Salt Lake City, Utah, sieht vermutlich nicht so aus, als biete es den fruchtbarsten Boden für die Chabad-Botschaft. Es ist das Welthauptquartier der »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« und gleichzeitig die Hauptstadt eines Staates mit 1,6 Millionen Mormonen und gerade einmal 4000 Juden. Aber als Chabad-Rabbiner Binyomin »Benny« Zippel und seine Frau Sharonne 1992 in die Stadt kamen, um das erste Chabad-Zentrum in Utah zu gründen, trafen sie auf die Führung einer Stadt — und einer Kirche —, die sie als Brüder begrüßte.
»Wir betrachten uns als zu den Stämmen Israels gehörig«, erklärt der Älteste Jeffrey Holland, Mitglied des Quorums der Zwölf Apostel, des Körpers, der unter einer dreiköpfigen Ersten Präsidentschaft die weltweite Mormonenkirche anführt. »Wir haben ein sehr langes und sehr enges theologisches und persönliches Band zum Judentum.«
Die Mormonen betrachten sich als die Nachfahren des verloren gegangenen biblischen Stammes Ephraim. Sie sind, sagen sie, das Volk des Neuen Bundes, dem der Aufbau eines neuen Jerusalem im amerikanischen Westen anvertraut wurde. Ihnen gelten die Juden als das Volk des Alten Bundes, dessen von Gott aufgegebene Mission der Wiederaufbau von Jerusalem in der jüdischen Heimat Israel ist. Überall in Utah begegnen einem Hinweise auf die Bibel. Utah nennen die Mormonen »Zion«, ein »Jordanfluss« fließt um Salt Lake City. Das zentrale Gebäude der Kirche wird als der Tempel bezeichnet, und in seiner Versammlungshalle strahlt ein großer Davidstern, eine bewusste Darstellung des Einsammelns des jüdischen Volkes in Israel, das der Kirche als notwendiger Vorläufer für das Ende der Zeit gilt.
Seit jenem Tag im Jahr 1847, als Brigham Young als Anführer der Mormonen sein Vieh, seinen Ochsen und seine verfolgten Anhänger bis zum von Bergen gesäumten Tal beim Großen Salzsee von Utah auf der Suche nach einem sicheren Platz führte, an dem sie seine neue Religion ausüben konnten, waren die Beziehungen zwischen der Mormonenmehrheit im Staat und seinen wenigen Juden größtenteils freundlich. Gestört wurde das Verhältnis 1995, als man feststellte, dass übereifrige Kirchenbeamte beinahe 400.000 längst tote Juden im Nachhinein getauft hatten, viele davon Opfer der Schoa, wozu sie Namenslisten verwendet hatten, die sie Aufzeichnungen über Einwanderer, jüdischen Enzyklopädien und der eigenen genealogischen Datenbank der Kirche entnahmen. Die Kirche hat sich seither damit einverstanden erklärt, keine toten Juden mehr zu taufen, es sei denn, ein lebender Familienangehöriger bitte darum, und — seit 1959 — wurden zumindest lebende Juden nicht Gegenstand von Bekehrungsversuchen.
Als die Zippels in Salt Lake City auftauchten, waren die Mormonen der Stadt bezaubert von dieser jungen Familie, die sich, genau wie sie, züchtig kleidete, die Bibel predigte und ganz offensichtlich nichts von Geburtenkontrolle hielt. Eine Kirche, die ihre eigenen jungen Männer zwei Jahre ausschickt, damit sie vor ihrer Heirat Missionsarbeit leisten, bringt, wie Holland betont, der lebenslangen Aufgabe der Chabad-Emissäre besonderes »Verständnis und Sympathie« entgegen. Sharonnes Mormonen- Geburtshelferin lehnt jede Bezahlung für die Entbindung »der Babys des Rabbiners« ab, und Benny wird überschwemmt mit Anfragen, vor Mormonen- Gruppen zu sprechen. »Ich erzähle ihnen von Abraham, Isaak, Jakob, Sara, Rivka, Rachel und Lea — und sie sind begeistert«, sagt er. »Aber langsam wird es mir zu viel. Ich habe angefangen, ihnen zu sagen, dass ich eine Gebühr erhebe, nur damit sie mich nicht ständig bitten.«
Kurz nach seiner Ankunft wurde Zippel zu einem Treffen mit Gordon Hinckley, dem weltweiten Oberhaupt der Kirche, geladen. Hinckley erklärte dem Rabbiner, er glaube fest an die Rechte von Juden, ihre Religion auszuüben, und versprach seine Hilfe, sollte Zippel je welche benötigen.
Zippel brauchte diese Hilfe auf der Stelle. Denn er war italienischer Staatsangehöriger und mit einer Kanadierin verheiratet; deshalb musste er, um in Utah bleiben zu können, einen Antrag auf eine Green Card (d. h. Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für die USA) stellen. Sein erster Antrag war abgelehnt worden, und er geriet in panische Angst. Dann erinnerte er sich an Hinckleys Angebot. »Ich rief ihn an, und er sagte: ›Das ist nichts Besonderes, Rabbi.‹ Zwei Stunden später rief mich ein Rechtsanwalt von einer der besten Anwaltskanzleien in Salt Lake City an, der Firma, die sich um juristische Fragen der Kirche kümmert.« Der Rechtsanwalt reichte Zippels Papiere noch einmal bei der Behörde ein, und es überrascht wohl nicht, dass der Rabbiner diesmal seine Green Card erhielt.
