Die mystische Tradition des Judentums lehrt uns, welche unglaubliche Macht uns Menschen durch das einmalige Geschenk der freien Wahl gegeben wurde.

Der Begriff "Wahl" soll hier klarer definiert werden: Wenn im Rahmen dieses Textes von freier Wahl die Rede sein wird, dann handelt es sich nicht um die Wahl z.B. zwischen zwei Kleidern (Bevorzugung genannt), sondern um die moralische Wahl, das Richtige oder Falsche zu tun. In der modernen Philosophie tauchte irgendwann die Idee vom Menschen auf, der gar keine freie Wahl habe, sondern aufgrund psychologischer Tendenzen und Vorlieben in seinem Handeln vorbestimmt sei. Diese Ideologie verneint die Existenz jeglicher absoluten moralischen Werte, so dass jene Weltanschauung den Begriff "Wahl", wie bereits definiert, gar nicht ermöglicht. Wo aber keine absolute Wahrheit existiert, gibt es auch keine Wahl1, - und daher haben die Angehörigen jener Weltanschauung gemäss ihrer Definition tatsächlich keine freie Wahl, sondern sind Sklaven ihrer angeborenen Tendenzen und Vorlieben... Doch selbst Viktor Frankel, ein ehemaliger Siegmund Freud Schüler und begeisterter Anhänger des Determinismus’, erkannte im Konzentrationslager, dass auch einem um alles beraubten Menschen das Geschenk der freien Wahl nicht weggenommen werden kann: Freud behauptete, dass ein in die Ecke gedrückter Mensch, dem die Deckung seiner natürlichen Bedürfnisse verweigert wird, seine Menschlichkeit automatisch verliert und er als "wildes Tier" bereit ist, den Mitmenschen für eine Kartoffel zu töten. Doch Viktor Frankel bezeugt, dass er Menschen sah, die am selbst Verhungern waren, jedoch mit ihrer einzigen Scheibe Brot einen Schwächeren am Leben erhielten. Selbst in dieser Situation hat der Mensch die Wahl, sich durch Taten auszuzeichnen, durch die seine G-ttliche Seele zum Ausdruck kommt, oder gemäss den Forderungen der Menschlichen Seele alles zu tun, um evtl. auch auf Kosten seiner Mitmenschen am Leben zu bleiben.

Das Buch des Sohar illustriert die Idee der Konsequenzen der freien Wahl, indem es verkündet: "Wenn der Mensch G-ttes Willen hier unten ausführt, bewirkt er eine parallele Richtigstellung in den oberen Welten." (Sohar I:35a). Diese Aussage deutet auf den großen Unterschied zwischen den Wesen in den oberen, spirituellen Welten und den Menschen, die sich in der niedrigen, physischen Welt befinden.

Allein die Tatsache, dass G-tt eine Welt erschuf, sie dem Menschen anvertraute und seinem freien Willen zur Behütung oder Zerstörung überließ, spricht von der unglaublichen uns übertragenen Verantwortung. Doch der Sohar lehrt uns hier, dass die Auswirkungen unserer freien Wahl in der physischen Welt bis hin ins Reich der erhabensten spirituellen Welten Einfluss nehmen.

Um das Thema der freien Wahl auf einer tiefgründigeren Ebene anzugehen, können wir den mystischen Kommentar, den der spanische Kabbalist Rabbi Moshe Ben Nachman (1194-1270) - als einer der wichtigsten Tora-Ausleger unter dem Namen Ramban bekannt - schrieb, betrachten:

Anfangs Paraschat Wajeze flüchtet Jaakow vor den mörderischen Absichten seines Bruders Esau, nachdem er den Segen des Erstgeborenen erhalten hat. Auf dem Weg zu seinem Onkel Lawan, stellt Jaakow unwissend sein Lager in den heiligen Stätten des zukünftigen Heiligen Tempels auf. Die Tora beschreibt uns die phantastische Vision, die ihm jene Nacht erschienen ist:

Und siehe da, die Leiter stand auf dem Boden und ihr oberes Ende reichte bis in den Himmel und siehe da, G-ttes Engel reisten hinauf und herunter (Gen. 28:12).

