Artikel erschienen in der Jüdische Rundschau vom 30. März 1985 auf Seite 5 & 6
Im allgemeinen würde ein 850 würde ein 850-Jahr-Jubiläum wohl kaum als ein sehr «rundes» angesehen werden. Zuerst einmal fragt man sich daher, ein wenig verwundert, warum der in dieses Jahr fallende 850. Geburtstag dieses grossen Mannes Moses Maimonides so viel Beachtung erfährt, dass er nicht nur in Israel und den jüdischen Gemeinden der Diaspora gefeiert wird, sondern auch anderswo – zum Beispiel in Spanien und sogar in den Vereinten Nationen, wo man immerhin soweit gegangen ist, dass man für 1985 die Bezeichnung «Maimonides-Jahr» gefunden hat. Dass dieser renommierte sephardische Jude des frühen Mittelalters, Arzt, Philosoph, rabbinische Autorität, Kodifizierer und Dezisor, für seine eigenen Glaubensbrüder bleibenden Wert und eine Massive Bedeutung hat, ist eine Selbstverständlichkeit. Was aber ist sein Stellenwert für die nichtjüdische Welt?
Geboren wurde Maimonides («Maimuni», Moses ben Maimon, nach seinen Initialen später «RaMBaM» genannt) am 30. März 1135. Allerdings sollte das hebräische Datum ebenfalls zur Kenntnis genommen werden; es war Schabbat, der 14. Nissan – also: Erev Pessach – 4895. Er starb, 69 Jahre alt, am 13. Dezember 1204.
Dazwischen lag ein sehr volles Leben, eine Laufbahn so angehäuft mit Leid, Abenteuer, Arbeit, Fleiss und Leistung, dass es uns Heutigen fast die Sprache verschlägt, wenn wir in Briefen und anderen zeitgenössischen Niederschriften Einzelheiten darüber nachlesen und uns dann die Dinge auch plastisch vorstellen.
Es ist hier nicht der Platz, Maimonides’ wechselvolle Lebensgeschichte nachzuzeichnen; dazu würde viele Seiten in einer Enzyklopädie benötigt, und tatsächlich kann der Lernbegierige all dies in einem der vorhandenen Geschichtswerke und anderen historischen Aufzeichnungen zur Kenntnis nehmen. Wir können hier auch nicht die gesamte Liste all seiner Werke vorlegen, auch das würde sofort den Rahmen sprengen.
Vielmehr wollen wir uns, ganz einfach, diese Frage vorlegen: Was hat uns Juden der RaMBaM heute noch zu «geben», wie fördernd und erheblich bleibt er für die jüdische (spirituell-religiöse) Fortexistenz, und wie ist er, insgesamt, daher zu bewerten?
Wegweisend bei der Festlegung der Halacha
Für einen Studenten des Talmud, zum Beispiel, ist gerade dort von besonderer Wichtigkeit, dass Maimonides in seiner «Mischne Tora» – auch «Jad Hachasaka» genannt – das Religionsgesetz autoritativ kodifiziert hat. An vielen Stellen in der Gemara ist dies von sehr praktischer Bedeutung: Schnell lässt sich ein Weg aus dem wahrhaften «Meer des Talmud» finden, wenn im Verlaufe einer komplizierten, bisweilen «undurchsichtig» scheinenden Diskussion auf Randnotizen Bezug genommen werden kann (wie sie ein freundlicher Herausgeber dem betreffenden Talmud-Druck beigefügt hat), die jeweils auf die schliessliche Festlegung der Halacha verweisen; und diese Bezugnahme ist gewöhnlich auf Maimonides – manchmal auch im Verein mit anderen, späteren Halachisten – zurückzuführen.
Das will aber keineswegs besagen, dass die «Mischne Tora» als (sozusagen) eine blosse «Eselsbrücke» anzusehen ist; dieses riesige Werk spiegelt so ungefähr die Gesamtheit des bis dahin erschlossenen «jüdischen Geistes» wider, als ein Quell, aus dem viele Bäche und Ströme fliessen. Und so denn hat der RaMBaM das Epitaph erhalten: «Von Moses (dem Gesetzgeber) bis Moses (Maimonides) war keiner wie Moses (Maimonides).»
Ebenso berühmt ist seine Erklärung zur Mischna, der ersten Niederschrift der «mündlichen Lehre» durch R. Jehuda Hanassi; sie ist nahezu unentbehrlich zum Verständnis der Mischna. Darin sticht die Einleitung zu den «Sprüchen der Väter» besonders hervor; sie besteht aus acht Abschnitten und hat unter ihrem hebräischen Titel «Sch’moneh P’rakim» grosse Berühmtheit erlangt.
Aus ihnen lässt sich bereits teilweise und in Umrissen das Wesen seiner Philosophie herausschälen, seine tiefe Einsicht sowohl in die Sittenlehre wie in die Metaphysik, wie diese in die Worte von Tora, die schriftliche sowohl wie die engstens damit verbundene mündliche Lehre, gekleidet ist.
