Kol Nidre beginnt sehr leise. Wir singen es drei Mal, jedes Mal lauter, als würden wir einen spirituellen Palast betreten und uns dem ewigen König nähern.
Die Worte von Kol Nidre haben mit dem Lösen von Gelübden zu tun. Im mittelalterlichen Spanien wurden die Juden mit dem Schwert an der Kehle gezwungen zu schwören, dass sie das Judentum aufgeben würden. Man erzählt, sie hätten sich am Jom Kippur versammelt und alle diese Gelübde, vergangene wie künftige, formell aufgehoben. Dann konnten sie am heiligen Tag mit reinem Gewissen beten.
Heute zwingt uns niemand, das Judentum zu verleugnen. Doch wegen unserer spirituellen Schwäche haben wir oft das Gefühl, in mancher Hinsicht eingeschränkt zu sein, unfähig, uns als Juden voll zu entfalten. Zum Beispiel: “Ich würde ja koscher essen, aber ich muss mit meinen Kunden ins Restaurant gehen.” Oder: “Ich habe einfach keine Zeit, um Tefillin anzulegen.”
Auch diese Einschränkungen sind eine Art Gelübde, ein Zugeständnis an die materielle Welt. Am Jom Kippur löst G-tt als Reaktion auf unsere aufrichtige Reue all diese Einschränkungen auf. Einerlei, welche scheinbar normalen Zugeständnisse wir an die materielle Welt machen, am Jom Kippur werden wir frei und dürfen unsere grenzenlose Liebe zu G-tt offen ausdrücken. Und wenn die heiligen Tage vorbei sind, liegt es an uns, wie es weitergeht.
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