Die 3000 Juden, die in Salt Lake City wohnen, leben unauffällig. Die meisten von ihnen kennen einander und versuchen, miteinander auszukommen. Zippels Beziehung zur Jewish Federation von Utah, anfangs holprig, verbesserte sich, nachdem er sich bereit erklärte, ihrem Vorstand beizutreten. Jetzt gibt die Federation ihm einen jährlichen Zuschuss von $ 4.400 für seine Hebräischschule, nachdem sie ihm jahrelang gesagt hatte, er brauche sich nicht einmal darum bemühen. Teresa Bruce, geschäftsführende Leiterin der Federation, die Zippels wöchentlichen Tora-Unterricht für Frauen besucht, sagt, der Chabad-Rabbiner habe mit seiner »freudigen und geistigen« Einstellung zum Judentum »soviel für diese Gemeinde« getan. »Wenn sich Chabad so innerhalb der ganzen Nation entwickelt, dann ist es etwas Gutes«, erklärt sie. »Ich stimme seiner Philosophie nicht hundert Prozent zu, aber ebenso wenig bin ich hundert Prozent mit den Konservativen oder der Reformrichtung einverstanden.«
Rabbi Fred Wenger ist das geistige Oberhaupt der Kol-Ami-Gemeinde von Salt Lake City, einer kombinierten Konservativen- und Reformgruppe mit ungefähr vierhundert Familien als Mitgliedern. Wenger sagt, er und Zippel, die einzigen beiden Rabbiner in der Stadt, »arbeiten reibungslos miteinander, und es hat sich eine richtige Freundschaft zwischen uns entwickelt.« Die Rabbiner bieten gemeinsam Programme an, die keine rituellen Bestandteile enthalten. Sie veranstalten im State Capitol jedes Jahr zusammen einen Schoa-Gedenktag, nennen ihn jedoch eine Gedenkveranstaltung, keinen Gottesdienst. Zippel unterrichtete an der Hebräischschule von Kol Ami, bat jedoch, nicht als Mitglied des Lehrkörpers aufgelistet zu werden. Wenger gesteht ein, dass er einige Mitglieder seiner Gemeinde an Chabad verloren hat, bezweifelt aber, dass ihre Zahl hoch ist. Und in Utah, wo weniger als zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Mitglied einer Synagoge sind, ist jeder, der etwas Jüdischkeit bringt, in Wengers Augen mehr als willkommen. »Wenn ich einem liberalen Judentum verpflichtet bin, das alle umfasst, kann ich nicht doktrinär darüber sein, wen ich miteinbeziehe «, erklärt er. »Man muss einfach jene Teile von Chabad nehmen, die gut für einen sind, und den Rest ignorieren. Ich habe keinen Zweifel, dass die Kinder und Enkel einiger der Menschen, die zu Chabad gegangen sind, es wieder verlassen werden. In einer Gemeinde wie dieser wird es stets Menschen geben, die kommen und gehen.«
Die ersten Juden trafen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Utah ein, hauptsächlich als Händler, die dem Goldrausch folgten und sich bemühten, weit weg von Familien- und Religionsbanden ein neues Leben aufzubauen. »Man muss schon abenteuerlich eingestellt sein, um in Utah zu leben«, betont Eileen Stone, Verfasserin von A Homeland in the West: Utah Jews Remember (»Eine Heimat im Westen. Die Juden von Utah erinnern sich«). »Man muss völlig auf sich allein gestellt zurechtkommen; das haben die ersten Juden hier getan, und sie tun es immer noch.«
Das ist genau das Richtige für Benny Zippel. Auch er ist ein Bilderstürmer, ein Ba’al Teschuwa aus einer italienischen Familie von Geschäftsleuten. Er hat einen Bachelor-Abschluss in modernen Sprachen und hat sich beim Sheriff freiwillig als Seelsorger gemeldet, den man in Notfällen rufen kann, womit er sich bei der Gemeinde beliebt gemacht hat. Er ist kein schüchterner Mann. Er macht Witze, er singt und überschätzt wild die Anzahl der Menschen, die zu seinen Gottesdiensten kommen — was für Chabad-Schlichim nicht ungewöhnlich ist —, und er ist hartnäckig. Steht man einmal auf seiner Verteilerliste, bleibt man dort für den Rest seines Lebens.
Zippel kümmert sich auch um die Juden in Idaho, Wyoming und Montana, alles Staaten, in denen es keine festen Chabad-Zentren gibt. Seine Arbeit in diesen Staaten erfolgt allerdings größtenteils mithilfe der USamerikanischen Post und über das Internet. Er hat angeboten, in jeder Stadt, die es möchte, Gottesdienste abzuhalten oder Unterricht zu geben, aber bisher hat ihn noch niemand darum gebeten.
Die Juden in Utah reagieren gut auf Zippels Annäherungsversuche. Beim Chabad-Kongress in Crown Heights im November 2000 erzählte Michael Wolf, ein Geschäftsmann aus Salt Lake City, von seiner ersten Begegnung mit Zippel. »Als er in die Stadt kam, schüttelte ich meinen Kopf«, berichtet Wolf. »Was würde ein orthodoxer Jude schon in Salt Lake City ausrichten können?« Zippel betrat eines Tages Wolfs Büro und fragte ihn, ob er je Tefillin angelegt habe. Er antwortete, er habe es noch nie getan; Zippel bat ihn, seinen Ärmel hochzukrempeln. »Ich nehme an, dass ich davon bewegt war, denn ich rief ihn in der Woche darauf an und bat ihn zu kommen und mir wieder Tefillin anzulegen. So hat es angefangen. Dann haben wir eine Männergruppe gebildet. Ich habe Freunde eingeladen, Geschäftsleute, die in Salt Lake City aufgewachsen waren, Männer, die keinen blassen Schimmer vom Judentum hatten. Er weckte einen Funken in ihnen.«
Das Leben in Utah ist für Sharonne schwerer als für Benny. Sie unterrichtet die fünf Kinder des Paares zu Hause, etwas, was sie freiwillig nicht tun würde. Da es im Staat keine einzige jüdische Schule gibt, bleibt ihr nichts anderes übrig. Ihr ältester Sohn, Avremi, ist neuneinhalb und will tiefer in jüdische Studien eindringen, als sie es ihm bieten kann; deshalb lernt er mit einem zweiten jungen Chabad-Rabbiner, den die Zippels nach Salt Lake City geholt haben, damit er bei den Programmen im Chabad-Haus hilft. Schon bald werden die Zippels Avremi in eine richtige Chabad- Ganztagsschule schicken müssen.
Wie bei anderen Chabad-Familien, die außerhalb von Lubawitscher Gemeinden leben, ist das gesellschaftliche Leben der Zippels eingeschränkt. Weder sie noch ihre Kinder essen bei anderen, genau so wenig wie bei Hochzeiten oder einer Bar Mizwa in der Gemeinde — es sei denn, Sharonne bereitet das Essen zu. Sharonne vermisst ihre Familie in Toronto, und sie befürchtet, ihren Kindern entgehe etwas dadurch, dass sie keine anderen Lubawitscher Freunde haben, die nahe genug wohnen, sodass man sich gegenseitig besuchen kann. »In Toronto erschrecken meine Kindern förmlich, wenn sie andere Kinder mit Kippot sehen«, ist ihr Kommentar.
Avremi sagt, nur dank E-Mail könne er den Kontakt zu seinen engeren Freunden aufrechterhalten, anderen Lubawitscher Jungen, die er in Ferienlagern kennen lernt, wie sie für die Kinder von isoliert lebenden Schlichim veranstaltet werden. Aber es störe ihn nicht. Er fühlt sich als etwas Besonderes, weil er weiß, dass er und seine Familie in Utah einzigartig sind. »Meine Freunde fragen mich, wie ich es hier ohne koschere Pizza und Eiscreme aushalte und ob ich mir nicht komisch vorkomme, hier mit meiner Kippa und den Zizit herumzugehen. Aber das Leben in Salt Lake City ist gar nicht schlimm. Die Mormonen bringen Religion große Achtung entgegen. Ja, ich vermisse die Restaurants und die Läden mit den Süßigkeiten, aber es gibt Dinge, die mich dafür entschädigen. Mir gefällt mein Heimunterricht, und es gefällt mir, dass meine jüdischen Freunde hier mich über Feiertage und so befragen. Ich bin stolz darauf, ein Schaliach des Rebben zu sein. Wer denkt, er könne nicht ohne Pizza überleben, irrt sich ganz gewaltig.«
Das Leben an entlegenen Plätzen, ohne Lubawitscher — oder auch nur ohne andere orthodoxe — Nachbarn fällt Chabad-Frauen anscheinend schwerer als ihren Männern. Das könnte daran liegen, dass die Frauen eher bereit sind, darüber zu reden. Aber die Last, jede einzelne Mahlzeit selbst zu kochen und ständig Besucher zu empfangen, Sommercamps und Schulen zu leiten sowie die eigenen acht, zehn oder mehr Kinder des Paares zu Hause zu unterrichten, fällt eher in den Aufgabenbereich der Schlicha als den des Schaliachs.
