Der große Rabbi Levi Jizchak von Berditchew, einer der berühmtesten und angesehensten chassidischen Meister, pflegte folgendes Gleichnis zu erzählen, um damit die Verbindung und Beziehung zu illustrieren, welche zwischen dem Schofarblasen zu Rosch Haschana und dem Ertönen des Schofars bei der Gesetzgebung am Berge Sinai (Ex. 19, 19 und 20, 15) besteht.

Auf der Jagd kam ein König einmal durch einen großen und dichten Wald. Im tiefsten Dickicht musste er plötzlich feststellen, dass er sich verirrt hatte und den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte. Zwar sah er einige Dörfler und Landleute im Walde, aber diese konnten ihm nicht helfen; sie hatten niemals die Heerstraße des Königs befahren, und so kannten sie sich nicht aus.

Bald jedoch begegnete der König einem weisen und verständnisvollen Mann, und als er diesen nach dem Weg zurück zur Heerstraße fragte, leuchtete dem Mann alsbald ein, dass er keinen anderen als den König vor sich hatte. Mit großer Ehrfurcht und Achtung zeigte er sich sofort dem Ansuchen willfährig. Ihm war jede Strecke der Straße bekannt, und so geleitete er den König zurück zu seinem Palaste und bewirkte damit, dass dieser seinen rechtmäßigen Platz auf dem Throne wieder einnehmen konnte.

Der Herrscher war über all dies sehr erfreut und zufrieden. Um seinen Dank gebührend zum Ausdruck zu bringen, gab er diesem weisen Mann einen hohen Posten, eine wichtigere Stellung, als all seine anderen Prinzen und Edelleute bekleideten. Er ließ ihn in die kostbarsten Gewänder kleiden, und gleichzeitig ordnete er an, dass seine alten Kleider sorgfältig in der königlichen Schatzkammer aufbewahrt werden sollten.

Viele Jahre vergingen; und dann beging dieser weise Mann ein schweres Verbrechen gegen den König, der darüber sehr erzürnt war. Er befahl den Prinzen und Edelmännern, über seinen einstigen Freund zu Gericht zu sitzen und ihn als einen Rebellen gegen den König abzuurteilen. Der Angeklagte war darüber zutiefst bekümmert, denn er wusste, dass das Todesurteil all derer wartete, die sich eines schweren Vergehens gegen den König schuldig machten.

Er fiel auf seine Knie und flehte den König an, ihm vor seiner Verurteilung eine letzte Gnade zu gewähren, und zwar diese: Er möge ihm gestatten sein, die alten Kleidungsstücke wieder anzulegen, die er vor so vielen Jahren getragen hatte, als er dem König in jenem Walde begegnet war; und seinerseits möge der König auch die Gewänder anlegen, die er damals getragen hatte. Dieser Bitte wurde nachgegeben. Als nun der weise Mann vor den König in jenen alten Kleidern trat und der König seinerseits seine damalige Jagdausrüstung trug, da erinnerte sich dieser der großen Freundschaft und Hilfsbereitschaft, die der weise Mann vor all diesen vielen Jahren an den Tag gelegt hatte. Er gedachte der Tatsache, dass jener ihn zum Palaste zurückgeführt und ihn wieder auf seinen Thron eingesetzt hatte. Ein Gefühl von Mitleid und Dankbarkeit regte sich in ihm, er verzieh seinem alten Freund und setzte ihn wieder in seine vorherige Stellung ein.

Als die Tora am Sinai gegeben wurde, da hatte der Ewige sie vorher allen Völkern der Erde angeboten. Diese aber weigerten sich, sie anzunehmen. Wir jedoch, die Kinder Israels, nahmen die Tora mit solcher Freude an, dass wir uns sogar verpflichteten, ihr zu gehorchen, noch bevor wir sie verstanden! (Ex. 24, 7). Wir nahmen das Joch des G-ttlichen Königtums auf uns und machten Ihn zum König über uns, indem wir uns bereit erklärten, all Seine Gesetze zu befolgen (ebenso wie jener weise Mann den König auf seinen Thron wieder eingesetzt hatte).

All dies ereignete sich vor sehr vielen Jahren. Inzwischen haben wir gesündigt und gegen unseren König rebelliert. Zu Rosch Haschana stehen wir da vor dem Gerichtshofe und fürchten uns vor dem Urteil. So denn lassen wir das Schofar ertönen, also: wir "kleiden" uns genauso, wie wir am Berge Sinai "gekleidet" waren. Am Sinai hatten wir Ihn zum König gekrönt; heute wollen wir, ebenfalls, Sein Königtum bewahren.

Damit haben wir die feste Hoffnung, dass G-tt uns verzeihen wird.

(Hemesch Wekacha 5637, Kap. 70)