Im Talmud gibt es eine Streitfrage über die Wirksamkeit des Jom Kippur Sünden zu vergeben1: Die Gelehrten sagen: „Jom Kippur sühnt nur die Sünden jener, die ihre Wege auch tatsächlich bessern“, und Rabbi meint, „ob sie sich bessern oder nicht, Jom Kippur sühnt die Sünden aller.“ Seine Begründung: „Weil das Wesen dieses heiligen Tages sühnt.“
Die Streitfrage liegt nicht in der Heiligkeit von Jom Kippur; auch die Gelehrten stimmen zu, dass das Wesen Jom Kippurs alle Sünden auflöst. Den Gelehrten zufolge tritt diese besondere Fähigkeit Sünden aufzulösen aber nur dann in Kraft, wenn der Mensch Tschuwa übt. Doch Rabbi ist der Ansicht, dass die Heiligkeit des Jom Kippur so enorm ist, dass er sogar die Sünden derer vergibt, die nicht Tschuwa üben.
Es stellt sich allerdings eine grundlegende Frage: Die Sühne eines Vergehens bedeutet nicht nur die Vergebung durch G-tt. Wenn der Jude ein Verbot übertritt, hat er nicht nur den Willen G-ttes übertreten, sondern vor allem seiner Seele geschadet, ihr eine geistige Wunde zugefügt. Und diese Wunde muss er heilen. Wie ist es also zu verstehen, dass nur wegen eines bestimmten Tages alle Wunden der Seele geheilt werden?
Eine aufrichtige Beziehung
Es gibt verschiedene Stufen in der Bindung mit G-tt. Durch das Erfüllen des g-ttlichen Willens (Mitzwot) baut man eine Beziehung zu G-tt auf. Mit jeder Mitzwa wird diese stärker. Eine tiefere Bindung mit G-tt kann man mit der Tschuwa erreichen. Denn was ist die Tschuwa? – nach einer Entfremdung von G-tt auf einmal wieder Seine Nähe aufsuchen zu wollen.
Woher kommt diese Sehnsucht nach G-tt? Die Tschuwa zeigt also, dass der Jude in Wirklichkeit immer mit G-tt verbunden ist, was er auch tun mag. Und diese tiefe Bindung treibt ihn zur Tschuwa. Aber auch die Tschuwa ist nicht der Schlussstrich. Denn die Bindung, welche man durch die Tschuwa erreichen kann, ist begrenzt, je nach der Lauterkeit des Tschuwa Übenden.
Ein Teil G-ttes
Eine viel tiefere Beziehung ist die verwurzelte Bindung zwischen G-tt und der jüdischen Seele. Die g-ttliche Seele in uns ist „buchstäblich ein Teil G-ttes von droben“2, ständig in Vereinigung mit ihrem Ursprung – dem Ewigen. Dieser innere Kern des Juden ist unantastbar. Keine Sünde kann diesem g-ttlichen Funken etwas anhaben, und die Taten des Menschen haben keinerlei Einfluss auf ihn. Im Laufe des Jahres allerdings spürt man diese unzertrennliche Bindung mit G-tt nicht, da die g-ttliche Seele tief im Inneren des Menschen schlummert. Was zum Vorschein kommt, ist eine Bindung mit G-tt, welche von unseren Taten und Absichten abhängt. Am Jom Kippur aber erwacht unser g-ttlicher Funke in uns. Dann offenbart sich unsere innerste Verbundenheit mit G-tt.
Die verschlossene Tür
Nun verstehen wir, weshalb das Wesen Jom Kippurs alle Sünden auflösen kann. Denn am Jom Kippur, wenn der g-ttliche Funke in uns erwacht und diese tiefe Bindung zum Vorschein kommt, zeigt sich, dass jeder Jude mit G-tt so stark verbunden ist, dass keine Sünde sie trennen kann. Die Heiligkeit dieses g-ttlichen Funkens stellt alle Sünden völlig in den Schatten und lässt sie einfach verschwinden, denn dem innersten Wesen der g-ttlichen Seele können sie nichts anhaben! Somit sühnt Jom Kippur alle Sünden (außer bei denen, die Jom Kippur nicht einhalten. In so einem Fall wird selbst Jom Kippur zum Ankläger des Menschen, und „der Ankläger kann nicht als Verteidiger fungieren“3).
Ganz besonders kommt diese g-ttliche Offenbarung im Menschen beim Ne’ila-Gebet – dem Abschlussgebet des Jom Kippur – zum Ausdruck. Denn dann nähert sich der Jude G-tt hautnah und „verschließt sich mit G-tt in einem Raum“ (im Hebräischen bedeutet NE’ILA auch „verschließen“), zu einem Privattreffen!
(Likutej Sichot, Band 4, Seite 1149)
Diskutieren Sie mit