Und gleichgültig, wie lange ein Chabad-Paar in einer Gemeinde lebt, es wird stets eine unsichtbare Schranke zwischen ihm und der restlichen jüdischen Bevölkerung in einem Ort geben. Da die Lubawitscher strikt Kaschrut befolgen, keine Filme im Fernsehen anschauen und Konzerte und Paar-Tanzen sowie andere Angebote des säkularen Lebensstils ausschlagen, sind sie von einem großen Teil des ungezwungenen gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen. Auch die Existenz als Schaliach, der von einer Aufgabe erfüllt ist, hat viel damit zu tun. Chabad-Schlichim stehen immer auf der Bühne, sind sich unablässig ihrer selbst als Vertreter einer Bewegung, des Rebben und einer Lebensart bewusst, die sie zu einem »höheren Standard« verpflichten.
Diese Themen stehen hoch oben auf der Tagesordnung des Jahreskongresses von Chabad-Schlichot, der jeden Februar in Crown Heights stattfindet. »Wie verhalten Sie sich gegenüber Ihren Unterstützerinnen?« eröffnete eine Sprecherin auf dem Kongress 2001 ihren Vortrag, den sie in einem Raum voller Schlichot hielt, die, genau wie sie, in entlegenen jüdischen Gemeinden leben. »Wenn sie mit Ihnen einkaufen oder ins Kino gehen wollen, lehnen Sie ab. Sie sind immer noch ihre Rebbezin, und Sie können Ihr Niveau nicht senken. Diese Frauen brauchen keine weitere beste Freundin, sie brauchen ein Rollenvorbild.«
Diese Schlicha, eine langjährige Emissärin in einer kanadischen Kleinstadt, sprach in einem Workshop mit dem Titel »Die vielen Dimensionen im Leben einer Schlicha«. Fast vier Stunden lang griff eine Emissärin nach der anderen zum Mikrofon, um ihre immer wieder auftretenden Gefühle von Unzulänglichkeit und Selbstzweifeln mitzuteilen und Ratschläge zu geben, wie man das eigene Selbstwertgefühl verbessern kann angesichts von Vorschulen kurz vor dem finanziellen Kollaps und einem Tora-Unterricht, in dem die Teilnehmerinnen akademische Titel haben, die Schlicha dagegen nicht.
»Wir haben es mit Frauen zu tun, die hochgebildet sind, die sich gut kleiden, die gut aussehen«, sagte eine Schlicha, die in Südamerika lebt und arbeitet. »Wenn wir uns selbst nicht sehr deutlich gemacht haben, wer wir sind, kann das eine große Herausforderung werden. Wir schauen auf diese Karrierefrauen in unseren Gemeinden, und es kann passieren, dass wir uns daneben ganz klein vorkommen.«
Die Chabad-Schlicha selbst, aber auch Freunde und die Familie müssen sie unaufhörlich daran erinnern, dass sie die Arbeit ihres Rebben tut. »Wenn Sie den Frauen in Ihrer Gemeinde näher kommen möchten, brauchen Sie Selbstachtung«, fuhr die Rednerin fort. »Wir müssen immer wieder unser Ticket zur Hand nehmen und uns beweisen, dass wir in der ersten Klasse fahren. Der Rebbe hat uns dieses Ticket gegeben, der Rebbe serviert die Getränke, und der Rebbe hat dafür gesorgt, dass wir zusätzlichen Platz zum Sitzen haben.«
Als Vertreterin der Botschaft des Rebben muss eine Schlicha stets am vorteilhaftesten aussehen. »Wenn Sie vernachlässigt und ungepflegt und unglücklich aussehen, warum sollte jemand dafür observant werden wollen?« erklärte die Schlicha. »Wir müssen stets fröhlich sein. Wir müssen uns immer von unserer besten Seite präsentieren. Wir verkaufen dieses erstaunliche Erste-Klasse-Ticket, und wir müssen großartig dabei aussehen. Ein Teil davon ist äußerlich, aber ein Teil kommt von innen, von Ihrem Stolz, von dem damit verbundenen Gefühl.«
Eine Schlicha im Workshop klagte, sie fühle sich verlegen bei jüdischen gesellschaftlichen Anlässen in ihrer Stadt im Mittleren Westen, wo ihr langärmliges Kleid und die Perücke sie vom Meer elegant gekleideter Frauen abheben. Eines Tages sei sie mit ihren Kindern in den Zoo gegangen, und aus einem inneren Antrieb heraus habe sie ihrem kleinen Jungen eine Baseballkappe aufgesetzt, um seine Kippa zu verbergen. »Warum müssen wir die ganze Zeit über der Welt ein Schauspiel darbieten?« klagte sie. »Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass, jedes Mal, wenn wir rausgehen und wie Juden aussehen, wir Eindruck machen. Wir mögen zwar nicht immer wissen, welche Auswirkungen es auf eine jüdische Person hat, die uns mit unseren süßen kleinen Jungen mit ihren Kippot und ihren Zizit sieht. Aber ich glaube, ich habe allein dadurch, dass ich am Schabbat in die Synagoge und wieder nach Hause gegangen bin, mehr Menschen zu mehr Jüdischkeit gebracht als durch irgendetwas anderes.«
Die Kinder eines Chabad-Paares auf Schlichut erleben Versuchungen, denen sie kaum ausgesetzt wären, wenn sie in einem Lubawitscher Stadtviertel aufwachsen würden. Wie ihre Eltern essen auch Lubawitscher Kinder nicht in Häusern von Menschen, die nicht zu Lubawitsch gehören; sie gehen nicht ins Kino und Theater, noch hören sie Rockmusik, und sie machen, sobald sie drei geworden sind, nicht mehr bei Spielen mit dem anderen Geschlecht mit. Diese Einschränkungen können das Gesellschaftsleben eines Kindes ernsthaft einengen. Eine Schlicha auf dem Kongress von 2001 erzählte, wie ihr sechsjähriger Sohn mit einer Gruppe jüdischer Kinder am Samstagabend Schlittschuhlaufen gehen wollte.
»Er rief zu Hause an, um um Erlaubnis zu bitten, und ich konnte es ihm nachfühlen«, berichtete die Frau. »Mein Mann und ich spürten, dass es sich nicht schickte, aber er war nur sechs. Mein zwölfjähriger Sohn, der mithörte, nahm den Hörer. Er sagte: ›Levi, du bist ein Schaliach. Wie würde der Rebbe sich fühlen, wenn er sähe, wie du Schlittschuhlaufen gehst? Die Musik ist nicht jüdisch, überall sind Mädchen. In diesem Augenblick fällt es dir ganz bestimmt sehr schwer, nicht mitzugehen, aber wenn du nach Hause kommst, verspreche ich dir, dass wir etwas ganz Besonderes unternehmen werden, nur wir beide.‹ Er legte auf, und ich weinte. Wer hat meinen Sechsjährigen beruhigt? Weder ich noch mein Mann, sondern mein zwölfjähriger Sohn.«
Devorah Wilhelm ist seit 1983 Chabad-Schlicha in Portland, Oregon. Als ihr ältester Sohn, Motti, neun wurde, schickte sie ihn fort auf eine Chabad-Schule in Los Angeles. Er lebte bei ihren Eltern, aber sie fühlte sich trotzdem schuldig. »Manchmal haben wir das Gefühl, dass wir nicht genug für unsere Kinder da sind«, überlegt sie. Aber sie unterschätzte eindeutig, wie weit ihr Sohn sich der Aufgabe verpflichtet fühlte, die sie und ihr Mann auf sich genommen hatten, einer Aufgabe, um die Motti nie gebeten hatte, die ihm aber jetzt dennoch im Blut liegt.
