Ein Rabbiner und ein israelischer Busfahrer, verliessen gleichzeitig diese Welt und kamen gemeinsam vors himmlische Gericht.

Der Busfahrer wurde schnurstracks ins Paradies geschickt, während der Rabbiner in einen Wartesaal verwiesen wurde, bis man über ihn bestimmen würde. Ganz verwundert wandte sich der Rabbiner an einen Engel und fragte diesen: „Können Sie mir das erklären? Mit allem Respekt, er war ein einfacher Busfahrer und ich ein Rabbiner??!“

Da sagte ihm der Engel: „Wissen Sie, bei uns zählt nur das Resultat. Wenn er seinen Bus fuhr, beteten die Leute. Wenn Sie gepredigt haben, schliefen sie ein!“

„Gelebtes Judentum heute – eine Gratwanderung zwischen Substanzerhalt und Assimilation“. Ist diese Gegenüberstellung überhaupt richtig? Sind das Judentum und die moderne Welt wirklich zwei miteinander unvereinbare Extreme? Oder kann es uns gar gelingen, Brücken zu bauen und dadurch beide Bereiche unseres Lebens unendlich zu bereichern?

Über Rabbi Susja von Anipoli, einem der grossen Meister des Chassidismus wird folgende Anekdote erzählt: „Einst sagte er: „Wenn ich nach hundert und zwanzig Jahren diese Welt verlasse und mich für meine Handlungen rechtfertigen muss, wird man mich nicht fragen, warum warst Du nicht wie Abraham, warum warst Du nicht wie Moses, warum warst Du nicht wie Maimonides. Man wird mich fragen: „Warum warst Du nicht wie Susja?“

Hast Du mit Deinen Fähigkeiten, mit deinen Möglichkeiten, in Deiner Lebenssituation das erreicht, wofür Du bestimmt warst? Das ist die Frage!

Wenn wir die heutige Epoche betrachten und uns Gedanken über die Zukunft der jüdischen Identität in einer laizistischen Welt machen, müssen wir diese Worte stets im Auge behalten. Wir müssen uns weder an den Juden, welche Ägypten verliessen, den Juden zur Zeit des Tanach oder des Talmud, oder gar an den Juden im Mittelalter messen, sondern an uns selbst. Wir müssen uns fragen, ob es uns gelungen ist und gelingen wird, in der Situation in welcher wir leben, ein jüdisches Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu führen.

Wenn wir dabei mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert werden, muss uns dies nicht entmutigen, sondern im Gegenteil unseren Kampfgeist herausfordern, wie die folgenden Beispiele aus dem Tanach, unserer Bibel, und aus dem Talmud aufzeigen.

Im Chumasch Paraschat Bereschit wird die bekannte Geschichte von Kajin und Abel erzählt. Während sich G-tt dem Opfer Abels zuwandte und es anerkannte, ignorierte er die Gabe Kajins, welche nicht grosszügig und von Herzen gespendet wurde. Kajin war sehr enttäuscht und G-tt wandte sich deshalb mit folgenden Worten an ihn: „Warum bist Du empört und weshalb das lange Gesicht?! Wenn Du Dich verbessern wirst, kannst Du Dich zu mir erheben, aber wenn Du Dich nicht verbessern wirst, liegt die Sünde vor der Tür. Er (der Jezer Hara – Dein Trieb) gelüstet nach Dir, aber Du kannst ihn beherrschen.“

Ich glaube, dass G-tt ihm mit diesen Worten eine einfache, aber wichtige Erkenntnis ermöglichen wollte, welche für alle Menschen von grösster Bedeutung ist: Als ich den Menschen geschaffen habe, habe ich es ihm nicht einfach gemacht, denn ich wollte es ihm nicht einfach machen. Schon bei der Tür, d.h. wenn der Mensch zum ersten Mal die Welt erblickt, wird er von seinem Trieb begleitet. Dieser Trieb, der das Leben nach einem hohen moralischen Standard bestimmt nicht vereinfacht, wurde nicht geschaffen, um den Menschen zu Fall zu bringen, sondern im Gegenteil: Erst durch diesen Trieb, kann vom Menschen, wenn es ihm gelingt, diesem Trieb zu widerstehen, gesagt werden, er habe mit eigener Kraft und Anstrengung Gutes vollbracht.

Wir haben eben erst das Purim Fest gefeiert. In einem kleinen Dialog zwischen Mordechai und Esther tritt eine Lebenseinstellung zu Tage, welche zutiefst berührt und den ganzen weiteren Verlauf der Purim Geschichte prägen sollte.

