Der Baal Schem Tow versammelte eine kleine Gruppe seiner Schüler und bat sie, sich rasch auf eine Reise vorzubereiten. Die Chassidim waren an solche spontanen Anweisungen gewöhnt. Sie reisten oft in einer Kutsche mit ihrem Rebbe. Meist brachen sie am späten Abend auf und befanden sich am nächsten Morgen wie durch ein Wunder Hunderte von Meilen entfernt. Doch einerlei, wohin sie reisten, sie wussten, dass sie den Grund für die rätselhafte Reise erfahren würden.
Der Baal Schem Tow und seine Schüler saßen in der Kutsche, und Alexi, der Kutscher, saß draußen. Innerhalb weniger Minuten schlief Alexi ein, und die Kutsche wurde schneller. Auch ohne Kutscher wussten die Pferde, wohin die Fahrt ging.
Am Morgen befanden sich der Baal Schem Tow und seine Schüler in einem kleinen jüdischen Dorf, das eben erst aufwachte. Die Besucher fuhren zu einer kleinen Synagoge, und der Baal Schem Tow ging still hinein, gefolgt von seinen Schülern. Drinnen herrschte fast ohrenbetäubender Lärm. Dreißig Männer hatten sich zum Morgengebet versammelt, aber die meisten schienen mit Geschäften befasst zu sein. Sogar während der Lesung sprachen oder flüsterten viele miteinander. Wer betete, gestikulierte gleichzeitig oder starrte gelangweilt ins Leere.
Der Baal Schem Tow verließ die Synagoge zusammen mit seinen Chassidim. Draußen sagte er leise und ernst: „Diese Synagoge ist von jüdischem Beten erfüllt.“
Die Chassidim waren überrascht und entsetzt und warteten auf eine Erklärung. Vergeblich. Hatte der Baal Schem Tow in „anderen Welten“ etwas gesehen, was ihnen entgangen war?
Nun führte er sie in eine andere kleine Synagoge, nicht weit von der Ersten entfernt. Dort fanden sie wieder dreißig betende Männer. Aber diese Synagoge war anders. Auch sie war nicht still, aber was man hörte, war kein Lärm, sondern der Seufzer eines Betenden, der das lange Exil beklagte, und das herzerweichende Schluchzen eines anderen, der dem Schöpfer sein Leid klagte. Man hörte auch fröhliche Lieder, als die Besucher ihren Schöpfer mit alten Gebeten priesen.
Wieder führte der Baal Schem Tow seine Schüler hinaus. „In dieser Synagoge gibt es kein Gebet“, eröffnete er seinen verdutzten Chassidim. Sie warteten geduldig auf eine Erklärung, und sie kam auch.
„Wenn ein Jude betet oder eine Mizwa befolgt“, begann der Baal Schem Tow, „wird ein Engel erschaffen. Wenn die Gebete aus tiefstem Herzen kommen und die Mizwot aufrichtig befolgt werden, sind die neuen Engel vollkommen. Dann fliegen sie hinauf zum Himmel, wo sie für den betreffenden Menschen und seine Familie eintreten. Sie sind auch da, wenn es Zeit ist, ihn zu begrüßen, und sie verteidigen ihn vor einem strengen Gericht. Aber wenn Gebete unkonzentriert gesprochen und Mizwot unwillig oder aus den falschen Gründen befolgt werden, entstehen verkrüppelte Engel, die das Himmelstor nicht öffnen und nicht einmal hinauf zum Himmel fliegen können. Sie können also jetzt oder beim letzten Gericht nicht für diesen Menschen und seine Familie eintreten, sondern bleiben hier auf der Erde.
Die Gesichter der Chassidim erhellten sich. „Darum“, schloss der Rebbe, „waren in der ersten Synagoge viele verkrüppelte Engel, hervorgebracht von betenden Juden. Die Besucher dort beteten ohne Gefühl und Hingabe; deshalb blieben ihre Gebete in der Synagoge hängen. Die zweite Synagoge war anders. Dort stiegen die aufrichtigen und innigen Gebete hinauf zum Himmel, gingen durchs Tor und baten das himmlische Gericht, gnädig zu sein. Diese schönen, strahlenden Engel bleiben dort, bis sie die Menschen begrüßen dürfen, denen sie ihre Existenz verdanken.“
ב"ה
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