Sind Sie einmal beim Schwarzfahren erwischt worden, oder auf der Autobahn, als Sie mit 150 km/h rasten? Wie sehr wollten Sie der Geldstrafe entgehen. Selbst, wenn Sie es ehrlich meinten, als Sie versprachen es nie wieder zu tun, so mussten Sie doch immer etwas einbüßen. So ist das in unserer Welt; eine zweite Chance bekommen wir so gut wie nie.

Und wie steht das Judentum dazu? Da stoßen wir auf ein Gebot, das sich Pessach Scheni, „das zweite Pessachopfer“, nennt, wie es in unserem Wochenabschnitt beschrieben wird. Bekanntlich gebietet uns die Thora am Vorabend des Pessachfestes ein Pessachopfer darzubringen. So wichtig ist dieses Gebot, dass einem bei seiner Nichterfüllung die künftige Welt gestrichen wird. In bestimmten Fällen aber, bei Unreinheit oder wenn man weit entfernt war, ermöglicht die Thora jedem Juden dieses Opfer nachzuholen, und zwar einen Monat später, am vierzehnten Ijar.

„Weit entfernt“?

Was bedeutet „weit entfernt“? Einigen Kommentatoren zufolge heißt „weit entfernt“, dass der Betroffene sich an einem Ort befindet, von dem es ihm unmöglich ist rechtzeitig zum Tempel zu gelangen, wo die Opferung stattfindet.

Raschi kommentiert aber auf andere Weise.1 Laut Raschi bedeutet „weit entfernt“, wenn man sich während der Opferung auch nur außerhalb des Tempels befand. Und obwohl man ihn betreten konnte, dies aber absichtlich unterließ, bekommt man die Möglichkeit das Pessachopfer einen Monat später nachzuholen! Raschis Kommentar ist völlig unklar. Pessach Scheni gilt doch nur für diejenigen, welche nicht die Möglichkeit hatten das Pessachopfer darzubringen! Aber Raschi zufolge kann auch derjenige das Pessach Scheni darbringen, welcher das Pessachopfer absichtlich unterließ.

Stufen im Vorsatz

Die Erklärung dazu ist folgende: Raschi unterscheidet hier zwischen zwei Arten absichtlichen Handelns. Das Vergehen kann in der Nichtopferung des Pessachopfers selbst liegen, oder es geht um eine nebensächliche Missetat, welche die Nichtopferung zur Folge hatte. Das heißt, wer während der Opferung im Tempel war und trotzdem sein Opfer nicht darbrachte, über den verhängt man, dass er keinen Teil an der künftigen Welt habe, also keine zweite Chance. Aber jemand, der sich gar nicht im Tempel befand, ist „nur“ wegen seiner Nichtanwesenheit schuldig. In Bezug auf die Opferung selbst aber trägt er den Status von „weit entfernt“, also verhindert, da man das Opfer nur im Tempel darbringen darf.

Somit wird Raschis Kommentar verständlich: Das Vergehen dieser Person bestand nicht in der Unterlassung der Opferung selbst, sondern in der Lage, in welche sie sich absichtlich begab. Und in dieser aber gilt sie als „weit entfernt“. Ihr Handeln war mehr als unverantwortlich, doch erhält sie eine zweite Chance.

Philosophie des Judentums

Soviel zu Raschis Darstellung; doch laut dem jüdischen Gesetz erhält selbst derjenige eine zweite Chance, der während der Opferung im Tempel war und absichtlich sein Opfer nicht darbrachte! Rambam legt fest2, dass nur dann jemand keinen Anteil an der künftigen Welt hat, wenn er auch das Pessach Scheni versäumt hat (und auch das nur, wenn er das erste Pessachopfer absichtlich nicht dargebracht hatte). Doch um das Pessach Scheni darzubringen ist es niemals zu spät!

Und sogar mehr als das: Für die Tschuwa gibt es die generelle Regel: Tschuwa (Reue) sühnt alle Sünden, außer wenn jemand eine Missetat begeht, weil er sich auf die Tschuwa, die er danach vollbringen will, verlässt.3 Für das Pessach Scheni ist selbst das kein Hindernis! Auch wenn jemand, da er sich auf das Pessach Scheni verließ, sein Opfer nicht darbrachte, wird ihm sein Vergehen durch die Darbringung des zweiten Pessachopfers vergeben!

So lautet die Philosophie des Judentums: Es ist niemals zu spät etwas wieder gutzumachen! G-tt erwartet sehnlichst unsere Rückkehr zu Ihm, Er erbittet sie, und niemals wendet Er uns den Rücken zu! Eine zweite Chance ist immer gegeben. Sie muss nur genützt werden!

(Likutej Sichot, Band 8, Seite 61)