Für den Monat Adar hat unsere Tradition den Grundsatz aufgestellt: Vom Eintritt des Adar an wird die Freude vermehrt. Die Mischna (Taanit 4, 6) legt fest: "Wenn der Aw anfängt, ist weniger Freude am Platze", und dazu bemerkt der Talmud (Taanit 29a): "Ebenso wie vom Eintritt des Aw an weniger Freude herrschen soll, so ist vom Anfang des Adar an mehr Freude am Platze." Dieser Passus scheint einen Widerspruch zu enthalten, und zwar:
Einerseits wäre aus dem Talmud-Ausdruck "ebenso wie" zu entnehmen, die Hauptsache sei die Verminderung der Freude im Aw, die ja auch spezifisch in der Mischna so erwähnt ist, während die Steigerung der Freude im Adar nur "ebenso wie" ist, also bloß davon abgeleitet.
Andererseits aber ist die Verminderung der Fröhlichkeit im Aw eine beschränkte, sie findet nicht auf jede einzelne Phase des Lebens unbedingte Anwendung. Demgegenüber ist die Fröhlichkeit im Adar unbeschränkt, sie geht so weit, dass man "nicht mehr den Unterschied kennt" (zwischen den zwei Extremen Haman und Mordechai).
Daraus ergibt sich diese Frage: Wenn die ganze Anordnung für Adar nur eine Ableitung (Schlussfolgerung) vom Aw ist, wie lässt sich dann der soeben gezeigte Gradunterschied überhaupt erklären?
Die direkte Antwort lautet: Immer muss man guten Mutes sein (auch im Aw); und wenn man überdies angehalten ist, die Freude noch zu vermehren, so wird diese fast grenzenlos. Die Verringerung hingegen ist beschränkt; es verbleibt am Schluss immer noch ein gewisses Maß von Freude, dem wichtigen Leitsatz gemäß: "Dienet G-tt mit Freude."
Außerdem liegt darin noch ein tieferer Sinn verborgen: Chassidische Responsen sehen den G-ttlichen Zweck der Schöpfung darin, dass mit ihr – und durch sie – G-ttes Absicht verwirklicht wird, dass Er (gleichsam) eine Wohnung in den niederen Sphären habe. Für Menschen ist Haus und Heim Mittelpunkt all ihrer Tätigkeit; und so soll auch G-ttes Wohnung (gleichsam) Ihn ganz "enthalten"; und wo G-tt ist, da ist Freude. Oder anders ausgedrückt: Wenn diese Welt ein angemessener Wohnsitz G-ttes ist, muss es darin Freude geben.
Deswegen müssen wir jederzeit frohen Mutes sein, und selbst in einem Monat, in dem uns aufgetragen ist, die Fröhlichkeit zu verringern, kann dies nur beschränkt geschehen. Die Aufforderung zur Freude dagegen ist eine andauernde.
Und wenn immerhin es manchmal notwendig ist, im Dienste G-ttes weniger Freude zu zeigen, so haben die erwähnten Responsa hierfür ebenfalls eine Erklärung: Wenn ein Sterblicher einen Palast errichtet, dann muss zuerst einmal aller Abfall und Schmutz beseitigt werden, bevor man ihn kostbar einrichten und ausschmücken kann – so wie es einem König gebührt. Analog muss auch auf geistiger Ebene der (durch unsere Sünden hervorgerufene) Schmutz, auf den Exil und Zerstreuung unseres Volkes zurückzuführen sind, erst entfernt werden. Dies geschieht im Monat Aw, mit der Trauer. Doch ist dies im Grunde nur eine Vorbereitung für die Heilige Wohnstätte, die ihre Bestimmung und Gestaltung durch Freude und Frohsinn erfährt.
Den Ausdruck "ebenso wie" im Talmud, aus dem hervorgeht, dass die Fröhlichkeit im Adar eine Ableitung aus der verminderten Freude im Aw wäre, versteht die chassidische Philosophie daher so: Der Vorteil von Licht lässt sich erst richtig erkennen und ermessen, wenn man Dunkelheit erfahren und erlebt hat! Analog: Erst wenn man die Trauer im Aw mitgemacht hat, weiß man die schrankenlose Freude im Adar voll zu schätzen.
Aus diesem Grunde soll die Freude im Adar eine grenzenlose sein, dem großen Vorzug des Lichtes entsprechend. Es heißt in der Purim-Megilla (Esther 9, 22): "Der Monat, der umgewandelt wurde von Kummer zu Freude ..." Darin schon ist angezeigt, dass sich die Purim-Fröhlichkeit über den ganzen Monat Adar zu erstrecken hat.
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