Der Midrasch führt bezüglich den Plagen, die G-tt über Ägypten gebracht hat, eine Streitfrage zwischen den Thoragelehrten an: „Rabbi Elieser sagt: Jede Plage beinhaltete in sich vier Plagen; Rabbi Akiwa1 sagt: Jede Plage beinhaltete in sich fünf Plagen.“2
Den Kommentatoren3 zufolge ging es bei der Streitfrage nicht darum, wie viele Plagen es an der Zahl waren (denn es waren nur zehn Plagen), sondern wie „tief“ die Plagen gingen. Jede Materie besteht aus den vier Grundelementen – Feuer, Wasser, Luft und Erde. Doch es gibt auch den Urstoff, der über dieser Unterteilung von Elementen steht.
Darin liegt die im Midrasch angeführte Streitfrage: Laut Rabbi Elieser schlugen die Plagen in allen vier Elementen in Ägypten ein; doch Rabbi Akiwa zufolge gingen sie sogar bis zum Urstoff und deshalb „beinhaltete jede Plage fünf Plagen“.
Inneres Ägypten
Unsere Meister lehren: „In jeder Generation muss der Mensch sich sehen, als würde er aus Ägypten ausziehen.“4 Die Lehre der Chassidut macht darauf aufmerksam, dass das Wort מצרים (Ägypten) auch die Bedeutung von מיצר (Enge und Begrenztheit) trägt.5 „Ägypten“ symbolisiert also alle (innerlichen) Grenzen, die einen Juden dabei stören, G-tt ordnungsgemäß zu dienen. Unsere Meister bringen uns somit bei, dass man ständig „aus seinem Ägypten“ ausziehen muss – sich aus seinem inneren Gefängnis zu befreien hat.
Durch die zehn Plagen erlangte das Volk Israel die Freiheit aus Ägypten, somit helfen uns die „Plagen“ auch aus unserem inneren Ägypten auszuziehen. Deshalb liegt es an uns, die Streitfrage zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Akiwa, wie tief die Plagen gingen, auf unseren G-ttesdienst zu übertragen.
So wie jede Materie vier Elemente beinhaltet, gibt es im G-ttesdienst auch vier Bereiche:6
- die Tat – das Erfüllen der praktischen Mitzwot
- die Gefühle – Liebe und Ehrfurcht zu G-tt
- der Verstand – Erkenntnis in G-tt und Seiner Größe
- der Glaube, aus dem wahre Hingabe zu G-tt entspringt.
Tief in der Seele
Um sein inneres Gefängnis zu sprengen, müssen diese Bereiche von dem Jezer HaRa7 befreit werden.
Rabbi Elieser sagt, dass es vier Bereiche sind, die es zu schlagen gibt: Zuerst muss der Jezer HaRa bekämpft werden, der uns daran hindern möchte, die praktischen Mitzwot zu erfüllen. Dann muss man das Schamgefühl überwinden, was andere über uns denken mögen, wenn wir in den Wegen G-ttes gehen. Darauf folgt die Überwindung jener menschlichen Grenze, die alles zu verstehen versucht und mit der Rationalität analysiert. Und schließlich muss auch tief in die Seele eingedrungen werden, um jegliches Eigeninteresse zu beseitigen, welches sich in unserem Glauben und unserer Hingabe zu G-tt eingeschlichen haben könnte.
Rabbi Akiwa fügt hinzu, dass es noch einen fünften Bereich gibt, der geschlagen werden muss. Dieser Bereich ist der tiefste Punkt im jüdischen Herzen. Er muss von jeglichem Ego-Gefühl (das auch bestehen kann, wenn es kein Eigeninteresse mehr gibt) beseitigt werden, sodass der Mensch sich nicht mehr als eigenes Individuum sieht, sondern nur noch als hingabevoller Diener G-ttes.
Jezer HaRa – wo ist er nicht?!
In einfachen Worten heißt das: Es reicht nicht, dass wir Thora lernen und Mitzwot erfüllen. Auch in unserem Inneren müssen wir uns von dem Jezer HaRa befreien. Unser Herz muss G-tt gehören, rein von Eigeninteressen und fremden Begierden. Unser Verstand soll von der Thoralehre und der Erkenntnis über G-tt gefüllt sein, rein von sündhaften Gedanken.
Doch der rationale Verstand ist von Natur aus kalt und dies könnte die Begeisterung im Dienst zu G-tt abkühlen. Deshalb darf der Glaube nicht auf dem Verstand fundieren und auch die Grenzen des Verstandes und tiefere Schichten der Seele, in die sich der Jezer HaRa reingeschlichen haben könnte, müssen überwunden werden. So zieht man wirklich aus seinem Ägypten aus und erlangt echte Freiheit!
(Likutej Sichot, Band 16, Seite 87)
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