der Entdeckung meines Zwecks. Doch hatte ich immer noch nicht diese Klarheit über den Sinn des Lebens, die ich mir damals unter dem Baum erhofft hatte.

Ich sah meinen Sohn an, nahm einen tiefen Atemzug und wusste, dass ich den Zug schon nicht mehr erreichen werde

Eigentlich dauerte es bis zum Beginn der Chemotherapie, dass ich diesen langersehnten Augenblick der Klarheit erhielt. Ich wünschte mir diese Klarheit während meiner Chemotherapie-Monate ebenso wie je eine Sache im Leben. In jenen Tagen banger Schwäche war es von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, zu welchem Zweck ich hier in dieser Welt war, was ich hier erreichen soll und was wohl die Basis meiner Unentbehrlichkeit sein mag.

Lassen Sie mich zuerst erklären, dass ich jetzt fast achtundfünfzig Jahre bin. Ich habe eine ganze Menge Kinder und Geld ist weder leicht erwerbbar, noch unwichtig. Das Leben hat sich seit jenen Tagen unter dem Baum in Woodstock sehr verändert ... und ich liebe jeden Zentimeter dieser Veränderung.

Mein jüngstes Kind ist mein Sohn Dovie, der damals acht Jahre alt war. Mein ältester Sohn hat kürzlich geheiratet.

Eines Morgens hatte der kleine Dovie ein Problem, denn er konnte das spezielle Lineal nicht finden, das er für die Geometriestunden brauchte. Er suchte im ganzen Haus und war schon spät dran. Er weinte, weil er gleich einen Test hatte, - und ohne dieses Lineal sein Test nicht nur scheitern würde, sondern er konnte ihn nicht einmal schreiben. Er stand dem gegenüber, was in seiner Welt eine unheimliche Schmach bedeutete.

Ich hatte eine wichtige Verabredung und war dabei, mich wegen der Suche nach Dovies Lineal zu verspäten. Doch er war verzweifelt und ich konnte ihn nicht allein lassen.

Als wir schließlich dieses Lineal für verloren erklären mussten, blickte ich in sein kleines Gesicht und entschied mich, ihn zur Schule zu fahren. Er würde sein Lineal zwar nicht haben, doch wenigstens würde er rechtzeitig ankommen. Ich hoffte, den Zug zu meiner Verabredung danach noch zu erreichen.

Wir beeilten uns, wobei er immer noch darüber schluchzte, was wohl in der Schule auf ihn zukommen würde, und ich hoffte immer noch, rechtzeitig zum Zug zu kommen. Doch mein trauriger Sohn tat mir sehr leid.

Wir stiegen ins Auto und - als ich rückwärts aus meinem Parkplatz hinausfahren wollte, hielt ich an. Ich hatte diesen Moment. Ich sah meinen Sohn, nahm einen tiefen Atemzug und wusste, dass ich meinen Zug nicht erreichen werde, ja, es nicht einmal versuche. Ich werde stattdessen zum nächsten Schreibwarengeschäft fahren und ihm so ein spezielles Lineal kaufen, das er dringend benötigte. Und ich werde ihn zur Schule fahren und mit seinem Lehrer reden, damit er keine Probleme bekommt.

Es war ein kristallklarer Augenblick. Als ich diese Entscheidung getroffen hatte, führte ich diese Schritte ohne jegliche Zweifel und ohne Zögern aus.

Sein Gesicht hellte sich nach dieser Mitteilung auf. Er setzte sich gerade in den Sitz und schaute aus dem Fenster auf eine jetzt wesentlich heitere Welt.

Jedoch kurz nachdem ich das Lineal gekauft, mit dem Schuldirektor gesprochen, meinen Sohn ins Klassenzimmer gebracht und meine Verabredung verschoben hatte, kamen mir plötzlich Zweifel. Als ich nach Hause fuhr, fing ich an, mir Vorwürfe zu machen: Wie konnte ich eine Verabredung abblasen, nur um meinem Kind ein blödes Lineal zu kaufen, das er für einen albernen, wöchentlichen Mathematiktest brauchte?

Als ich dann auf meinen Parkplatz zurückkam, war ich bereits in Aufruhr. Ich saß eine Weile. Und dann, ganz plötzlich, aus dem Nichts heraus, fing ich an zu lächeln. Und dieses Lächeln wurde zu einem Lachen, das in meinem Herzen aufleuchtete und in meinen Kopf stieg.

