Der Talmud erzählt1, dass Rabbi Akiwa 24000 Schüler hatte und fast alle in kürzester Zeit (innerhalb 33 Tage) starben, da sie sich nicht gegenseitig Ehre erwiesen. Das ist der Grund für die Trauer zur Omer-Zeit.2 Lag BaOmer (33. Tag zur Omer-Zeit) ist ein Freudentag, weil da keine Schüler mehr starben.
Die Erzählung des Talmuds wirft einige Fragen auf. Es war doch Rabbi Akiwa, der die Pflicht der Nächstenliebe sehr in den Vordergrund rückte. Gerade seine Schüler waren es, die darin versagten?! Und worin lag ihr Versagen? – dass sie sich nicht gegenseitig Ehre erwiesen (und nicht etwa, dass sie sich gegenseitig hassten und dies zum Ausdruck brachten) und dennoch wurde es ihnen als eine so große Sünde angerechnet, die mit dem Tod bestraft werden musste?! Und warum starben sie alle zur gleichen Zeit? Es ist doch undenkbar, dass 24000 Menschen im selben Maß zur selben Zeit sündigten, sodass sie alle zur selben Zeit mit dem Tod bestraft wurden.
Wenn sich die Geister scheiden
Unsere Meister gehen sehr sorgsam mit ihren Worten um. Der Talmud sagt nicht, dass die Schüler sich stritten oder sich gegenseitig beleidigten, sondern nur, dass sie sich nicht gegenseitig Ehre erwiesen. Als Rabbi Akiwas Schüler achteten sie sicher sehr auf das Gebot der Nächstenliebe. Doch sie hatten es schwer, sich gegenseitig aufrichtig zu ehren. Und das lag gerade daran, weil jeder von ihnen mit Leib und Seele an Rabbi Akiwa und seiner Lehre hing.
Der Talmud legt folgende Regel fest: „Die Menschen sind in ihren Sichtweisen nicht gleich.“3 So wie die Menschen in ihrem Aussehen verschieden sind, sind sie es in ihren Sichtweisen. Diese Regel betraf auch die Schüler Rabbi Akiwas. Jeder von ihnen hatte seine eigene Sichtweise bezüglich Rabbi Akiwas Lehre. Und als der eine begriff, dass sein Freund Rabbi Akiwas Lehre anders interpretierte, war er davon überzeugt, dass sein Freund sich irrte. Aus echter Nächstenliebe heraus wollte er seinen Freund auf seinen Irrtum aufmerksam machen und ihn von der Richtigkeit seiner Auslegung überzeugen. Als er jedoch einsah, dass sein Freund auf seiner Sichtweise der Lehre beharrte, konnte er ihm nicht mehr wirklich würdigen, da er doch die Lehre seines so geliebten Rabbis (seiner Meinung nach) falsch interpretierte! Und auch sein Freund versuchte ihn von seiner Sichtweise zu überzeugen und musste zu demselben Entschluss kommen.
Das böse Auge und die Strenge
Diese Missetat allein war nicht so schlimm, um dafür mit dem Tod bestraft zu werden, doch da passierte noch etwas; und zwar als die Anzahl der Schüler Rabbi Akiwas 24000 erreichte. Dies ist eine gewaltige Zahl, welche „Ain Hara“ (das böse Auge)4 erweckte. Die Zahl 24 steht auch in engem Zusammenhang mit dem g-ttlichen Attribut der Strenge.5 Und auch zur Zeit der Omerzählung wirkt die Strenge G-ttes auf der Welt. All diese Faktoren – das Erwachen des bösen Auges über die 24000 Schüler Rabbi Akiwas zu einer von Strenge geprägten Zeit – führten schließlich zu ihrem Tod.
Wären die Schüler makellos in ihrer Liebe zueinander und ihrem Zusammenhalt gewesen, hätte sie dies vor dem Unglück bewahrt. Doch da sie sich nicht gegenseitig Ehre erwiesen, hatten sie eine ungeschützte Schwachstelle und als das Attribut der Strenge über sie erwachte, schlug es dort ein. Deshalb starben sie alle im selben Zeitraum.
Keine Mühen scheuen
Lag BaOmer betont also die Notwendigkeit, den Nächsten in jeder Situation zu lieben und ihn zu achten, auch wenn die Meinungen (sogar in ideologischen Dingen) weit auseinander gehen.
Dies drückt sich auch im Leben von Rabbi Schimon bar Jochai aus, der eng mit Lag BaOmer in Verbindung steht, denn er war einer der wenigen Schüler, die nicht starben und Jahre später verstarb er auch zu Lag BaOmer. Der Talmud erzählt6, dass Rabbi Schimon sich zwölf Jahre in einer Höhle vor den Römern versteckte und das erste, was er tat, als er die Höhle verließ, war, danach zu suchen, wie er jemandem behilflich sein könnte. Er reinigte einen Weg (von der Unreinheit), den die Kohanim nicht betreten durften, um ihnen Umwege zu ersparen.
Dies ist ein Beispiel für echte Nächstenliebe – keine Mühe zu scheuen, um hingabevoll einem anderen Juden zu helfen, auch wenn es nur darum, ihm unnötige Mühen zu ersparen (auf Umwegen zu gehen). „Und auf Rabbi Schimon kann man sich verlassen, wenn es brenzlig wird“7, sagt der Talmud. In der Galut, einer brenzligen Zeit, kann man mit Nächstenliebe niemals übertreiben. Da ist auf Rabbi Schimons Eifer Verlass. Und so wie sinnloser Hass die Galut hervorrief, ist es übertriebene Nächstenliebe, die die Erlösung herbeibringen wird.
(Likutej Sichot, Band 32, Seite 149)
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