In den Wochen zwischen Pessach und Schawuot studieren wir am Schabbat die Pirkej Awot ("Sprüche der Väter"), einen Traktat der Mischna, um uns auf diese Weise auch auf den Festtag der Offenbarung der Tora (Schawuot) vorzubereiten. Der Traktat beginnt mit den Worten: "Moses empfing die Tora am Berge Sinai". Aus dieser Formulierung muss hervorgehen, dass in der Tatsache der Offenbarung auf dem Berge Sinai eine besondere Lehre enthalten ist. Denn wäre dem nicht so, hätte es dann nicht heißen sollen: "Moses empfing die Tora von G-tt"?
Der Midrasch (Sammlung homiletischer Erklärungen zu Tora und Tanach) besagt (Midrasch Tehillim 68, 17; siehe auch Megilla 29, 1), dass verschiedene Berge miteinander darum stritten, wem die Ehre zuteil werden solle, der Schauplatz der Offenbarung der Tora zu sein. Der Berg Tabor erhob einen Anspruch darauf, weil er hoch war. Auch der Carmel ersuchte um das Privileg. G-tt bereitete ihrem Streit dadurch ein Ende, dass er erklärte, hohe Berge seien für die Gesetzgebung keine passenden Plätze. Vielmehr wurde der niedrigste aller Berge, nämlich der Sinai, dazu erkoren – und dadurch wurde der Wert der Demut als Tugend mit Nachdruck unterstrichen.
Eine Frage liegt auf der Hand: Wenn es darauf ankam, die Demut besonders zu betonen, dann hätte die Tora doch in einem tiefen Tal gegeben werden sollen, oder zumindest auf der Ebene, aber bestimmt nicht auf einem Berge! Hätte dagegen dem Stolze der Vorzug gebührt, wäre dann die richtige Stelle für die Gesetzgebung nicht ein den Sinai an Höhe überragender Bergesgipfel gewesen?
Die Erklärung ist diese: Um die Tora zu empfangen, um sie zu lernen und ihre Gebote zu befolgen, braucht man, in harmonischer Kombination, die zwei Eigenschaften des Sinai: einerseits war er "der niedrigste der Gipfel", und doch war er, andererseits, ein Berg und nicht ein Tal. Menschliche Demut ist auf jeden Fall vonnöten, weil die Tora die grenzenlose Weisheit des unendlichen G-ttes darstellt. Der Mensch, mit seinem begrenzten Verstande, darf das Studium der Tora nicht mit vorgefassten Ideen anpacken oder in der Einstellung "Ich weiß das alles schon", sondern nur im Gefühl der Demut. Überheblichkeit und Hochmut sind Erzfeinde der Tora.
Trotzdem hat manchmal eine schrankenlose Bescheidenheit auch einen Nachteil. So mancher allzu zurückhaltende Mensch lässt zu, dass seine Demut schließlich seine Prinzipien verdrängt. Dann läuft er, rückgratlos, "der Masse nach", obwohl er im Prinzip ihr Verhalten durchaus ablehnt. Leider zeigt sich bei einem gewissen Typ von Juden heutzutage oft diese Art von Demut. Er fürchtet sich so sehr davor, ausgelacht oder auch nur höhnisch angesehen zu werden, dass er sich seines Jude-Seins schämen möchte und jeden Ausdruck seiner jüdischen Identität zu unterdrücken sucht.
Immerhin jedoch: die Tora ist auf einem Berge verkündet worden. Damit trägt sie uns auf, einen gewissen Stolz und die Kraft eines Berges zu zeigen. Es ist in diesem Zusammenhange bemerkenswert, dass gleich am Anfang des großen Kodex des jüdischen Gesetzes, des Schulchan Aruch, die Einschärfung steht, der Jude solle sich nicht vor den Zynikern fürchten (R’ma zu Orach Chajim 1, 1). Dabei steht dieser Stolz aber in keiner Weise im Gegensatz zu dem uns stets nahegelegten Gefühl der Demut, denn diese Art von Stolz geht ja nicht auf persönliche Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit zurück.
Er gleicht vielmehr dem Stolz eines Soldaten, der dem Befehl seines Königs gehorcht; es ist der Stolz eines Juden, der G-ttes Anordnungen ausführt.
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