Nicht immer volle Zustimmung
Als sein religionsphilosophisches Hauptwerk gilt dann der «Moreh N’wuchim» (etwa: «Führer der Irrenden»), der – in drei Teilen – sich mit zahlreichen Begriffsbildungen, philosophischen Thesen, Analogien und Wesensbeschreibungen G-ttes auseinandersetzt. Die dabei angewandte Methode wie auch manche der Schlussfolgerungen haben in jüdischen gelehrten Kreisen nicht immer volle Zustimmung gefunden. Des öfteren ist Maimonides, posthum, stark angegriffen worden, und seine Bücher waren zeitweise verpönt. Das war vornehmlich auch darauf zurückzuführen, dass er sich, wenigstens nach aussen hin, als ein Anhänger aristotelischer Logik und aristotelischer Methodik auszuweisen schien. Auf dieser Grundlage wäre er vermutlich, sehr oberflächlich beurteilt, als ein «Rationalist» einzustufen.
Gleichwohl hat sich die Feindschaft gegen ihn auf die Dauer nicht halten können, und später fand er nahezu überall Anerkennung und Zustimmung. Denn wer Maimunis Denken genau verfolgt, wer sich in seine Schriften bis zu ihren tiefsten Dimensionen versenkt, wir sich am Ende fragen müssen, ob er in den Systemen der Philosophie überhaupt, und ohne irgendwelche Einschränkung, zur «rationalistischen» Schule zu zählen ist, oder ob so etwas nicht eine ziemlich leichtfertige und billige Klassifizierung eines Denkers wäre, der uns weitaus mehr zu sagen hat als dasjenige, das sich mit den Mitteln einfacher Vernunft erfassen lassen könnte. Und mit dieser rhetorischen Frage wäre schon der erste Schritt zu einer gleichzeitig intelligenteren wie intensiveren Bewertung des Mannes getan. Als Arzt, der sogar eine ungemein geschäftige und ermüdende Tagespraxis zu bewältigen hatte, muss seine Beurteilung berufeneren Kreisen vorbehalten bleiben. Hier sei nur ein Satz dazu geschrieben: In vielen Dingen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Hygiene und im Bereich der vorbeugenden Medizin (Prophylaktik), war er seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Obwohl er sein Geburtsland Spanien unter dem Druck der damaligen Umstände und Notlagen im jungen Alter von 13 Jahren auf immer verlassen musste, wird er auf der Iberischen Halbinsel dennoch als ein Kind seines Geburtslandes betrachtet und dementsprechend in Ehren gehalten.
Will man seine Bewertung, also die Dauerhaftigkeit seines Einflusses, nein, die Unsterblichkeit seines Geistes, in kurzen Worten zusammenfassen, dann wäre folgendes zu sagen: Für uns Juden ist er, zuerst einmal, als halachische Autorität unentbehrlich, nachgerade unersetzlich. Wenn auch eine Reihe seiner Entscheidungen in erster Linie, häufig sogar ausschliesslich, nur für sephardische Juden Gültigkeit haben, so ist dennoch vieles in seinem Material auch für Aschkenasim angängig und wertvoll. Zudem beziehen sich etliche spätere Autoritäten so oft auf ihn, gerade auch im jüdisch-aschkenasischen Raum, dass man ohne seine Werke einfach nicht «auskommt».
Vielfältige Bereicherung jüdischer Gedankenwelt
Auf der anderen Seite hat seine Gedankenwelt – also: seine Philosophie – jüdisches Geistesgut so vielfältig bereichert, selbst dort, wo neuere philosophische Schulen angeblich weitere «Fortschritte» gemacht haben, dass ihm seine überragende Autorität bis heute nicht abgesprochen worden ist. Im Gegenteil, sie ist so gut wie unerschütterlich. Von ganz grosser Erheblichkeit ist und bleibt die Tatsache, dass für ihn und in seiner Gedankenwelt ein angeblicher Widerstreit zwischen Religion und Philosophie nicht besteht; ein solcher braucht nicht einmal «überbrückt» zu werden, denn eine Kluft ist schon von vorneherein gar nicht vorhanden.
Die von ihm aufgestellten «13 Glaubenslehren» sind in fast allen Gebetbuch-Ausgaben zu finden und haben ihren dichterischen Niederschlag im «Jigdal»-Lied gefunden. Zu beachten ist, dass sie dabei nicht als «Dogmen» – im landläufigen Sinne dieses Wortes – gemeint sind.
Wie nun sieht die nichtjüdische Welt den Maimonides? Für sie gilt er vermutlich als ein hervorragender Exponent der spaniolisch-maurischen Kulturperiode, die dann im Verlaufe der weiteren Entwicklungen allmählich zurückgedrängt und schliesslich von der Inquisition vollends zunichte gemacht worden ist. Jene spezifische Kulturwelt, ursprünglich im Islam genährt, hatte im Laufe der Jahrhunderte den im islamischen Mittelmeerraum ansässigen Juden ungemein viel zu verdanken. Das ganze frühe Mittelalter hindurch folgt da ein leuchtender jüdischer Name auf den anderen. Die These ist zu vertreten, dass Maimonides unter ihnen vielleicht das hellste Licht ausgestrahlt hat.
In vielfacher Hinsicht herrscht in unserer eigenen Zeit eine spürbare geistige Armut vor. Da ist es eigentlich nicht mehr so sehr erstaunlich, dass ein bedeutender Name wie der des RaMBaM universell Anklang und Widerhall findet, auch ein 850-Jahr-Jubiläum – wie schon gesagt – an sich kein sehr «rundes» und deshalb kein besonders auffallendes sein sollte. Es ist sehr vonnöten, dass die gegenwärtige geistige Dürftigkeit fährt; und ein Geistesriese wie Maimonides – unser eigener jüdischer RaMBaM – kann da stark bereichern.
Diskutieren Sie mit