In den vergangenen drei Sommern ist Motti, jetzt zwanzig, nach Hause nach Portland gekommen, um in der Sommer-Jeschiwa seines Vaters zu unterrichten, anstatt für Chabad auf eine glanzvollere Mission nach Russland oder Afrika zu gehen. Und einmal, als Devorah und ihr Mann von einer erfolgreichen Lag-baOmer-Veranstaltung heimkehrten, die sie zusammen mit der Jewish Federation von Portland organisiert hatten, und gerade zur Tür hereinkamen, hörte sie, wie das Telefon läutete. »Ich wusste, es war Motti«, erzählt sie. »Er sagte, er habe den ganzen Morgen darum gebetet, damit es nicht regnete und unsere Veranstaltung ein Erfolg werden würde. Wie viele andere zwanzigjährige Kinder nehmen so intensiv am Leben ihrer Eltern teil?«
»Die Kinder wegschicken, ist ein sehr großer Kampf. Es war schwerer bei meinen älteren Kindern: kein koscheres Essen, keine anderen orthodoxen Kinder, mit denen sie spielen konnten. Für meine jüngeren Kinder ist es jetzt leichter, weil es mehr fromme Familien gibt, die sie besuchen können, aber ich glaube, die älteren haben von diesen Herausforderungen profitiert. Schlichut lässt eine Familie fester zusammenwachsen. Die Kinder lernen, sich umeinander zu kümmern.«
Die Jahre, die die Wilhelms in Portland verbracht haben, waren nicht leicht und sind es immer noch nicht. Die konservative und die Reformgemeinde in der Stadt haben jeweils 1000 Familien, während die Wilhelms selbst nach siebzehn Jahren noch immer nur fünfundvierzig Kinder in ihrer Tagesschule haben und Devorahs Mann, Moshe, jedes Jahr um sein Budget kämpfen muss. »Es ist keine Stadt, die Orthodoxie besonders herzlich willkommen heißt«, betont Priscilla Kostiner, Vorsitzende der Jewish Federation in der Stadt.
Devorah sagt, sie habe sich oft entmutigt gefühlt. »In Russland öffnen die Schlichim eine Schule und haben gleich fünfhundert Kinder. Hier bei uns sehen wir so schnell keinen Erfolg.« Mehrere Jahre lang, als die Schülerzahl in ihrer Schule gefährlich tief gesunken war, rief Devorah immer wieder am Eastern Parkway 770 an um nachzufragen, ob sie nicht besser schließen solle. »Weitermachen« bekam sie stets zur Antwort.
»Ich habe diesen Traum, dass ich auf dem Kongress bin, auf dem andere Schlichim sagen, sie haben fünfhundert Kinder in ihrer Schule, siebenhundert Mitglieder in ihrer Gemeinde, und ich stehe auf und sage, wenigstens existiert unsere Schule. Ist sie dort, wo ich sie haben möchte? Nein. Wird sie je dort sein? Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Es ist ein Kampf. Ich hoffe sehr, dass einmal eine Zeit kommt, in der ich keine Bauchschmerzen mehr habe und mich frage, ob wir nächstes Jahr genug Kinder für diese oder jene Schulstufe haben. Aber wenn man wirklich an das glaubt, was man macht, wie ich, die ich wirklich glaube, dass Portland eine Tagesschule in der Gemeinde braucht, in der Tora-Werte gelehrt werden, macht man einfach weiter, selbst wenn die Gemeinde nicht hinter einem steht. Man geht zurück und liest, was der Rebbe den Menschen schrieb, und man bittet um Gottes Segen.«
Rabbi Yosef Chaim Kantor lehnt sich in seinem Stuhl nach vorne, seine Ärmel wegen der Hitze von 36 Grad Celsius draußen hochgekrempelt. Es ist April in Bangkok, und die brennende Hitze eines thailändischen Sommers hat die Stadt fest in ihrem Griff. Trotz der veralteten Klimaanlage, die über seinem Kopf läuft, hängen Schweißperlen in seinem roten Bart, und sein Hemdkragen ist tropfnass.
Es ist Freitagnachmittag, zwei Tage vor Pesach 2001, und Kantor nimmt die Anrufe von Chabad-Jeschiwa-Studenten entgegen, die riesige gemeinschaftliche S e d a r i m für Tausende israelischer Rucksacktouristen an sechs verschiedenen Örtlichkeiten in ganz Thailand und Nepal veranstalten sollen. Das Telefon klingelt. Es ist sein für die Verteilung zuständiger Manager, der vom Flughafen in Bangkok anruft und Anfragen in letzter Minute durchgibt.
H a g g a d a [hebr.; »Erzählung«, »Bericht«] die; ~dot: legt den Ablauf des Seders fest und beschreibt das Exil der Israeliten in Ägypten und den Auszug in die Freiheit
»Wie viele H a g g a d o t brauchen sie in Chiang Mai?« ruft Kantor in den Hörer. »Zweihundertfünfzig? Schick weitere hundertfünfzig nach Koh Samui. Haben sie genug Kippot? Was ist mit dem Salat? Wir schicken jedem von ihnen morgen weitere zweihundert Stück.«
Der Rabbiner legt auf und seufzt. Noch vier Stunden, bevor der Schabbat beginnt, und wieder einmal hat eine Krise zugeschlagen. Zweihundert der vierhundert Hühner, die er für den Seder-Tisch vorbereitet hatte, wurden falsch gekühlt und sind verdorben, also muss er auf der Stelle noch einmal zweihundert Stück Geflügel schlachten. Kantor ist nicht nur der einzige rituelle Schlächter in ganz Thailand, vermutlich ist er auch der einzige für den gesamten Fernen Osten. »Das gehört nicht zum angenehmsten Teil meiner Arbeit«, gesteht er. »Aber wenn es richtig hart wird, denke ich nur noch an die Juden, die zu mir wegen des koscheren Fleisches kommen. Ich weiß, dass, wenn ich nichts habe, sie die Straße zum unkoscheren Fleischhauer hinuntergehen. Es ist eine große Mizwa.«
Kantor lebt nun schon das achte Jahr als Schaliach des Rebben in Thailand, und jedes Jahr werden seine Seder-Feiern größer. Die Logistik ist überwältigend. Das gesamte Gemüse und Obst wurde auf einheimischen Märkten gekauft: 1000 Salatköpfe, 2000 Eier, Dutzende Fässer Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln und Auberginen. Alles andere wurde per Schiff aus Israel gebracht: mehr als 350 Kilogramm Mazza, 700 Flaschen koscherer Wein, 1300 Rollen Gefillter Fisch, Dutzende Flaschen von Öl und Gewürzen, koscher für Pesach. Und alle diese Vorräte müssen von einer Hand voll Lubawitscher Jeschiwa-Studenten, die aus New York und Jerusalem eingeflogen sind, um während der Feiertage zu helfen, an ihr endgültiges Ziel geflogen, gefahren und gezogen werden.