Die Hauptfrage in Ramban’s Kommentar klingt auf den ersten Blick ziemlich einfältig: Warum bewegen sich die Engel zuerst aufwärts und dann erst abwärts? Wenn doch die Engel Wesen der oberen, erhabenen Welten sind, sollten sie dann nicht zuerst herunterkommen und dann wieder hinaufsteigen? Über diesen Punkt schreibt Ramban:

G-tt zeigt Jaakow in einem prophetischen Traum, dass in der Welt alles durch Engel vollzogen wird, die das Resultat G-ttlicher Entscheidungen weiterleiten. Diese auf die Erde geschickten Engel handeln unabhängig von der Aufgabenbedeutung niemals auf eigene Initiative, sondern kehren zum Herrn des Universums zurück, um zu verkünden: "Wir sind auf die Erde gereist, und siehe da, ... sie ist mit Friedlichkeit erfüllt" oder "... sie ist voll mit Schwert und Blut". Dann befiehlt ihnen G-tt, wieder auf die Erde hinunterzusteigen und das in der gegebenen Situation Beste zu tun.

Bevor wir uns eingehend mit Ramban befassen, sollten wir nach der Definition eines Engels in der Tora fragen: Ein Engel ist ein Bote, - und eigentlich kann alles, was den Willen des Schöpfers ausführt, als Engel betrachtet werden, wie z.B. die Schwerkraft, die Gezeiten.

Der Ramban lehrt uns den großen Unterschied zum Menschen, weil der Engel gar keine Wahlfreiheit hat, seine Aufgabe auszuführen oder nicht. Denn diese Aufgabe ist mit dem ganzen Wesen des Engels gleichzusetzen, ohne jegliche Alternative, - und daher wird ein Engel als "stehendes" Wesen bezeichnet. Im Gegensatz dazu kann sich der Mensch durch seine freie Wahl spirituell entwickeln und seine Position verändern. Die Existenz des Menschen fing in den erhabensten Welten an, wo die Seele die unmittelbare Nähe zum Schöpfer genoss, bevor sie zerbrochen und auf die Erde geschickt wurde. Hier tut sie "nichts anderes", als sich nach ihrer zweiten, besseren Hälfte und nach der Nähe zum Schöpfer zu sehnen. Alle Handlungen des Menschen werden durch diese Sehnsucht motiviert. Der Engel braucht seinerseits keine Motivation, weil er nie etwas anderes, als den Willen des Schöpfers auszuführen, tun würde. Daher steigen die Engel zuerst hinauf, um über die Welt zu berichten, und steigen anschließend hinunter, um ihren Auftrag zu vervollständigen2.

Der Mensch erhielt anders als alle himmlischen oder irdischen Wesen die Fähigkeit, frei zu wählen. Aber gerade diese Möglichkeit erlegte ihm eine große Verantwortung auf, denn die Handlungen des Menschen beeinflussen nicht nur diese Welt, sondern reichen bis in die erhabensten Welten der Spiritualität.

Deshalb können wir zusammenfassend sagen, dass es zwei Prozessabläufe gibt, die sich um einen physischen Akt drehen:

Engel werden "von oben her angetrieben". Da sie nicht selbständig handeln können und keine eigenen Wünsche haben, sind sie lediglich damit beschäftigt, die Wünsche des Schöpfers zu erfüllen. Diese Wesen der erhabenen himmlischen Welten fühlen die G-ttliche Gegenwart so intensiv, dass sich ihr Wille vor Dem, der sprach und die Welt erschuf, annulliert. Daher beginnt die Laufbahn der Engel „von unten“, von wo sie zur Ausführung Seines Willens aufsteigen.

Menschen hingegen wurden in die physische Welt hinuntergeschickt, die unendlich weit von jenen erhabenen Welten entfernt ist, aus denen ihre Seelen stammen. Um der Seele den Aufenthalt in dieser Welt überhaupt zu ermöglichen, wurde sie in einen physischen Körper gekleidet, der den größten Teil ihrer Erinnerungen einfach hinausfiltriert. Das ermöglicht den Menschen, die G-ttliche Gegenwart zu ignorieren und gegen des Schöpfers Willen zu verstoßen, - und zwar ohne sich dem Falschsein seines Handelns bewusst zu werden. Allerdings nicht ganz, denn manchmal kommt die Seele plötzlich zum Ausdruck, sei es durch das Lesen eines uns sehr ansprechenden Textes über Spiritualität, oder durch das Lesen von Psalmen (Tehillim), die uns sehr beruhigen, obwohl wir den Inhalt vielleicht intellektuell gar nicht verstehen, oder durch das Sagen von hebräischen Gebeten: Die Seele genießt diese Aktivitäten, so dass wir uns manchmal mit ihren Gefühlen identifizieren können.

