Am Ende unseres Wochenabschnittes spricht die Thora eine Warnung an die Kohanim (Priester) aus: Und du sollst nicht auf Stufen zu Meinem Altar steigen! Sie durften zum vier Meter hohen Altar nicht mittels Stufen steigen (sondern nur mittels einer Rampe). Als Grund führt die Thora an: Dass nicht deine Blöße darauf aufgedeckt werde.1 Denn beim Stufensteigen bedarf es größerer Schritte, was dem Aufdecken der Blöße nahekommt. Und dies gilt als eine Schändung der Altarsteine.
Daraus lehrt der Midrasch, wie vorsichtig man sein muss, seinen Mitmenschen nicht zu verletzten: „Wennschon für diese Steine, die kein Bewusstsein haben, um auf ihre Geringschätzung achten zu können, die Thora vorschreibt, sie nicht verächtlich zu behandeln, da sie gebraucht werden; um wie viel mehr ist auf die Würde deines Nächsten zu achten, der im Ebenbild G-ttes erschaffen ist und seine Geringschätzung schmerzlich empfindet.“2
Steine fühlen nicht
Es stellt sich die einfache Frage: Muss man denn so eine grundlegende Regel – seinem Mitmenschen mit Respekt zu begegnen – von den Altarsteinen lernen?! Die Thora verbietet doch ausführlich: Und verletztet einander nicht;3 und außerdem gebietet sie: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!4
Bei genauerer Betrachtung können wir diesbezüglich aus den Altarsteinen zusätzliche Lehren ziehen: Erstens sind die Altarsteine keine Menschen, die ihre Geringschätzung spüren. Zweitens ist hier nicht von einem leichtsinnigen Verhalten (welches doch im ganzen Bereich des Tempels verboten ist) die Rede, sondern vom Steigen von Stufen, welches als „beleidigender Akt“ interpretiert und wahrgenommen werden könnte. Und trotzdem ist es verboten, obwohl es nur Steine betrifft, umso mehr gilt das bei den Mitmenschen.
Menschen wie die Altarsteine
Laut einer Meinung im Talmud muss man jemandem, den man beleidigt hat, nur dann dafür Entschädigungsgeld zahlen, wenn jener sich bewusst war, dass er beleidigt wurde. Der Talmud bringt ein Beispiel für so einen Fall: „Eine Person hat einen Schlafenden beleidigt, der danach im Schlaf stirbt“5 – Als er beleidigt wurde, wusste er davon nichts und hatte auch später keine Gelegenheit mehr davon zu erfahren – so ist diese Person davon befreit, Entschädigungsgeld (sogar an die Erben des Verstorbenen) zu zahlen.
Das gleicht den Altarsteinen, die nicht spüren, dass sie beleidigt werden. Die Thora sagt jedoch, dass ihnen mit Respekt zu begegnen ist. Daraus lernen wir, dass man den Mitmenschen nicht einmal dann kränken darf, wenn er dies selbst nicht mitbekommen würde.
Außerdem lernen wir von den Altarsteinen: das Treppensteigen auf dem Altar ist kein beleidigender Akt, könnte aber als solcher interpretiert werden; so muss man auch mit Taten oder Gesten vorsichtig sein, die an sich nicht beleidigend sind, aber als solche wahrgenommen werden könnten.
Ebenbild G-ttes
Der Midrasch macht aber auch auf einen tieferen Aspekt, bezüglich des Verbots den Mitmenschen zu beleidigen, aufmerksam. Er betont, dass der Mitmensch im „Ebenbild G-ttes erschaffen“ ist. Sobald man den Mitmenschen beleidigt, beleidigt man eigentlich auch G-tt. Und da G-tt alles sieht und alles hört, macht es keinen Unterschied mehr für G-tt, ob der Mitmensch die Beleidigung mitbekommen hat oder nicht. G-tt hat sie mitbekommen und wie gesagt richtet sie sich auch gegen Ihn.
So handelt es sich auch in umgekehrter Richtung: Sobald man den „Nächsten liebt, wie sich selbst“ und ihn respektvoll behandelt, ist das ein Ausdruck dafür, dass man G-tt liebt und schätzt. Dies wiederum erweckt die Liebe G-ttes zu uns und dann überschüttet Er uns mit Seinem uneingeschränkten Segen und bringt uns die vollkommene Erlösung!
(Likutej Sichot, Band 21, Seite 119)
Diskutieren Sie mit