Am 9. Aw 3829 (69 n.d.Z.). wurde der heilige Tempel zu Jerusalem von den Römern zum zweiten Mal zerstört (den ersten Tempel zerstörten die Babylonier 490 Jahre früher am gleichen Tag). Eine Mauer - die Kotel HaMaarawi („Westliche Mauer“) – steht heute noch; sie hat den Fackeln und Rammböcken der Römer sowie den folgenden Zerstörungsversuchen in den neunzehn Jahrhunderten der Fremdherrschaft im Heiligen Land widerstanden.
Die Kotel spielte im Kampf um das Heilige Land in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Die Araber, unterstützt von den britischen Herrschern, taten alles, um die Juden von der Kotel fernzuhalten, denn diese war mehr als alles andere ein lebendes Symbol des Bandes zwischen den Juden und dem Land Israel mit seiner Stadt Jerusalem.
Der folgende Text ist ein Auszug (übersetzt aus dem Hebräischen) aus den Erinnerungen von Rabbi Mosche Segal (1904-1985), einem Lubawitscher Chassiden, der für die Freiheit des Heiligen Landes kämpfte.
Damals sah der Platz vor der Kotel anders aus als heute. Nur eine enge Gasse trennte die Kotel von den arabischen Häusern auf der anderen Seite. Die Briten verboten uns, vor der Kotel einen Aron Kodesch (Tora-Schrein), Tische oder Bänke aufzustellen. Selbst ein einziger Stuhl oder Hocker war nicht erlaubt. Außerdem durften wir nicht laut beten, aus der Tora vorlesen oder an Rosch Haschana und Jom Kippur den Schofar blasen. Polizisten standen an der Kotel, um das Verbot durchzusetzen.
Als ich (im Jahr 1930) an Jom Kippur an der Kotel betete, hörte ich Leute flüstern: „Wo sollen wir den Schofar hören? Hier kann man ihn unmöglich blasen – es gibt ebenso viele Polizisten wie Betende!“ Der Polizeichef persönlich war da, um sicherzustellen, dass die Juden auf keinen Fall den einzelnen Schofarton ausstießen, der das Fasten traditionell beendet.
„Dürfen wir denn auf den Schofar verzichten, wenn wir G–tt zum Herrscher der Welt erklären?“, dachte ich. „Symbolisiert er nicht die Erlösung Israels? Gewiss, der Schofarton am Ende von Jom Kippur ist nur ein Brauch – aber ein jüdischer Brauch ist die Tora!“
Also ging ich zu Rabbi Jizchak Horenstein, dem Rabbi unserer „Gemeinde“, und bat ihn um einen Schofar.
„Für was?“
„Ich will es blasen.“
„Von was redest du überhaupt? Siehst du nicht hier die Polizei?“
„Ich will es blasen.“
Der Rabbi drehte sich abrupt um; doch vorher warf er einen Blick auf den Gebetsstand am linken Ende der Gasse. Ich kapierte: Der Schofar befand sich dort. Als die Stunde des Schofarblasens kam, ging ich hin und lehnte mich daran.
Ich öffnete die Schublade und schob den Schofar unter mein Hemd. Jetzt hatte ich ihn – aber was tun, wenn man mich erwischte, ehe ich blasen konnte? Damals war ich noch nicht verheiratet und trug nach aschkenasischem Brauch keinen Tallit. Darum bat ich den Betenden neben mir um seinen Tallit und wickelte mich darin ein.
Jetzt spürte ich, dass ich meinen eigenen privaten Raum geschaffen hatte. Außerhalb meines Tallits herrschte eine fremde Regierung über die Israeliten, sogar an deren heiligstem Tag und an ihrem heiligsten Ort. Wir durften unserem G–tt nicht frei dienen. Doch unter diesem Tallit herrschte nur mein Vater im Himmel; dort würde ich tun, was er mir gebot, und niemand auf Erden würde mich davon abhalten!
Als die Schlussverse des Gebetes Ne’ila gesprochen wurden, zog ich den Schofar heraus und stieß einen langen, lauten Ton aus. Dann geschah alles sehr schnell. Viele Hände packten mich. Ich zog den Tallit aus, und vor mit stand der Polizeichef und befahl, mich festzunehmen. Man brachte mich ins Kischle, das Gefängnis in der Altstadt, und ein arabischer Polizist bewachte mich. Viele Stunden vergingen. Ich bekam weder Essen noch Wasser. Um Mitternacht erhielt der Polizist den Befehl, mich freizulassen, und das tat er wortlos.
Später erfuhr ich, dass der Oberrabbiner des Heiligen Landes, Rabbi Awraham Jizchak Kook, von meiner Verhaftung gehört und sofort Kontakt mit dem Sekretär des britischen Hochkommissars von Palästina aufgenommen hatte, um meine Freilassung zu fordern. Als das abgelehnt wurde, erklärte der Rabbi, er werde so lange fasten, bis ich frei sei. Der Hochkommissar blieb stundenlang hart; doch schließlich blieb ihm aus Respekt vor dem Oberrabbiner nichts anderes übrig, als mich zu entlassen.
In den nächsten achtzehn Jahren wurde der Schofar an jedem Jom Kippur an der Kotel geblasen. Die Briten verstanden die Bedeutung des Schofars sehr gut. Sie wussten, dass er letztlich ihre Herrschaft über unser Land beenden würde, so wie Joschuas Schofar die Mauern von Jericho zerstört hatte. Darum taten sie alles, um das zu verhindern. Doch an jedem Jom Kippur wurde der Schofar von Männern geblasen, die wussten, dass man sie verhaften würde, weil sie unser Recht auf unseren heiligsten Besitz geltend machten.
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