Von allen Veranstaltungen für die Feiertage, die vom Lubawitscher Welthauptquartier in New York durchgeführt werden, ist Pesach die größte. Chabad-Rabbiner und -Studenten halten beinahe neuntausend öffentliche Seder-Feiern in dreizehn Zeitzonen rund um die Welt ab und bewirten eine halbe Million Gäste zum abendlichen Festessen.
Die meisten Chabad-Sedarim finden in Gemeinden statt, in denen Chabad feste Schlichim hat. Aber einige werden in entlegenen Regionen in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika und sogar in Nordamerika von Jeschiwa- Studenten veranstaltet, die mit dem Flugzeug kommen, einen passenden Ort für die Festmahlzeit aussuchen, das gesamte Essen kochen, einheimische Juden finden und sie zur Teilnahme überreden, den Seder leiten, aufräumen und wieder fortfliegen. Allein in der ehemaligen Sowjetunion nahm im April 2001 eine Viertelmillion einheimischer Juden an beinahe sechshundert Chabad-Sedarim teil, ein Mammutunterfangen, getragen vom Lubawitscher Hauptquartier und drei großen Spendern. Zu einigen dieser Sedarim in der ehemaligen Sowjetunion kamen mehr als tausend Gäste. Andere waren kleiner, mit nur ein- oder zweihundert Gästen. Die meisten Gäste zahlten nichts.
Im Fernen Osten erfreuen sich Chabad-Sedarim eines legendären Rufes. Sie unterscheiden sich von den Sedarim in Russland oder Afrika, weil ihre Klientel — israelische Rucksacktouristen um die Zwanzig, gerade aus der Armee entlassen und ein Jahr oder länger auf Wanderschaft — genau so auf der Durchreise ist wie die Jeschiwa-Studenten, die mit dem Flugzeug kommen, um sie zu bedienen.
Mitte der 1980er Jahre wurde man sich im Chabad-Hauptquartier dieser Masse junger israelischer Reisender bewusst, und es wurde beschlossen, die Feiertage zu ihnen zu bringen. 1988 fand Chabads erster Seder im Fernen Osten in Katmandu, Nepal, statt. Ein paar Lubawitscher Jeschiwa- Studenten kamen per Flugzeug aus Australien mit koscherem Wein und Mazza-Kartons und veranstalteten eine spontane Festmahlzeit auf dem Rasen der israelischen Botschaft. Fünfundsiebzig Touristen fanden sich zu jener ersten Seder-Feier von Chabad ein, für die niemand geworben hatte. Innerhalb weniger Jahre war der Seder in Katmandu der größte auf der Welt geworden, der jedes Jahr beinahe zweitausend Reisende anzieht, hauptsächlich dank Mundpropaganda. Bangkok kam als nächstes, gefolgt von Chiang Mai, den thailändischen Inseln und danach Singapur, Japan, Hongkong und im Jahr 2000 Vietnam.
Der aus Brooklyn gebürtige Kantor wurde 1993 als Gemeinderabbiner für Bangkoks zwei am Hungertuch nagende jüdische Gemeinden eingestellt, aber die zwei- bis dreihundert Juden, die dauerhaft in Bangkok leben und inmitten der Mehrheit von 10 Millionen Buddhisten kaum auffallen, boten sich kaum als Ziel für Chabads Bemühen um Juden an. Eine weitaus reichere Ernte versprachen die beinahe 100.000 jungen israelischen Reisenden, die jedes Jahr durch Thailand ziehen. Gekleidet in Batikhemden, mit frischen Tätowierungen und Piercings, trecken sie durch die Dörfer im Norden, rauchen Drogen in den Gästehäusern von Chiang Mai und Kanchanaburi, tanzen die Nacht durch auf Vollmond-Partys auf den südlichen Inseln Koh Samui und Koh Phang Gan. Und schließlich kommen sie alle durch Bangkok, wo sie den Horden anderer mittelloser Reisender in die Herbergen für $ 4 die Nacht auf der Khao San Road folgen.
Khao San, die Hauptdurchfahrtsstraße in Bangkoks Banglamphu-Bezirk, hat sich seit den 1970er Jahren nicht viel verändert. Sie ist kaum länger als zwei Häuserblocks, vollgepackt mit billigen Massagesalons und Kaffeehäusern, die Haschisch und Rühreier anbieten. Die gleichen mürrischen Straßenhändler verhökern die gleiche müde Ware, die sie schon seit Jahrzehnten anbieten: Rock-n-Roll-T-Shirts, Baumwollhosen mit einer Kordel, Holzschüsseln, Messingelefanten. Die Gerüche von Curry und Chili überdecken kaum den durchdringenden Gestank menschlichen und tierischen Abfalls, und das Ganze wird begleitet vom ständigen Dröhnen von Techno-Musik, das aus jedem Fenster und Laden schallt. Mit Rücksicht auf die große Zahl israelischer Touristen sind viele Speisekarten in den Cafés und zahlreiche Hotelschilder auf Hebräisch gehalten. Restaurants verkaufen Hummus und Pita an israelische Jugendliche, die Thaigerichte und gebratenen Reis satt haben. Die Internet-Cafés werben mit billigen Anrufen nach Tel Aviv.
Genau auf dieses Stadtviertel konzentrierten sich der damals vierundzwanzigjährige Yosef Kantor und seine Frau Nechama kurz nach ihrer Ankunft. Die jungen Wanderer von Banglamphu waren offen für jede Art der Spiritualität auf ihrer Reise durch den Fernen Osten — warum also nicht fürs Judentum? Im Herbst 1993 mietete Kantor ein Gebäude an der Khao San Road und fing an, Chabad-Jeschiwa-Studenten zu bringen, um jüdische Gottesdienste, Vorträge und freie Schabbat-Mahlzeiten anzubieten. An Freitagnachmittagen fuhren die jungen Lubawitscher in einem kleinen Lastwagen die Straße auf und ab, ließen chassidische Musik durch die Lautsprecher schmettern und luden verschlafene Rucksacktouristen, die in Straßencafés an ihrem Espresso nippten, ein: »Kommt doch zum Schabbat bei uns vorbei!« Junge säkulare Israelis, die in Tel Aviv keinem Chabad-Haus nahe kommen würden, empfanden das Judentum hier weniger bedrohlich, ja, sogar als eine willkommene Erinnerung an Zuhause, nachdem sie monatelang unterwegs waren. Sie fanden sich zum Abendessen ein, aßen vom Braten, und sie sangen die Schabbat-Lieder — Lieder, an die sie sich zu ihrer eigenen Überraschung noch erinnerten.
