Wie können die Kabbalisten sagen, dass die menschliche Seele ein Teil von G-tt auf dieselbe Weise, wie der vom Berg abgetragene Stein ist? Bedeutet es, dass es zwischen beiden keinen Unterschied gibt, - außer dass es nur ein Teil des Ganzen ist? Ein Stein, der mittels eisernem Instrument vom Berg abgetrennt wurde, stellt genau das dem Berg fehlende Stück dar. Doch wie kann es sein, dass eine Seele vom Wesen des Ewigen getrennt, den Status des im-Schöpfer-Mit-Eingeschlossen-Seins verlässt und ein schöpferisches Wesen wird? Gibt es zwischen zwei Personen Übereinstimmung der Form, dann liebt jeder von ihnen genau das, was auch der Partner liebt

Doch lehren uns die Kabbalisten, dass gleich einem physischen Objekt auch auf spirituellen Ebene durch ein eisernes Instrument zerschnitten werden kann. Es ist die Abweichung der Form, die eine spirituelle Einheit zertrennt. Lieben sich z.B. zwei Menschen, dann streben sie nach Vereinigung zu einem einzigen Körper. Im Gegensatz dazu kann der Abstand nicht groß genug sein, wenn sich zwei Menschen nicht mögen. Hier geht es nicht um die topographische Distanz zwischen den Beiden, sondern um das Fehlen jeglicher geistiger Übereinstimmung der Form.

Diese Begriffe lassen sich erklären: Gibt es zwischen zwei Personen Übereinstimmung der Form, dann liebt jeder von ihnen genau das, was auch der Partner liebt, - und was dieser nicht leiden kann, ist auch dem anderen zuwider. So wird der Partner bald all jenes zu lieben beginnen, was seiner Geliebten gefällt, denn das, was sie liebt, ist ein Teil von ihr. Was ihr besonders ans Herz gewachsen ist, gehört zu ihrem Charakter. Geht es hingegen um Abweichungen der Form zwischen beiden, wenn z.B. einer etwas liebt, was der andere nicht ausstehen kann, dann sind die beiden dem Ausmaß der Abweichung der Form entsprechend voneinander entfernt: Sie können ohne Weiteres miteinander kommunizieren, doch jeder von ihnen behält seine eigene Identität. Es entsteht ein Gegensatz der Form, wenn der eine alles hasst, was der andere liebt.

Die Abweichung der Form trennt spirituelle Einheiten auf dieselbe Weise, wie die Axtklinge physische Objekte trennt. Das Ausmaß der Trennung hängt vom Ausmaß der Abweichung der Form ab. Nachdem die Seele erst durch die Trennung eine eigene Identität bekommt, stellt diese Identität eine Abweichung der Form dar. Der Mensch, in dem diese Seele enthalten ist, erscheint als selbständige Einheit. Doch ist sein physisches Dasein von verschiedenen Elementen aus der physischen Welt abhängig. Seine Seele beruht auf der Lebenskraft des Schöpfers und wird ihr von außen gespendet. Die Seele hat den Status eines Empfängers angenommen, - und das führt zu einer bedeutenden Abweichung der Form. Der Schöpfer gibt selbst nur, weil ER keinerlei eigene Bedürfnisse kennt. Doch kehrt die Seele in die Form eines bedürftigen Empfängers ein, beginnt der Mensch sich etwas zu wünschen, was seinen physischen Bedürfnissen zu entsprechen scheint. Doch das verbietet der Ewige und ignoriert die Einwände der Seele.

Die Abweichung der Form ist jedoch nur oberflächlich. Sie steht nicht nur im Zusammenhang mit dem menschlichen Dasein, sondern hängt auch zu hundert Prozent von ihm ab. In ihrem Wesen bleibt die Seele ein Teil von G-tt. Befindet sie sich in einem menschlichen Körper, entsteht genau dieser Status des bedürftigen Empfängers, der eigentlich jene die Seele vom Schöpfer trennende Abweichung der Form darstellt. Dieser Status wird jetzt zum Gefäß, das die Seele mit ihrer Quelle verbindet. Sobald die Seele mit der physischen Realität in Kontakt kommt, wird sie einerseits notleidend, was sie nicht war, als sie mit dem Schöpfer eine einzige Einheit bildete. Andererseits schafft genau diese Bedürftigkeit die stärkste Verbindung zum Schöpfer. Die Seele ist mit ihrer Quelle verknüpft. Die Lebenskraft, mit der sie der Schöpfer am Leben erhält, ist eine direkte Ausströmung Seines inneren Wesens. Daher ist die Seele tatsächlich ein Teil von Ihm, wie der Stein ein Teil vom Berg ist.

Um in dieser physischen Welt zu überleben, die so weit entfernt von jener spirituellen Welt ist, aus der die Seele stammt, braucht sie eine Unzahl "Kleider". So kann sie der Mensch nicht allzu stark wahrnehmen. Auch wird dadurch die Seele vor der ihr verhassten materiellen Umgebung geschützt. Doch die Seele selbst bleibt eine außerordentlich noble Einheit, selbst wenn sie manchmal unter vielen groben Schalen versteckt ist. Doch kann es sein, dass eine kleine Mizwa sie plötzlich aufleben und zum Vorschein kommen lässt, - und das bei Menschen, in denen nichts Gutes zu stecken schien1

Die Tora bringt die Seele zum Vorschein, ernährt und belebt sie. So hatte die Tora auch diesen Menschen völlig neu erstellt, - nicht, indem sie ihn veränderte, sondern indem sie seine Seele zum Vorschein brachte, die genauso ein Teil G-ttes ist, wie der Stein einen Teil des Berges.