In der Megillat Esther wird erzählt, wie Haman im alten persischen Reich plante, das ganze jüdische Volk mit einem Schlag endgültig zu vernichten. Als Mordechai über das entsprechende königliche Dekret erfuhr, war er verständlicherweise zutiefst erschüttert. Er zerriss seine Kleider, schrie laut und bitter und streute sich Asche auf das Haupt. Weiter wird in der Megilla berichtet, wie Esther davon erfuhr, dass Mordechai mit zerrissenen Kleider auf der Strasse sass. Sie sandte ihm frische Kleider, die Mordechai jedoch ablehnte. Mordechai schickte seinerseits eine Botschaft an Esther, sie solle ihren Ehemann, den König Achaschwerosch anflehen, das drohende Unheil abzuwenden.

Darauf erwiderte Esther: Es sei doch allseits bekannt, dass es strengstens verboten sei, den König unaufgefordert zu besuchen und dass jeder, der das Verbot missachte (selbst Esther, seine Ehefrau und Königin), mit seinem Leben bezahlen müsse, wenn der König dieser Person nicht das goldene Zepter reiche. Sie würde sich also in höchste Lebensgefahr begeben, sollte sie es wagen, den König unaufgefordert zu besuchen und ihn zu bitten, das Leben der jüdischen Gemeinschaft zu retten.

Mordechai antwortete ihr: „Bilde Dir nicht ein, du könntest im Königshaus dem Los aller Juden entrinnen. Wenn Du jetzt in diesem Moment schweigen wirst, kann ich Dir versichern: „ Die Rettung wird den Juden von einem anderen Ort kommen, aber Du und Dein Vaterhaus werden verloren gehen. Und dann kommt der entscheidende Satz: „Und wer weiss, ob Du nicht gerade für diesen Moment den Status einer Königin erlangt hast!“

Mordechai lehrte seine Nichte und Schülerin Esther, die Situation mit anderen Augen zu betrachten: Nicht eine Gefahr, sondern eine Herausforderung, nicht reiner Zufall, sondern G-ttliche Vorsehung hatten sie in diese Lage gebracht. Ein mutiger Schritt Esthers und starke Worte seitens Mordechais, brachten die Rettung.

Diese Idee finden wir auch im Talmud wieder: Unsere Weisen erzählen im Talmud Traktat Schabbat die folgende Legende:

Als Mosche Rabbenu den Berg Sinai bestieg, um die Tora für das jüdische Volk zu erhalten, wandten sich die Engel an G-tt und fragten: “H-rr des Universums, was sucht ein Menschensohn hier in unserem Reich?!“ Die G-ttliche Stimme antwortete: „Er ist gekommen, um die Tora zu erhalten.“ Die Engel fragten wieder: “Diesen wertvollsten aller Schätze, den Du bislang bei Dir behalten hast, willst Du Menschen aus Fleisch und Blut schenken?! Tenah Hodcha al Haschamajim - Gebe doch uns Engeln diesen wertvollen Schatz!“

G-tt wandte sich zu Mosche und gebot: „Antworte ihnen!“

Nun argumentierte er mit den Engeln vor dem himmlischen Thron: “H-rr des Universums! In der Tora, welche Du mir geben willst, heisst es doch: ‚Ich bin Dein G-tt, der Dich aus Ägypten, dem Hause der Sklaverei befreit hat.‘ Wart ihr denn in Ägypten?! Wart ihr denn Sklaven zum Pharao?!

Ferner heisst es in Deiner Tora: ‚Du sollst keine fremden Götter haben!‘ Wohnt ihr denn zwischen anderen Völkern, welche fremde Götter verehren?!

Ferner heisst es: ‚Erinnere Dich an den Schabbat, ihn zu heiligen!‘ – Verrichtet ihr denn Arbeit, so dass ihr am Schabbat ruhen müsst?!

‚Entweihe G-ttes Namen nicht durch einem Meineid!‘ Seit wann seid ihr denn Geschäftsmänner, welche vor Gericht schwören müssen?!

‘Ehre Vater und Mutter!‘ Habt ihr denn überhaupt Vater und Mutter?!

‚Du sollst nicht morden, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen!‘ Kennt ihr denn Neid, Habt ihr denn einen Jezer Hara (schlechten Trieb)?!

Sofort erkannten sie, wie recht er hatte und lobten G-tt für seinen Entscheid, die Tora dem Menschen zu geben.

Unsere Weisen brachten mit dieser Geschichte eine zentrale Idee des Judentums zum Ausdruck: Nicht den Engeln, sondern den Menschen wurde die Tora gegeben. Nicht wenn alles glatt verläuft und der Weg der Tora eine Selbstverständlichkeit ist, ist das Ideal des Judentums erreicht. Das Ideal liegt im Kampf, im ringen und im suchen.

Ein Komiker sagte einst: Nichts ist mehr, wie es einst war. Selbst die Zukunft nicht!

Wir leben heute in einem Zeitalter, in dem sich das Leben, wie wir es kennen, immer schneller verändert. Eine technologische Neuerung jagt die Nächste, bevor wir die erste assimiliert haben, steht schon die nächste Revolution vor der Tür. Auf dem Gebiet der Medizin, der Informatik, der Raumfahrt bahnen sich entscheidende Durchbrüche an, welche vor wenigen Jahren nicht einmal geahnt werden konnten.