»Es ist schön, den Schabbat-Geist zu spüren, nachdem man so lange in Asien herumgereist ist«, erklärt Eric Grossman, ein junger Mann aus einem Tel Aviver Vorort, der an einem Freitagabend Anfang 1995 seine Freunde zu Kantors Schabbat-Dinner geschleppt hat. Grossman gesteht freimütig ein, dass er seit seiner Bar Mizwa zehn Jahre davor nie wieder eine Synagoge betreten habe. »In Israel wird einem das Judentum aufgezwungen. Ich halte nicht viel vom ständigen Studieren, von der Suche nach allen Antworten nur im Talmud. Aber das hier«, er nickt zum hell erleuchteten Essenstisch, »das hier ist richtig cool.«
Zu Pesach 1995 war Chabad in Bangkok schon so groß geworden, dass Kantor ein zweites Chabad-Paar in die Stadt rief, um ihm zu helfen, die Unternehmung dauerhaft am Leben zu halten. Die in Israel geborenen Rabbi Nechemya Wilhelm und seine Frau, Nechamie, bezogen oben im gemieteten Chabad-Haus eine kleine Wohnung, wo sie noch immer mit ihren vier kleinen Kindern leben, direkt im Herzen von Sex und Drogen auf der Khao San Road. Massagesalons, die »Vollkörpermassage mit Öl« anbieten, sind nebenan und gegenüber vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Betrunkene und zugekiffte Jugendliche stolpern zu jeder Tages- und Nachtstunde ins Chabad-Haus. Schon ein komischer Ort, um chassidische Kinder aufzuziehen.
»Meine Kinder sind hier geschützter als anderenorts«, behauptet Rabbi Wilhelm, der bei seiner Ankunft in Bangkok mit zweiundzwanzig Jahren jünger war als viele der Rucksacktouristen, um die er sich kümmerte. Wilhelm hält nicht nur Gottesdienste am Schabbat und an den Feiertagen ab, er ist auch als Stegreif-Sozialarbeiter und Drogenberater tätig und wird oft von der einheimischen Polizei und der israelischen Botschaft gerufen, um sich mit jungen Reisenden zu befassen, die abhängig von Cannabis oder halluzinogenen Pilzen sind. Als Privatperson habe Wilhelm mehr »Bewegungsfreiheit«, sagt ein Beamter der israelischen Botschaft. Er hat Psychologen aus Israel gebracht. Und er hat ein thailändisches Polizeiboot überredet, mitten in einem Taifun auszufahren, um eine umnebelte Israelin zu holen, die auf einer Insel gestrandet war. Er hat eine Kaution von $ 5.000 für ein junges israelisches Paar aufgebracht, das wegen Marihuana-Besitzes verhaftet worden war.
»So etwas ist mir in der chassidischen Welt, in der ich aufwuchs, nie begegnet«, gesteht Wilhelm. »Aber wenn ich jemanden, der Probleme hat, nach Hause bringe, sind meine Kinder da und sehen das. Sie helfen mir, sie bringen Gläser mit Wasser, und sie schauen zu, während ich mich um die Person kümmere. Sie haben keine Angst. Sie sehen, dass es ein anderer Jude ist. Ich erkläre ihnen, dass einem genau so etwas zustoßen kann, wenn man ohne religiösen Hintergrund aufwächst.«
Das Chabad-Unterfangen auf der Khao San Road wuchs sehr viel schneller als Kantors zwei Gemeinden und der Kindergarten, den er und seine Frau 1998 eröffneten. 2001 nahmen nur vierzehn ortsansässige Kinder am Unterricht teil, elf davon die Söhne und Töchter der Chabad-Schlichim. Kantor denkt nicht, dass er den Kindergarten in eine Schule für höhere Klassen weiterentwickeln wird: Es gibt einfach nicht genug Interessenten.
Aber die israelischen Rucksacktouristen kommen auch weiterhin, drängen sich bei Rabbi Wilhelms Schabbat-Festessen um die Tische und kommen zurück zu seinem zwanglosen Tora-Unterricht. In der Hauptreisezeit finden sich oft über zwei- bis dreihundert Personen für eine einzige Mahlzeit ein. Im Frühjahr 2001 pachtete Kantor ein größeres Gebäude in Banglamphu für dreißig Jahre; es liegt im gleichen Block wie das alte Chabad-Haus, nur ein wenig die Straße hinunter. Im März hatte eine Baumannschaft das Gebäude entkernt und nahm die Arbeit an einer Synagoge, einem koscheren Restaurant, einem Speisesaal und neuen Unterkünften für die wachsende Wilhelm-Familie auf. Pesach steht vor der Tür. Wilhelm erwartet sechshundert oder mehr Gäste für den Seder, und zwei Tage vor den Feiertagen hat das Gebäude noch immer keinen Boden, keine Wände und auch keinen Strom. Der Raum im zweiten Stock, in dem der Seder stattfinden soll, ist voller Staub und hat weder Licht, Treppen noch — das ist das Schlimmste — eine Klimaanlage. Wilhelm wird langsam nervös.
Und doch, ein Lubawitscher muss an die göttliche Vorsehung glauben. »Es wird ein Wunder geschehen«, verspricht er ganz zuversichtlich, während ein Dutzend thailändischer Arbeiter mit Putzkellen und Brettern an ihm vorbeieilt. »Dieser Platz wird bestimmt rechtzeitig fertig.«
Im Taxi, unterwegs um an diesem Freitagnachmittag seine Pesach-Hühnchen zu schlachten, blickt Rabbi Kantor auf die Aufgabe zurück, die ihn mit seiner Frau und Familie nach Thailand gebracht hat, in diese dampfende und fremde Stadt, in der sie voraussichtlich bis an ihr Lebensende bleiben werden. »Um ehrlich zu sein, ich dachte, ich würde schließlich auf Long Island oder in New Jersey landen«, sagt er. »Vielleicht auch im Mittleren Westen. Aber nie an einem Ort wie diesem.«
Aber 1990, kurz vor Rosch haSchana, schickte die größere von Bangkoks beiden Gemeinden eine verzweifelte Bitte ans Chabad-Hauptquartier. »Wir haben schon seit Jahren keinen Rabbiner mehr, und diejenigen, die wir für einen befristeten Zeitraum brachten, waren zu nichts gut«, sagt eine Einheimische. »Wir sind eine kleine orthodoxe Gemeinde; wir können uns keinen Rabbiner in Vollzeit leisten. Wir wussten, wir konnten uns nur an Chabad wenden.« Und doch, fährt die Frau fort, zögerte die Gemeinde. »Einige waren nervös, Chabad zu rufen. In einigen Gemeinden treten sie sehr stark auf, und sobald sie einmal da sind, bleiben sie auch.« Bangkoks Juden geben sich sehr zurückhaltend, leben sie doch, wie sie es nennen, am Rand eines köchelnden Antisemitismus. Chabad würde seine öffentlichen Demonstrationen von jüdischer Identität mäßigen müssen, erklärt sie. Diese Frau will nicht, dass ihr Name im Buch steht; obwohl sie schon dreißig Jahre in Bangkok lebt, wissen nicht einmal ihre unmittelbaren Nachbarn, dass sie und ihr Mann Juden sind.
