Im Januar 1970 versammelten sich Tausende von Besuchern aus allen Teilen der Welt in New York, um das zwanzigjährige Amtsjubiläum des Lubawitscher Rebbe zu feiern. Eines Tages wollte eine große Gruppe von israelischen Chassidim nach Hause zurück fliegen. Darum hielt der Rebbe ein Farbrengen (eine chassidische Zusammenkunft) ab. Als die Abflugzeit der Gruppe näherrückte, lächelte der Rebbe, der die nervösen Blicke der Gäste sah, und erzählte folgende Geschichte:

Es war in der dunkelsten Zeit der kommunistischen Versuche, den jüdischen Glauben in der Sowjetunion auszurotten. Mein Schwiegervater, der die Untergrundbewegung leitete, welche die Jiddischkeit am Leben erhalten wollte, wurde ständig vom Geheimdienst beschattet. Wir alle wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihre Beute ergreifen würden. Eines späten Abends betrat ich das Arbeitszimmer meines Schwiegervaters in seiner Leningrader Wohnung. Stundenlang hatte er Menschen in Jechidut empfangen, eine körperlich und geistig anstrengende Aufgabe für ihn. In einer halben Stunde wollte er zum Bahnhof fahren, um nach Moskau zu reisen und dort einen ausländischen Geschäftsmann zu treffen, der angeboten hatte, Geld für unsere Arbeit zu sammeln. Natürlich war es sehr gefährlich, einen „kapitalistischen“ Ausländer zu treffen, erst recht für den genannten Zweck. Damals verloren viele Menschen das Leben wegen kleinerer „Verbrechen“.

Zu meiner großen Überraschung arbeitete mein Schwiegervater ruhig am Schreibtisch und ordnete seine Papiere, als befände er sich mitten in einem normalen Arbeitstag. Man sah ihm nicht an, dass er sich mehrere Stunden lang persönliche und schmerzliche Sorgen angehört hatte und dass er in dreißig Minuten eine gefährliche Reise antreten würde.

Ich konnte mich nicht zurückhalten und fragte ihn: „Ich weiß, dass der Chabad-Chassidismus auf dem Grundsatz beruht, dass der Geist das Herz regiert. Ich weiß, wie Ihr ausgebildet worden seid und dass Ihr an Selbstopfer für Juden und das Judentum gewöhnt seid. Aber in diesem Ausmaß? Wie könnt Ihr jetzt am Schreibtisch sitzen, als stünde nichts Besonderes auf Eurem Terminkalender?“

Mein Schwiegervater erzählte mir von dem großen Weisen Raschba, der täglich drei gründliche Schiurim (Torah-Kurse) gab und obendrein Tausende von Antworten auf halachische Anfragen schrieb. Zudem war er ein Arzt, der täglich viele Stunden lang Kranke behandelte. Auch für einen Spaziergang fand er jeden Tag Zeit.

„Das nennt man rechten Umgang mit der Zeit“, sagte mein Schwiegervater. Wir können unsere Tage und Nächte nicht verlängern, aber wir können unsere Zeit optimal nutzen, indem wir jedes Zeitintervall als eigene Welt betrachten. Wenn wir einen Teil der Zeit – eine Stunde, einen Tag, eine Minute – einer Aufgabe widmen, müssen wir in dieser Arbeit ganz aufgehen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Wenn Raschba einen Schiur gab, war dies seine einzige Arbeit. Wenn er seine halachischen Kommentare schrieb, tat er es mit vollkommener Hingabe. Und wenn er spazieren ging, entspannte er sich, denn in diesen Minuten gab es nichts anderes für ihn.“ Ich weiß, ihr müsst ein Flugzeug erreichen. Vielleicht müsst ihr noch Koffer packen und euch verabschieden. Aber die Tanja lehrt, dass G-tt die Welt in jeder Mikrosekunde neu erschafft. Denkt daran: Die El-Al-Maschine, die euch ins Heilige Land bringt, ist noch gar nicht erschaffen! Der Flughafen, auf dem ihr in weniger als einer Stunde sein müsst, existiert noch nicht. Sobald er für euch nützlich ist, wird G-tt ihn für euch erschaffen. Einen Augenblick vorher existiert er für euch nicht. Dieser Moment hat seinen eigenen Zweck. Nutzt ihn voll und ganz.“