„Du hast uns aus den Völkern auserwählt“ (Siddur). Die Juden werden als „auserwähltes Volk“ bezeichnet. Deshalb fragen sich viele Juden: „Für welche Aufgaben wurden wir auserwählt?“

Die Antwort auf diese Frage liegt in dem Tora-Abschnitt Exodus 19:3-6, in dem G-tt direkt vor der Offenbarung am Berg Sinai mit Moses spricht:

Moses ging zu G-tt auf den Berg hoch, und G-tt sprach: “Sag dem Haus Jakob und den Kindern von Israel: ‚Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe; dass ich euch auf Adlerflügeln getragen habe und euch zu mir gebracht habe. Und nun, wenn ihr gut auf mich hört und meinen Bund haltet, dann werdet ihr mein liebstes Volk sein, denn mir gehört die ganze Welt. Ihr sollt ein Königreich der Priester und ein heiliges Volk sein. Sagt diese Worte den Kindern Israels.“

Diese Worte beinhalteten den Grund, warum G-tt die Juden „auserwählt“ hat, nämlich um „ein Königreich der Priester und ein heiliges Volk“ zu sein.

Der Bezug auf Priester bezieht sich nicht auf Kohanim, d.h. Priester, die von Aharon dem Hohepriester abstammen, denn nicht alle Juden sind in diesem Sinne Priester. Vielmehr wird hier auf die „priesterliche Funktion“ Bezug genommen.

Die Funktion des Priesters ist es, G-tt zu den Menschen zu bringen und die Menschen so zu erhöhen, dass sie G-tt näher kommen. Die Aufgabe der Juden ist es, sowohl G-tt der Welt, als auch die Welt G-tt näher zu bringen.

In unserer Assoziation mit der Außenwelt muss jeder von uns – Mann und Frau – priesterliche Funktionen erfüllen. Die Gegenüberstellung vom „Königreich der Priester“ und dem „heiligen Volk“ deutet darauf hin, dass wir durch unser heiliges Leben mit Tora und Mizwot erfolgreiche Botschafter in der Außenwelt sein können. Unser Einfluss auf die Außenwelt steht in direktem Bezug mit unserer Hingabe gegenüber Tora und Mizwot.

Diese „priesterliche Funktion“ wurde vom Propheten Esaia als „Licht für die Welt“ bezeichnet.

Ob wir Juden uns im Land Israel oder in der Diaspora befinden, oder ob wir als ein einzelner Jude am Ende der Welt leben, - nur eines ist wichtig: Jeder Jude und jede jüdische Gemeinde muss sich der Bedeutung als Repräsentant des jüdischen Volkes bewusst sein! Bei uns Juden ist nur der Körper im Exil. Die jüdische Seele ist nie im Exil, sondern sie ist frei von äußerlichen Unterdrückungen. Daher sollten die Juden ihre Aufgabe nicht ignorieren oder ihre Möglichkeiten unterschätzen, auch wenn ihre materiellen Kräfte begrenzt sind.

Die Verantwortung steht in direktem Verhältnis zur Stellung im Leben. Wer eine bedeutende Stellung einnimmt, wo ihm Einfluss über andere, insbesondere Jugendliche, gegeben wurde, hat auch eine größere Verantwortung. Solche Menschen müssen sich des Privilegs und der Verantwortung voll bewusst sein, die die G-ttliche Vorsehung ihnen übertragen hat, um das Licht der Tora zu verbreiten und die Dunkelheit in jedweder Form zu bekämpfen.

Niemand soll denken: “Wer bin ich, dass ich solch großen Einfluss habe?“ Wenn wir sehen, wie viel Zerstörung die Atomenergie verursachen kann, und uns vorstellen, wie viel Kraft sich in einem so kleinen Materie-Teilchen verbirgt, das entgegen dem Schöpfungszweck zur Zerstörung verwendet wird, - wie viel größer ist dann die kreative Kraft, die jedem Individuum gegeben wurde, um dem G-ttlichen Auftrag zu dienen. In diesem Fall werden uns besondere Fähigkeit und Möglichkeiten von der G-ttlichen Vorsehung zur Erfüllung unseres Auftrags zuteil, für den wir erschaffen wurden, d.h. eine Welt zu schaffen, in der „Jedes Geschöpf erkennt, dass Du es erschaffen hast“. Und jede atmende Seele soll erklären: „G-tt, der G-tt Israels, ist König, und seine Herrschaft ist über alle erhaben“ (Rosch Haschana Gebete).

Weder durch Macht noch Kraft, sondern durch den Geist

Das jüdische Volk hat die Anweisung bekommen: „Weder durch Macht noch Kraft, sondern durch meinen Geist, sagt G-tt“. Das jüdische Volk und die jüdische Gemeinde (und sogar der einzelne Jude) haben besondere G-ttliche Fähigkeiten bekommen, um ihre Aufgabe ganz und gar zu erfüllen. Denn bei den Juden sind die physischen mit den unendlichen geistigen Kräften verbunden und ihnen untergeordnet.

Zum Beispiel war das jüdische Volk zur Zeit Salomos unter den Völkern für seine Perfektion bekannt. Unsere Weisen haben diese Zeit als „Mond in seiner Fülle“ beschrieben, denn das jüdische Volk wird mit dem Mond verglichen. Es berechnet seine Zeiten und seinen Kalender durch den Mond, was unsere Weisen so erklären: So wie der Mond durch periodische Veränderungen seiner Erscheinung gemäß der Position geht, die er gegenüber der Sonne hat und deren Licht er reflektiert, so geht das jüdische Volk durch jene Veränderungen, die das Licht G-ttes reflektiert. Von Ihm ist geschrieben: “Denn G-tt Elokim ist Sonne und Schild“.

Diese Perfektion in der Zeit Königs Salomos drückte sich insbesondere in der Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und den anderen Nationen aus. Schon damals waren die Juden sowohl zahlenmäßig als auch kräftemäßig das kleinste Volk. Doch König Salomos Weisheit weckte in den anderen Königen und Führungspersönlichkeiten den Wunsch, von seinem Verhalten und seiner Weisheit zu lernen. Für diese Weisheit hatte er gebetet und sie von G-tt erhalten; sie war durchdrungen mit G-ttlichkeit.

Als die Könige der Nachbarländer kamen und sahen, wie unter König Salomos Führung ein Volk materiell „in Sicherheit lebte, jeder Mann unter seiner Weinrebe und unter seinem Feigenbaum“, da begriffen sie, dass über diesem Land „die Augen G-ttes, Eures G-ttes, immer ruhen, vom Beginn des Jahres bis zum Ende“. Da empfanden sie Ehrfurcht vor diesem kleinen Volk, und es zog Frieden zwischen den Juden und seinen Nachbarvölkern ein.

Hier sehen wir es klar und deutlich: Wenn die Juden gemäß der Tora leben, dann gibt es wahren Frieden. Das jüdische Volk wird zum führenden Licht für die Völker, denn „die Völker werden mit Hilfe deines Lichtes gehen“ – dem Licht von Tora und Mizwot.

Seine Aufgabe zu erfüllen, ist für einen Juden nicht auf die guten Zeiten begrenzt. Nicht nur „im Zustand des Vollmondes“, sondern auch im Exil, wenn die Juden „unter den Völkern verstreut leben müssen“, bleiben ihre Aufgaben die gleichen.

Denn selbst dann sind sie ein Volk, G-ttes Volk, dessen Gesetze anders sind als die aller anderen Völker, - eine Tatsache, die alle Völker der Welt kennen und deshalb anerkennen sollen.