Rabbi Levi Shemtov, frisch ordiniert, kam 1990 und 1991 zu den Hohen Feiertagen nach Bangkok; aber dann nahm er seinen ständigen Posten in Washington, D. C., an. Als 1992 wieder Rosch haSchana vor der Tür stand, schlug er seinem Freund Kantor, frisch verheiratet und auf der Suche nach einem Job, Bangkok vor. Kantor fragte den Rebben, und Schneersons Antwort lautete unmissverständlich: »Geh!« »Unsere Familien waren nicht gerade entzückt, dass wir hierher gezogen sind«, gesteht Kantor ein. »Meine Mutter war besorgt, aber Nechamas Eltern waren regelrecht entgeistert. Wir sind alle auf geistige Einöde vorbereitet, wenn wir auf Schlichut gehen. Uns störte die räumliche Entfernung: Bangkok liegt so weit weg. Aber wenn man eine Antwort vom Rebben bekommen hat, dann geht man.«
Als Gemeinderabbiner wurde Kantor direkt in die Gemeindepolitik geworfen, der er lieber aus dem Weg gegangen wäre. »Als Gemeinderabbiner werden so viele Dinge von einem erwartet«, sagt er. »Wenn es im koscheren Laden unten keine Diät-Cola gibt, werden die Leute böse.« Kantor stockt das geringe Gehalt, das er von den zwei Gemeinden in Bangkok erhält, auf, indem er die Kaschrut für mehrere Lebensmittelfabriken vor Ort und für die El-Al-Flüge von und nach Thailand überwacht. Dafür wurde er in der Jeschiwa nicht unbedingt ausgebildet, betont er. »Viel von der Arbeit hier hat mit Essen zu tun. Manchmal sage ich mir, ich bin nicht als Lieferant für Speisen und Getränke hierher gekommen. Aber der Baal Schem Tow sagt, wenn man einem anderen Juden einen Gefallen tun kann, ist das großartig. Wenn ihm das auch spirituell weiterhilft, um so besser. Ob ich mich hier wohl je zuhause fühlen werde? Nein. Es wird immer ein Kampf bleiben. Aber der Rebbe ist gegangen, und da ist niemand mehr, der mir sagt fortzugehen. Also bleibe ich hier.«
Kantors Frau Nechama drückt sich über ihr Leben in der thailändischen Hauptstadt weniger optimistisch aus. Nechama wurde in Kanada geboren und ist dort aufgewachsen, und sie hat mehrere Jahre in Los Angeles gelebt, bevor sie Yosef Chaim heiratete, was ihr ganzes Leben aus den Angeln hob. »Ich habe mich noch immer nicht an die Gerüche gewöhnt«, gibt sie zu. »Ich begleite meine Töchter jeden Morgen in den Kindergarten, und unterwegs kommen wir an all diesen Essensständen vorbei. Ich glaube nicht, dass ich mich je daran gewöhnen werde.« Manchmal, wenn sie mit ihren Kindern spazieren geht, starren die Thailänder sie an und zeigen mit dem Finger auf ihre große Familie, einige nähern sich sogar, um das rote Haar ihrer Kinder zu berühren. Einmal, als sie im achten Monat schwanger war, stand sie in einem Kaufhaus, und alle Verkäuferinnen liefen zusammen, um zu flüstern und ihre fünf Kinder zu zählen, dann auf ihren Bauch zu zeigen und in Kichern auszubrechen. »Also habe ich sie meinerseits gezählt, während sie uns anstarrten«, erinnert sich Nechama. »Es war wirklich peinlich.«
Die Kantors haben eine achtjährige Tochter, und sie beginnen darüber zu sprechen, sie auf eine Lubawitsch-Schule in Australien oder Amerika zu geben. Aber Nechama möchte nicht einmal daran denken. »Werde ich sie wegschicken? Ich kann nur hoffen, dass der Maschiach vorher kommt. Immer nur einen Tag auf einmal, das ist alles, was ich sagen kann.«
Zurück im Chabad-Haus auf der Khao San Road hat sich ein halbes Dutzend israelischer Reisender eingestellt, um bei der Vorbereitung des Essens für den Seder zu helfen. Der Schabbat beginnt in ein paar Stunden, und Pesach fängt am Samstag bei Sonnenuntergang an, sobald der Schabbat endet, was bedeutet, dass das gesamte Essen für den Schabbat und die ersten beiden Pesach-Tage am Freitag zubereitet sein muss. »Meine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie mich hier sähe«, sagt der zweiundzwanzigjährige Idan Ben-Horin, ein ehemaliger Sanitäter der israelischen Armee aus Ra’anana, der geschäftig Karotten in einen gewaltigen Zinkkessel hackt. Ben-Horin hatte schon ein paar Monate früher bei seinem ersten Aufenthalt in Bangkok vom Chabad-Seder gehört. Er zog weiter bis nach Burma, eilte dann aber in dieser Woche zurück in die thailändische Hauptstadt. Die aufregende Hektik der Feiertagsvorbereitungen hat ihn richtiggehend gefangen genommen; er hat den ganzen Tag über Kartoffeln geschält, staubige Stühle geputzt und ganze Kübel voll mit Essen von der Küche im alten Chabad-Haus in den neuen Speisesaal die Straße hinunter geschleppt.
Neben Ben-Horin steht Orly Goreshnick aus Ramat Hasharon, eine hochgewachsene junge Frau mit kurzem rotem Lockenhaar und einem Piercing in der Nase; die Hände verschwinden in fliegenden Kartoffelschalen. Sie sagt, dass sie, wie die anderen Israelis, die den Wilhelms bei den Pesach-Vorbereitungen helfen, in Israel, wo sie und ihre Familie sehr säkular eingestellt seien, keinerlei Kontakt zu Chabad gehabt habe. Einige Monate davor war Goreshnick mit zwei Freundinnen durch Nepal gereist, und sie hatte sich selbst mit ihrem Vorschlag, zum Schabbat in ein Chabad-Haus zu gehen, überrascht. »In Israel würde ich nie zu Chabad gehen, aber hier fühle ich mich offener«, erklärt sie. Die junge Israelin, bereits auf der Suche nach spiritueller Aufklärung, entdeckte etwas Wertvolles in den mystischen Lehren, die sie bei den Chassidim in Nepal und Indien hörte. Das habe ihre Einstellung zu religiösen Juden geändert, sagt sie mit einem stillen Lächeln.
»Ich habe noch immer ein Problem mit den Ultraorthodoxen, aber Chabad ist liberaler«, erklärt sie. »Ich habe zehn Tage bei Chabad in Indien verbracht. Sie haben mir direkt in die Augen geschaut, nicht wie die anderen Orthodoxen.« Wenn sie zurück nach Israel kommt, hat sie vor, an einem Chabad-Erwachsenenprogramm in Safed teilzunehmen — nur, um mehr zu lernen, betont sie. Sie habe nicht vor, »religiös« zu werden. Und wenn doch — nun, sie zuckt mit den Schultern und lächelt scheu.
Dovid Hadad, ein zweiundzwanzigjähriger Lubawitscher, koordiniert an diesem Freitagnachmittag die israelischen Freiwilligen in der Küche. Hadad kommt aus Kfar Chabad, einer großen Lubawitscher Gemeinde außerhalb von Tel Aviv. Er ist seit fünf Monaten in Thailand, denn er hat eine Pause von einem Jahr zwischen dem Abschluss seines Studiums an der Jeschiwa und dem Beginn einer intensiven neunmonatigen Studienzeit bis zur Ordinierung zum Rabbiner eingelegt. Er hilft beim Gottesdienst; gibt Unterricht, der den Reisenden umsonst angeboten wird; trommelt dreimal am Tag einen Minjan zusammen und legt Hand an, wo immer nötig. »Bangkok stinkt, aber die Arbeit mit den Israelis ist großartig«, sagt er und schaut für einen Augenblick von den Haufen geschälter Auberginen auf, die er auf Maden untersucht, denn sie würden, wenn nicht entfernt, das Gemüse unkoscher machen.
