Kaiser Napoleon ging einst an einer Synagoge vorbei und hörte die Menschen darin bitterlich weinen. Als er nach dem Grund für die Trauer fragte, erklärte man ihm, heute sei Tischa BeAw und die Juden trauerten über die Zerstörung ihres heiligen Tempels. Napoleon sagte: „Ein Volk, das so gläubig über einen Verlust trauert, wird eines Tages gewiss seinen wiederaufgebauten Tempel sehen!“
Beide Tempel wurden am 9. Aw zerstört. Als die Juden aus dem ersten babylonischen Exil zurückkehrten, bauten sie den Tempel neu. Er stand 300 Jahre, dann fand man Risse im Mauerwerk, und Herodes übernahm die gewaltige Aufgabe, ihn zu restaurieren.
Dieser Nichtjude, ein Edomit, der Sklave der Hasmonäer gewesen war, kämpfte unerbittlich gegen die Tora-Gelehrten, seine Gegner. Er war nur König geworden, weil er die Hasmonäer skrupellos dezimiert hatte. Sogar seine Frau Mariamne hatte er ermordet. Warum wollte ein so böser, gewalttätiger Mensch den Tempel wieder aufbauen? Das eigentliche Ziel seiner blutigen Exzesse waren die großen Tora-Gelehrten. Herodes verfolgte sie so lange, bis nur noch einer von ihnen, Bawa ben Buta, am Leben war. Den hatte man auf Befehl des Königs geblendet.
Eines Tages verkleidete Herodes sich und ging zu dem großen Weisen. Um ihn zu einer Verwünschung zu provozieren, sagte er: „Herodes ist nur ein böser Sklave!“
Doch Bawa ben Bata antwortete nur: „Was geht das mich an?“
Als der verkleidete Fremde Herodes weiter beschimpfte, hielt ihm der Weise viele Verse der Tora vor, die es verbieten, den König zu verleumden. Er beteiligte sich nicht an den Beschimpfungen. Schließlich platzte Herodes heraus: „Ich bin Herodes! Hätte ich gewusst, dass die Tora-Gelehrten in Worten und Taten so umsichtig sind, hätte ich sie nie getötet. Wie kann ich für meine Sünden büßen?“
Bawa ben Buta antwortete: „Als du die Tora-Gelehrten umgebracht hast, ist das Licht der Welt erloschen. Zünde nun dieses Licht wieder an, indem du den Tempel erneuerst, denn auch er erleuchtet die Welt.“
Herodes fürchtete den Zorn des römischen Kaisers, von dem er abhängig war. Bawa ben Buta schlug vor, einen Boten nach Rom zu senden mit der Bitte, den Tempel erneuern zu dürfen. Wenn der Bote zurückkehre, könne der Tempel schon fertig sein. Herodes war einverstanden, und die Arbeit begann. Unsere Weisen beschrieben den Tempelbau so: „Wer das Bauwerk des Herodes nie gesehen hat, der hat nie ein schönes Bauwerk gesehen.“
Der Zweite Tempel wurde nach 420 Jahren zerstört, 90 Jahre nachdem Herodes ihn verschönert und vergrößert hatte. Er bestand aus riesigen Steinen, von denen einige mit blaugrünem Marmor verkleidet waren, der den Wellen des Meeres glich. Fast alle Tore waren mit Gold verkleidet, und im Inneren flackerten Tausende von Kerzen.
Neben dem Tor stand ein großer goldener Weinstock, und die Pilger, die dem Tempel etwas spenden wollten, konnten ein Blatt, eine Beere oder eine ganze goldene Traube kaufen und an diesen herrlichen goldenen Weinstock hängen. Mit diesen Gaben wurde der Tempelbetrieb finanziert.
Juden, die dreimal im Jahr nach Jerusalem kamen, erlebten eine prachtvolle Szene, die ihnen zweifellos für den Rest des Jahres nicht mehr aus dem Kopf ging. Die Leviten (Leviim) standen auf den fünfzehn Stufen, die von einem Hof zum nächsten führten, und sangen König Dawids Psalmen: die fünfzehn „Lieder der Stufen“ zur betörenden Musik der Harfen, Geigen, Zymbeln, Flöten und anderen Instrumente, die wir nicht mehr kennen.
Die Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer war lang und blutig. Millionen wurden getötet oder starben an Hunger und Durst. Die jüdischen Verteidiger der heiligen Stadt kämpften heldenhaft, aber sie konnten die Legionen und ihre Verbündeten nicht besiegen. G-tt wollte den Juden das Exil aufbürden. Als der Tempel in Ruinen lag und Flammen an den Mauern leckten, warfen die „Blumen der Priesterschaft“, die jungen Kohanim, die Schlüssel der Tempeltore in den Himmel und riefen: „Wir waren keine würdigen Hüter deines Tempels; darum überlassen wir die Schlüssel dir.“ Man sah eine himmlische „Hand“, welche die Schlüssel in Empfang nahm.
Wieder wirft der 9. Aw seinen Schatten auf unseren Kalender. Wir klagen über die Zerstörung des heiligen Tempels. Doch während wir fasten und der Zerstörung gedenken, warten wir zugleich auf den Bau des dritten heiligen Tempels; denn unsere Überlieferung lehrt, dass unser Erlöser, der Moschiach, am Tag der Zerstörung geboren wurde. Aus dem Geröll und der Asche des Tempels erhalten wir das Versprechen, dass wir erlöst werden.
Diskutieren Sie mit