Weil wir uns in der physischen Welt befinden, haben wir freie Wahl und unsere Taten Einfluss. Unsere Handlungen wirken sich zwar in dieser Welt aus, werden aber hinaufgeschickt und veranlassen G-tt, auf unsere Taten zu reagieren. Für unsere Handlungen sucht G-tt nach dem besten Weg zum Erzielen optimalen Resultate, wobei die Initiative vom Menschen kommen muss. G-tt wird ihm helfen, das Gewählte zu erreichen. Er mag sogar den Menschen in die richtige Bahn lenken, doch Er wird ihn nicht zwingen, etwas gegen seinen Willen zu tun, selbst wenn es das Richtige wäre. Die Aktionen des Menschen finden in der physischen Welt statt. Doch treibt ihn die Sehnsucht nach den erhabenen Welten, aus denen seine Seele hinunterstieg, zur Handlung an. Daher beginnt des Menschen Laufbahn oben, von wo er hinuntergeschickt wurde, damit er ebenfalls Seinen Willen ausführe.

Was passiert nun aber, wenn wir die Initiative ergreifen, etwas gegen Seinem Willen zu tun? Wir sind frei zu handeln, wie es uns beliebt, - aber die Resultate unserer Aktionen entscheidet Er. Wenn wir z.B. einen Lottoschein ausfüllen, so wissen wir aus Erfahrung, dass wir noch lange nicht gewinnen müssen!

Wenn aber G-tt das Beste für uns bereits kennt, warum organisiert Er uns dann nicht automatisch das Richtige, sondern verlangt, dass wir drei Mal täglich - womöglich noch um das Falsche - beten? Admor von Biale sagt in seinem Buch "Techias Hamejsim", dass der Ewige mit Freuden bereit ist, durch überzeugende Argumente ein von ihm erlassenes Dekret zu annullieren, sobald ein Mensch Ihn darum bittet. Da erhebt sich die Frage, was passiert, wenn der Mensch inständig um etwas gar nicht so Wünschenswertes bittet? Genau hier liegt der Unterschied zwischen der Bevorzugung, wie sie auch im Tierreich existiert, und der freien Wahl, wie sie dem Menschen zu eigen ist: Wenn ein Mensch nach dem Dawnen (Beten) derselbe Mensch wie vorher geblieben ist, dann wurde etwas versäumt. Denn der Mensch versucht etwas möglichst Gutes zu finden, das er dem Befragten als Gegenleistung bieten kann, wenn er ihn um etwas bittet. So wird er jedes Mal, wenn der Mensch eine Anfrage an den Ewigen richtet, Ihm auch "entgegenzukommen" versprechen. Da die spirituelle Entwicklung des Menschen das Einzige G-tt Interessierende ist, was durch Tora-Lernen und Mizwot-Ausführen gefördert wird, verspricht selbst ein sich sonst nur wenig um sein Judentum kümmernder Mensch intuitiv, dass er z.B. öfter zur Synagoge gehen, jeden Morgen das "Schma Jisrael" lesen, älteren Leuten behilflich sein, den Schiur des Rabbiners besuchen werde, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen. So kann es nach dem Dawnen sein, dass das Erbetene plötzlich wünschenswert geworden ist. Wie uns die Tora lehrt, kommt nicht nur der Charakter eines Menschen durch seine Taten zum Ausdruck, sondern seine Taten haben direkten Einfluss auf seinen Charakter. Wenn also jemand seinem Mitmenschen hilft, dann hat er nicht nur eine gute Tat vollbracht, sondern wurde auch zu einem besseren Menschen. Und je mehr solche Taten er ausführt, desto tiefer integriert sich in seinem Wesen das Bild eines hilfsbereiten Menschen, bis es wirklich ein Teil von ihm ist. Der Mensch kann nicht nur anders handeln, sondern er kann anders werden, wenn er es wünscht. Die Tora als Gebrauchsanleitung dieser Welt, die uns übrigens von ihrem "Bauingenieur" selbst gegeben wurde, lehrt uns Menschen, wie wir diese Veränderungen in uns bewirken.