Ein Ruf von innen

Wieso heiraten? Das Thema ist noch viel fragwürdiger, wenn wir bedenken, dass es keinen vernünftigen Grund für solch einen drastischen Schritt zu geben scheint. Von welcher Seite wir auch das Problem betrachten, stets scheint es mehr Kontra als Pro zu geben, die diesen Schritt befürworten. Was könnte einen Menschen dazu führen, sich auf ewig zu verpflichten? Würde eine Person, „die noch alle Tassen im Schrank hat“, einen Arbeitsvertrag unterzeichnen, der sie lebenslänglich bindet, während ihr andere Möglichkeit mit weniger Einschränkungen offen stehen? Wozu soll sich also der Mensch in ein verbindliches Eheleben stürzen? Der Ehevertrag enthält zwar einen Ausweg, der allerdings mit unvorstellbarem Schmerz und Verheerung des Gefühlsleben verbunden ist. Aber warum soll die Beziehung nicht einfach während ihres natürlichen Bestehens genossen werden, - um weiterzugehen, sobald die erlöschte Leidenschaft aufhört, das Aufrechterhalten der Beziehung zu rechtfertigen? Warum soll sich eine vernünftige Person von vorn herein dazu verpflichten, sich an eine Beziehung zu klammern, und das sogar nach ihrer (künftigen) Degeneration, wenn diese bestenfalls noch steinig und schwierig sein wird?

Würde eine Person, „die noch alle Tassen im Schrank hat“, einen Arbeitsvertrag unterzeichnen, der sie lebenslänglich bindet?Zugegebenermaßen haben die relative Verbesserung der wirtschaftlichen Stellung der Frau und die Beseitigung des Makels des Junggesellendaseins die Hochzeitsrate in den vergangenen Jahrzehnten vermindert. Und trotzdem, obwohl der gesellschaftliche Druck abgenommen hat, zeigen die Statistiken, dass mehr als drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung verheiratet ist!

Warum aber heiraten wir? Der Kabbala (jüdische Mystik) zufolge ist der zwanghafte Drang, sich zu einem lebenslänglichen Bündnis zu verpflichten, ein Ausdruck des größten Strebens der menschlichen Seele. Die feinen von der Seele gesendeten Signale bewirken seit der Dämmerung der Zeit, dass die antilogische Einrichtung der Ehe zu einem integrierenden Teil des Menschendaseins wird. Das Verlangen der Seele sich zu binden und zu verbinden macht das Streben nach einem ehelichen Bund zu einem unserer grundlegendsten Instinkte.

Was ist die Absicht der Seele? Was verspricht sie sich von dem Zusammenschluss mit einer anderen Seele? Die Mystiker erklären, dass zwei wesentliche Überlegungen das Begehren der Seele zur Eheschließung antreiben: Ein Verlangen nach Vervollständigung und ein Bedürfnis, über sich hinauszuwachsen.

1+1=1

In ihrer ersten Ehe wurden Adam und Eva zuerst in der Form eines einzigen Körpers mit zwei Gesichtern erschaffen. Dieses eine Wesen wurde in zwei Wesen geteilt – in einen Mann und eine Frau – und dann, durch die Ehe, wiedervereint. In der Welt der Seelen ereignen sich die Trennung und die Wiedervereinigung der männlichen und der weiblichen Bestandteile der einzelnen Seelen immer wieder. Jeder Körper ist von einer halben Seele bewohnt und beide, Körper sowie Seele, erreichen ihre Vollkommenheit nur durch die Verbindung mit der oder dem ihnen Bescherten, der schon lange fehlenden „besseren“ Hälfte.

Die Anziehung zum anderen Geschlecht stammt eigentlich von dem eingeborenen Verlangen der Seele, sich mit dem Seelenverwandten wiederzuvereinen.Der Talmud sagt, dass der/die Bescherte jeder Seele schon vor Geburt für ihn bestimmt ist. Die beiden können auf ganz verschiedenen Kontinenten auf die Welt kommen und scheinbar ohne jegliche Gemeinsamkeiten, doch die G-ttliche Bestimmung sorgt schon dafür, dass jedermanns/-fraus Wege sich mit dem ihrer/s Bescherten kreuzen.

