Zum Minchagebet von Jom Kippur rezitierten wir aus den Propheten die Geschichte Jonas1, dem G-tt in einer Vision erschienen ist und ihn mit einer Mission beauftragt hat. Doch Jona wollte vor dem Auftrag G-ttes fliehen und begab sich auf hohe See. G-tt ließ einen starken Sturm aufkommen, und ein Wal verschluckte Jona. Schließlich sah er ein, dass er vor dem Auftrag G-ttes nicht fliehen konnte. Er tat Tschuwa und erfüllte seine Mission. In der Kabbala heißt es, dass die Geschichte Jonas auch unsere persönliche Lebensgeschichte ist, denn „Jona“ bedeutet auch „Seele“.2 Somit ist Jonas Erzählung die Geschichte der Seele auf Erden.
Wenn wir an Jom Kippur unser Leben prüfen und über unser Lebensziel nachdenken, denken wir an den historischen Jona, dessen Leben die spirituelle Reise jedes Menschen symbolisiert.
Flucht vor G-tt?
Unsere Geschichte beginnt mit der Geburt. Eine Seele taucht von oben in einen irdischen Körper ein. Vorher lebte sie ähnlich wie ein Engel, sonnte sich in Spiritualität und war mit ihrem Schöpfer eng verbunden. Doch die Seele muss ihr Heim verlassen. Sie wird in ein materielles Gefäß eingesperrt und die groben Reize dieser Welt überwältigen ihre Sinne.3 Jona, die Seele, besteigt das Schiff: den Körper. Und wohin bringt dieses Schiff seinen Passagier? – Weg von G-tt.
Jona, die Seele, der unglückliche Passagier, hat sich weit von G-tt entfernt. Aber können wir wirklich fern von Ihm sein? Gibt es einen Ort, an dem der allgegenwärtige G-tt nicht wäre?
Hat die Seele nach dem Abstieg auf die grobe materielle Ebene wirklich G-tt zurückgelassen? So wie G-tt bei Jona war, als er im Heiligen Land seine erste Prophezeiung empfing, so war er auch bei ihm, als er auf hoher See in Not geriet.
Keine Befriedigung
Dennoch glauben wir wie Jona fälschlich, unsere Reise auf dieser Erde habe uns von G-tt weggeführt. Wie Jona halten wir diese angebliche Ferne für ein Zeichen dafür, dass wir von unserem Auftrag entbunden wurden. Aber die Seele entkommt G-tt nicht, wenn sie auf die Erde hinabsinkt.
Im Gegenteil, sie ist und bleibt immer im Auftrag G-ttes, eine Vertreterin des g-ttlichen Willens und hat die Mission, das Profane mit Heiligkeit zu erfüllen und eine unvollkommene Welt zu vervollkommnen. Ihr Abstieg in diese Welt bringt sie sogar zu G-tt näher, indem sie ihre Mission auf der Erde erfüllt.
Und früher oder später können die falschen Verlockungen der materiellen Welt die Seele nicht mehr befriedigen und das physische Leben, das die Seele sich selbst auferlegt hat, wird unruhig und hart:
G-tt schickte einen heftigen Sturm;4 nicht, um die Seele zu bestrafen, sondern um sie aus ihrer Selbstgefälligkeit aufzurütteln.
Denn Jona war ins Innere des Schiffes hinabgestiegen und schlief5 – Doch die Seele ist sehr stumpf geworden.
Die Stunde der Wahrheit
Der Kapitän kam und sagte zu ihm: Warum schläfst du? Steh auf, rufe deinen G-tt6 – Das Gewissen des Menschen meldet sich: „Womit beschäftigst du dich?“ Was hast du aus deinem Leben gemacht? Warum bist du hier? Was ist dein Auftrag?
Dies ist der Moment der Wahrheit. Die Seele muss nachgeben. G-tt ist auch hier und sie ist nichts weiter als Sein Bote. Wir haben einen Auftrag und unser Leben hat einen Sinn: Ich bin ein Hebräer und G-tt, den G-tt des Himmels, Der das Meer und das Land erschaffen hat, ehrfürchte ich!7
(Torat Menachem Hitwaadujot, Jahrgang 5745, Band 1, Seite 669)
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