Vor rund 300 Jahren war der große Jonathan Eibeschitz Oberrabbiner von Prag. Die Legende berichtet, er sei schon im Alter von drei Jahren so berühmt für seine Weisheit gewesen, dass der König von Polen, der ein wenig gelangweilt und vor allem neugierig war, das Wunderkind sehen und selbst auf die Probe stellen wollte.

Er schickte dem Vater des Knaben eine Botschaft, in der es hieß, er habe von der Klugheit des Kindes gehört und wolle herausfinden, ob es schlau genug sei, ohne Hilfe den sechs Meilen langen Weg von seinem Haus durch die belebten Straßen der Stadt zum Königspalast zu finden. Natürlich musste Jonathans Vater gehorchen.

Am nächsten Tag zog er dem Knaben seine besten Schabbatkleider an, segnete ihn und schickte ihn auf den Weg, das Beste hoffend. Staunend sahen die Leute zu, wie ein kleines, hübsch gekleidetes Kind zielstrebig durch die Straßen der Stadt ging, als habe es das schon hundert Mal getan. Nach mehreren Stunden stand Jonathan tatsächlich vor dem Palast! Die Wachen trauten ihren Augen und Ohren nicht, als der Knirps auf sie zuging und mit heller Stimme verkündete, er sei gekommen, um den König zu treffen.

Wenige Minuten später staunte der ganze Hof über das schlaue Kerlchen. Der König bat um Ruhe, winkte den Knaben zu sich und fragte:

„Wie hast du den Weg zum Palast gefunden?“

„Majestät“, antwortete Jonathan, „immer wenn ich unsicher war, fragte ich jemanden, der in der Nähe stand, und ich glaube, auch G-tt hat mir geholfen.“ Alle kicherten. Der König hob die Hand, und es wurde still.

„Was aber, wenn der eine gesagt hätte: Geh nach rechts, und der andere: Geh nach links? Was hättest du dann getan?“

Der Knabe dachte nach und sagte dann: „Die Tora sagt, man solle bei Meinungsverschiedenheiten der Mehrheit folgen. Genau das hätte ich getan. Ich hätte einen Dritten gefragt und mich nach der Mehrheit gerichtet.“

Der König lächelte, und die Zuhörer tuschelten und lachten. Auf einmal wurde der König ernst, und die Leute verstummten. Er rutschte an die Kante seines Thrones, sah Jonathan durchdringend an und sagte:

„Junger Mann, weißt du, was du eben gesagt hast? Wenn deine Tora dir rät, der Mehrheit zu folgen, dann musst du dem Judentum abschwören und unseren Glauben annehmen; denn wir sind die Mehrheit!“

Das Publikum lächelte, lachte und beklatschte die klugen Worte des Monarchen. Doch als der Lärm abflaute, räusperte sich der Knabe und sagte: „Verzeiht mir, Majestät. Als ich sagte, ich würde mich nach der Mehrheit richten, meinte ich die Zeit, als ich noch weit vom Schloss entfernt war und den Weg noch nicht kannte. Aber jetzt bin ich im Palast und sehe den König vor mir. Selbst wenn alle Eure Minister behaupten würden, ich befände mich am falschen Ort, würde ich ihnen nicht glauben! Der G-tt Israels ist überall. Es gibt keinen Ort, an dem man ihn nicht findet. Selbst wenn die ganze Welt anderer Meinung wäre, hätte ich keinen Grund, ihr zu glauben!“