Es kann vorkommen, dass zwei zusammenfinden, welche eigentlich nicht von vornherein füreinander bestimmt waren. Das kann auf äußere Einflüsse zurückzuführen sein, oder aber auch darauf, dass einer oder beide Partner durch eine besonders gute Tat plötzlich einer anderen Person „gewachsen“ sind. In jedem Fall ist die Vereinigung der Eheleute das Resultat der G-ttlichen Vorsehung.

Die Anziehung zum anderen Geschlecht – welche oft als eine „Schwäche“, verbunden mit der egoistischen Befriedigung der primitivsten physischen Dränge, verschmäht wird – stammt eigentlich von dem eingeborenen Verlangen der Seele, sich mit dem Seelenverwandten wiederzuvereinen.

Es ist daher höchste Sorgfalt geboten, die heilige und starke Macht der sexuellen Anziehung nicht zu missbrauchen, indem sie, chalila, auf einen außerehelichen Bereich ausgeweitet wird. (Für weitere Informationen zu diesem Thema, siehe: „Verabredung auf jüdische Art“.)

Die Verpflichtung selbst ist das Ziel

Während die körperlichen Bedürfnisse und Neigungen entschieden egozentrisch sind, ist die Seele völlig selbstlos. Verpflichtung ohne entsprechende Gegenleistung klingt widersinnig, was die Sprache des Körpers betrifft, doch es ist Musik in den Ohren der Seele. Das glühende Begehren der Seele ist es, über sich hinauszuwachsen und die Ehe bietet ihr die Gelegenheit, ihre altruistische Natur zum Ausdruck zu bringen.

Heiraten heißt, dass zwei Seelen ihre persönlichen Bedürfnisse auf die Seite schieben und sich 100% dem Erfolg der Beziehung hingeben.

Das endgültige Ziel

Abgesehen von den gegenseitigen Verpflichtungen des Bräutigams und der Braut, enthält der jüdische Ehebund zwei weitere verbindende Paragraphen.

Erstens ist es eine Verpflichtung, zum Weiterbestehen des Jüdischen Volkes beizutragen: Jüdische Eltern sollen jüdische Kinder erziehen und ihnen die moralischen Werte der gewaltlosen Verteidigung beizubringen, wie z.B. gegen die Kreuzzüge, gegen Chmelnizki, der für die vernichtenden Pogrome in Osteuropa (1648/9) verantwortlich war, gegen Hitler und andere Unmenschen, deren Namen für immer gelöscht werden mögen, weil sie alles taten, das Jüdische Volk in die Geschichtsbücher zu verbannen.

Die Ehe spielt eine so wichtige Rolle in der Verwirklichung des Meisterwerks der SchöpfungZweitens ist es eine Verpflichtung gegenüber dem G-ttlichen Plan, der die Grundlage für die ganze Schöpfung darstellt. G-tt wünschte sich ein Zuhause in der physischen Welt, und unsere Aufgabe ist es, die Welt dem Ziel zu widmen, eine Wohnstätte für ihren Schöpfer zu erschaffen. Die uns dazu zur Verfügung stehende „Munition“ sind die Tora und ihre Gebote, - und das Heim ist die erste Front. Mann und Frau sind das perfekte Gespann, um diesen Plan in die physische Wirklichkeit umzusetzen: Wenn sie harmonisch zusammenarbeiten, kann ihr Haus zu einem Epizentrum der Heiligkeit werden, dessen Wellen die Nachbarschaft, das Land, die Welt und schließlich den ganzen Kosmos beeinflussen.

Die Ehe spielt eine so wichtige Rolle in der Verwirklichung des Meisterwerks der Schöpfung, und G-tt widmet deshalb viel Zeit und Energie der „Verkuppelung“.

„Mit was beschäftigt Er sich eigentlich nach den sechs Tagen der Schöpfung?“ fragt der Midrasch. „Er ist damit beschäftigt, potentielle Ehepartner zusammenzufügen“, lautet die Antwort. Jede einzelne Hochzeit ist ein entscheidender Teil an dem großen Puzzle, das vervollständigt die ganze Schöpfung in die von vorn hinein geplante Pracht der Erlösung einleiten wird.

Jüdisch zu heiraten heißt, dass zwei Menschen sich vollständig dem Aufbau der Beziehung zwischen G-tt und der Schöpfung widmen.