Kann in einer solchen Welt das Judentum überleben? Kann der moderne jüdische Mensch in unserer über viertausendjährigen Tradition Antworten für seine Lebensfragen finden? Haben ewige Werte und Ideale in einer schnelllebigen „Now Generation“ überhaupt eine Chance???

Ich behaupte: Mehr denn je!! Wir brauchen jetzt erst recht diese Werte, um uns überhaupt noch zurechtfinden zu können. In einer Zeit, wo sich unsere Freizeit immer mehr verlängert, wo in Frankreich bald die 35 Stunde eingeführt wird und wo vermehrt auch Menschen im Rentenalter sich guter Gesundheit erfreuen und einem immer längeren Lebensabend entgegensehen dürfen, wird auch unsere Sinn - und identitätsspendende Tradition immer gefragter und relevanter.

Wird es einfach sein, die Tora für unsere Zeit relevant zu machen? Wer hat je von einfach gesprochen? Wer hat denn je gesagt, dass es einfach sein sollte? Genau darin liegt aber die Herausforderung!

Wenn es uns gelingt, nicht die Gefahr, sondern die Herausforderung zu sehen, nicht die Angst, sondern die freudige Zuversicht zu empfinden, dann wird es uns gelingen, unser gelebtes Judentum heute und für die Zukunft unendlich zu bereichern.

Machen wir doch das industrielle Zeitalter und seine einhergehenden sozialen Veränderungen zu einem jüdischen Thema!

Machen wir doch den Feminismus zu einem jüdischen Thema!

Und machen wir das Internet und den Umweltschutz zu einem jüdischen Thema!

Vielleicht werden Sie fragen: Wie bitte? Den Feminismus und das Internet zu einem jüdischen Thema machen?! Das Internet, der Feminismus, der Umweltschutz sind jüdische Themen! Es gilt die Initiative zu ergreifen und diese Begriffe positiv jüdisch zu besetzen!

Erlauben Sie mir einige dieser Begriffe ein wenig zu verdeutlichen: Ist der Feminismus, d.h. die Suche der Frau nach Eigenständigkeit, nach einer eigenen geistigen Identität eine negative Erscheinung? Ist sie eine Gefahr für das halachische Judentum, wo es der Frau nicht erlaubt ist, bei einem G-ttesdienst in führender Rolle mitzuwirken? Nein, es ist eine Chance! Wird es uns gelingen, diese Suche zu fördern, den Durst nach Inhalten und Werten schätzen zu lernen? Das ist die Frage!

Stellt das Internet, mit all seinen negativen, von Hass über Lüge über Rassismus reichenden Inhalten eine Gefahr für das Judentum dar? Nur wenn wir uns dazu entschliessen, es so zu betrachten!

Was für eine Herausforderung! Endlich eine Möglichkeit, jüdisches Leben auf der ganzen Weltkugel miteinander zu vernetzen und dem entferntesten Juden (nicht nur geografisch zu verstehen) per Mausklick zu ermöglichen, die ganze reiche Welt des Judentums zu erschliessen! Haben wir die Chance erkannt und die Gelegenheit am Schopf gepackt?!

Welch wunderbare Möglichkeiten in Bezug auf Schmirat Schabbat - der Einhaltung der Schabbat Gesetze entstehen doch in einem Zeitalter der flexiblen Arbeitszeit Gestaltung! Zeit und Ortsunabhängig können in absehbarer Zukunft viele von zu Hause aus arbeiten und selbst bestimmen, wann sie ruhen wollen.

Sollen wir unsere Augen vor den Gefahren und vor den Problemen verschliessen? Ganz bestimmt nicht. Sollen wir jedoch nur die Gefahren sehen?? Erst recht nicht!

Diese Idee können wir meiner Ansicht nach auch in der Haggada wieder finden. Am Seder Abend, diesem einzigartigen Abend im Jahr, wo es noch mehr als sonst um die Vermittlung jüdischer Wert und Traditionen an die kommende Generationen geht, lesen wir in der Haggada über die vier Söhne. Ich glaube, dass mit diesen vier verschiedenen Söhnen die folgende Botschaft an uns gerichtet wird:

In jeder Generation werden die Fragen anders lauten. Es liegt an uns, auf all diese Fragen Antworten in unserer Tora zu finden. Jeder Mensch, Mann und Frau, Kinder und Ältere sind G-tt wichtig und zählen. Für jedes Kind, auch dasjenige, welches sich selbst als Rascha bezeichnet, muss der richtige Zugang gefunden werden, denn jeder Einzelne zählt.

Nicht nur Probleme, sondern Chancen zu erkennen, nicht bloss Grat zu wandern, sondern Brücken zu bauen, ob uns das wohl gelingen kann?