Für uns Menschen ist es nur natürlich, die tierische, pflanzliche und gegenständliche Welt um uns als niedriger anzusehen. Daher sieht sich der Mensch als Höhepunkt der Schöpfung, mit Verstand und Vernunft begabt.
Die esoterische Lehre der Kabbala und des Chassidismus lehrt uns das Gegenteil. Es heisst: „Der höchste Stein der Mauer fällt am weitesten weg von der Mauer“. Je höher man ist, umso tiefer fällt man.
Wir lernen, dass der Mensch ein „Mitschöpfer“ der Welt ist. In der Partnerschaft mit G-tt haben wir die gewaltige Aufgabe, die unfertige Symphonie namens Schöpfung zu vollenden. Wir wurden mit G-tt-ähnlichen Fähigkeiten eines höheren Bewusstseins und Verstandes erschaffen. Doch diese haben einen Preis – Verantwortung und Disziplin. G-tt gab uns die Möglichkeit das richtige zu wählen. Handeln wir jedoch unverantwortlich und disziplinlos, so „fallen“ wir. Die Kabbala sagt uns, dass wir in künftigen Inkarnationen sogar zur Stufe eines Baumes oder sogar zum unbelebten Dasein eines Steines herabsinken können.
Warum die „Bestrafung“? Weil wir unserer besonderen Verantwortung nicht gerecht wurden. Die Kabbala lehrt uns, dass alle Dinge eine Seele haben – sogar Steine. Das Wesen der Seele kann sich jedoch in einem Stein nicht so effektiv ausdrücken wie in einem Menschen, da die „körperlichen“ Fähigkeiten eines Steines viel beschränkter sind als die einer Pflanze, eines Tieres oder eines Menschen.
Eine Pflanze hat begrenzte Ausdrucksmöglichkeiten (wie zum Beispiel sich in die Richtung des Lichts zu wenden) und Kommunikationsfähigkeiten (etwa sich von „Hard-rock“-Musik zurückzuziehen und sich klassischer Musik zuzuwenden). Tiere können sich frei bewegen und in einer gewissen rudimentären Art miteinander kommunizieren. Menschen hingegen besitzen die komplexesten Körper der Schöpfung, die ihnen differenziertere Ausdrucksformen der Seele durch Gedanken, Sprache und Verhalten erlauben. Während ein Hund oder eine Katze durch chaotisches Benehmen allenfalls Ärger hervorruft, kann das unsoziale Verhalten eines Menschen das ganze Gefüge der Gesellschaft zerstören.
Die radikale Schlussfolgerung der chassidischen Lehre lautet folgendermassen: Da sich der Stein auf der niedrigsten spirituellen Ebene befindet, ist sein Ursprung in den höchsten spirituellen Sphären zu suchen. Ansonsten könnte er sich nicht auf so einer tiefen Ebene – als Stein – manifestieren. In anderen Worten: „Der höchste Stein der Mauer fällt am weitesten weg von der Mauer.“
Wir lernen in mystischen Texten, dass eines Tages „Steine gegen Menschen als Zeugen aussagen werden“, bezugnehmend auf die Zeit, die wir damit verbracht haben „auf den Steinen zu gehen“. Die innere Essenz des Steines wird dann, ungeachtet seiner „körperlichen“ Grenzen zum Ausdruck kommen. Unsere Taten – als Mitschöpfer von G-tt oder eben auch nicht – werden dann durch den Stein, aufgrund seiner inneren spirituellen Überlegenheit„gerichtet“ werden.
Deshalb wird uns nahegelegt, alle Lebensformen mit Respekt und Sorgfalt zu behandeln. In allem ist eine innere Heiligkeit gegenwärtig. Dem Menschen ist es als Aufgabe auferlegt, sanften und sorgfältigen Umgang mit dem gesamten Ökosystem zu pflegen.
Aber unsere Erfahrung scheint das Gegenteil auszudrücken. Warum benehmen wir uns so, als ob wir die Herren und Meister der Schöpfung wären? Es liegt daran, dass wir nicht erkennen, dass wahre Verantwortung mit Demut verknüpft ist. Die Tora sagt uns, dass der Mensch in zwei Schritten erschaffen wurde – die Materie und dann die Essenz: „Und Er blies in seine Nase Hauch des Lebens“. Wir erhielten G-tt-ähnlichen Fähigkeiten, um über die anderen Lebensformen der Schöpfung zu regieren.
Um unseren Lebenszweck zu erfüllen, müssen wir sanft, mitfühlend und zielstrebig sein. Den meisten von uns sind diese Eigenschaften oder Einsichten nicht von vornherein gegeben. Wir brauchen Disziplin und Anstrengung um zu Spiegelungen des G-ttlichen zu werden. Wir müssen demütig bleiben. Schliesslich sind wir ja nur ein Stein in der Mauer.
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