Siehst Du, lieber G-tt, wie sehr meine Kinder mich brauchen?

Ich stellte fest, dass ich ganz stolz auf mich und die Wahl, die ich getroffen hatte, war.

In diesem Moment tat ich, was jeder Vater in meiner Position tun würde: Ich fing an, mich mit G-tt zu unterhalten.

Ich fragte Ihn: Wer brauchte mich mehr in jenem Augenblick? Für wen war meine Gegenwart entscheidender? Wer hätte sonst meinem Sohn dieses Lineal gekauft? Wer würde sich überhaupt darum kümmern?

Siehst Du, G-tt, wie sehr mich meine Kinder jetzt und in den kommenden Jahren brauchen werden?

Siehst Du, lieber G-tt, dass ich der einzige Vater bin, den meine Kinder haben, und es das zweifellos der Bereich des Lebens ist, in dem ich klar und sicher unentbehrlich und unersetzlich bin?

Als ich dieses Gespräch fortführte, in dem ich G-tt von meiner absoluten Unentbehrlichkeit zu überzeugen versuchte, und Ihn darum bat, aufgrund dieser Unentbehrlichkeit meine Krankheit zu heilen, hatte ich das Gefühl, dass dieses alberne, kleine Lineal mich am Leben erhielt.


Von jenem Tag an, kam ein neues Bewusstsein und ein neues Gebet in mein Leben. Ich fing an, jeden Tag Dutzende solcher Momente zu entdecken, in denen meine Gegenwart unentbehrlich war. Ich wurde mir dieser Momente bewusst und fing an, sie mit einem Gebet zu bekräftigen: Bitte, lieber G-tt, kannst Du nicht sehen, wie sehr mich meine Kinder brauchen? Wie wichtig es ist, mich am Leben zu erhalten? Heile mich!

Dieses Gebet würde jedes Mal erscheinen, wenn ich mit meinen Kindern ein Lächeln oder einen Gute-Nacht-Kuss austausche; wenn wir zusammensitzen, um über ihr Leben und ihre Probleme in der Schule zu reden; wenn ich sie ins Bett bringe oder mich mit ihnen unter mein Tallit knuddle, - während dem Segen der Kohanim, - wenn wir am Schabbat-Tisch sitzen, beim Zünden der Chanukka-Kerzen; wenn ich in ihre Schule gehe und mit dem Schuldirektor rede.

Das waren Momente, denen ich bereits unzählige Male zuvor begegnet war, bei denen es oft um ganz belanglose Sachen ging, wie verlorene, kleine Lineale oder verlegte Haarklemmen, gereizte Gefühle, Augenblicke der Enttäuschung, das Lösen einer Mathematikaufgabe. Nur wurden diese jetzt zu entscheidenden Momenten, jeder von ihnen von einem Gebet begleitet. Nun wurden diese Momente durch das Bewusstsein meiner absolut ausschlaggebenden Rolle erfüllt, die sie im Leben meiner Kinder und in meinem Leben spielten. Das waren Augenblicke, so glaube ich, die mich am Leben erhielten.

In diesen kurzen, stillen, kaum wahrnehmbaren Gebeten versuchte ich verzweifelt, G-tt von meiner Unentbehrlichkeit zu überzeugen. Wie ein Rechtsanwalt machte ich meine Forderung geltend, indem ich den Allmächtigen mit aller Intensität meiner Liebe zu meinen Kindern anflehte, dass Er mir meine Aufgabe noch viele Jahre lang zu erfüllen ermöglicht.

Ich bin wie ein Baum geworden, - und wie jener Baum einst meinen Rücken stützte, so stütze ich jetzt meine Kinder, wenn sie sich an mich lehnen. Wie seine Blätter mich vor der glühenden Sonne schützten, so gebe ich ihnen jetzt Schutz vor einer Welt, die ihre junge, zarte Haut zu verbrennen droht. Und genauso, wie die Baumkrone es der Erde erlaubt, genug Feuchtigkeit zurückzuhalten, um das grüne Gras unter ihr zu nähren, so gebe ich meinen Kindern die notwendige physische emotionale spirituelle Nahrung, die sie für ein gesundes Wachstum brauchen.

Mein Woodstock-Gebet ist erhört worden.