Vor seiner Ankunft in Bangkok studierte Hadad ein Jahr in Brooklyn, danach half er sechs Monate lang in einem Chabad-Haus in Chile aus, und drei Monate lang kümmerte er sich um Juden in Peru. Der junge Lubawitscher, ein kleiner, junger Mann mit dunklem Teint, der schnell lächelt, ist bei den Reisenden beliebt, von denen viele ihn beim Vornamen nennen, wenn sie ins Chabad-Haus kommen, um am Schwarzen Brett nach Nachrichten von Freunden zu suchen oder die Post abzuholen, die der Rabbiner für sie aufbewahrt. Hadad verteilt umsonst seine Ratschläge an die Reisenden und rät einer Gruppe junger Israelis, die mit dem Jeep einen dreitägigen Ausflug in den Norden machen wollen, eine Reiseversicherung abzuschließen. »Sonst könntet ihr für sehr viel Geld stecken bleiben«, ermahnt er sie.
Hadad sagt, ihm gefalle die Arbeit für Juden, die er außerhalb von Israel macht, am meisten. »Wer reist, ist offener«, betont er. »Es gibt an einem Platz wie Bangkok soviel zu tun. Die Arbeit ist da, jeden Tag, und man kann die Resultate der Bemühungen sehen.« Hadad sagt, er müsse sich erst in einigen Jahren für einen ständigen Posten entscheiden, aber er habe das vergangene Jahr unterwegs verbracht, damit er diese Wahl treffen könne. »Wenn ich jetzt zu wählen hätte, würde ich mich für einen Ort wie diesen entscheiden. Ich hasse Bangkok, aber ich schaue nicht auf die Stadt. Ich betrachte die Arbeit. Ja, tatsächlich, ich könnte überall leben.«
Oben legen die Wilhelms eine zehnminütige Pause in ihren frenetischen Feiertagsvorbereitungen ein. Beide waren bis 4:00 Uhr früh auf den Beinen und haben kaum mehr als drei Stunden geschlafen. Nechemya hat die ganze Nacht über Lieferwägen voll mit Essen und Vorräten vom Lagerhaus im östlichen Teil der Stadt ins neue Chabad-Haus gefahren. Nechamie stand an ihrer Spüle in der Küche und hat Tomaten gehackt und Hühnchen gesäubert, um Essen für ihre eigene Familie für die kommenden drei Tage zu kochen. Außerdem muss sie sämtliche Speisen für zwei vollständige Sedarim zubereiten, die ihr Mann und seine helfenden Jeschiwa- Studenten jeden Abend bei ihnen nach den öffentlichen Sedarim feiern, bei denen sie so mit der Show beschäftigt sein werden, dass sie ihren eigenen rituellen Verpflichtungen kaum nachkommen können. Es gibt auch noch einen weiteren Grund für die zusätzlichen Sedarim: Für die Lubawitscher selbst gelten sehr viel striktere Pesach-Vorschriften, die sie ihren Gästen nicht aufzwingen möchten.
Nechamie ist schockiert, wenn jemand andeutet, sie könne in Bangkok einsam sein. »Nie!« betont sie. »Es kommen die ganze Zeit über so viele Israelis hier durch.« Aber ihre Kommunikation mit den jungen Rucksacktouristen findet oft nur auf einer oberflächlichen Ebene statt. Für sie wird sie stets die Rebbezin sein, so wie ihr siebenundzwanzigjähriger Mann immer der Rabbiner sein wird. »Ich muss die perfekte Frau sein«, erklärt sie dazu. »Sie betrachten mich als Rollenvorbild. Selbst wenn ich es nicht bin, muss ich es vortäuschen. Mir fehlt eine beste Freundin. Mein Mann muss meine Mutter, mein Vater, meine beste Freundin, er muss einfach alles für mich sein.«
Nechamie ist als Tochter von Schlichim in Kirjat Gat, einer damals ärmlichen Entwicklungsstadt in Süd-Israel, aufgewachsen. Sie ist mit elf Schwestern und Brüdern groß geworden, von denen alle entweder schon Emissäre sind oder davon als ihrer Zukunft träumen. Nechamie sagt, sie hoffe, am nächsten Schlichot-Kongress in Crown Heights teilzunehmen, damit sie ihre frisch verheiratete Schwester sehen kann, die mit ihrem Mann gerade einen Posten in Moskau angetreten hat. »Ich habe sie ein Jahr lang nicht gesehen«, sagt sie. Für den Rest ihres Lebens wird Nechamie ihre Schaliach-Geschwister nur auf Kongressen oder Familienfeiern, auf Hochzeiten, Bar Mizwa-Feiern oder, Gott behüte, Beerdigungen sehen. Und doch, sagt sie, das Leben in Bangkok sei für sie sehr viel leichter als Kirjat Gat für ihre in Amerika geborene Mutter.
Vielleicht ist es leichter, weil sie die Stadt so sehr auf Distanz hält. Wie viele Chabad-Schlichim an isolierten Orten leben die Wilhelms eigenartig losgelöst von dem Land, in dem sie leben. In den sechs Jahren haben sie nur zweimal Bangkok verlassen: einmal, um für eine Beschneidung nach Chiang Mai zu fahren; ein zweites Mal haben sie drei Tage Urlaub auf der Insel Koh Samui gemacht. Das ist typisch für Chabad-Schlichim. Trotz all ihren Meilen als Vielflieger und ihren Posten in entlegenen Ländern schweben die Lubawitscher sozusagen unberührt durch die exotischen Orte, an denen sie leben und arbeiten, einerseits Teil und andererseits doch abseits von den fremden Kulturen, deren Sprache sie erlernen, deren Kultur sie sich jedoch weigern anzunehmen. Das Innere eines Lubawitscher Hauses sieht überall gleich aus, gleichgültig, wo auf der Welt es liegen mag. Die gleichen Bücher stehen im Regal, die gleiche Suppe mit Mazzaknödeln köchelt auf dem Herd, und das gleiche Porträt des Rebben hängt an der Wand im Wohnzimmer. Und gleichgültig, wo sie aufwuchsen, praktisch jeder Lubawitscher — außer den in Israel geborenen — spricht fließend Englisch mit dem gleichen Brooklyn-Akzent, ein Anklang an die standhafte Homogenität der Bewegung.
Um 19:30 Uhr am Samstagabend, der ersten Pesach-Nacht, erklimmen Hunderte junger Israelis die Stufen im neuen Chabad-Haus auf der Khao San Road. Irgendwie ist Rabbi Wilhelms Wunder wahr geworden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurden die Wände gestrichen, der Fußboden gelegt und an der Decke das Licht installiert. Die Klimaanlagen, erst ein paar Stunden zuvor eingebaut, blasen nach Leibeskräften, aber schon in einer Stunde werden sie ihren Geist aufgeben und den ganzen Abend über stoßweise angewärmte Luft ausspucken.
Der Seder wurde für 19:30 Uhr angesetzt, aber eine Stunde später treffen noch immer Gäste ein. Einige haben sich die Mühe gemacht, doch noch ein unzerknittertes Hemd tief unten in ihrem Rucksack zu finden, aber die meisten sehen aus, als kämen sie direkt vom Strand. Eine bereits festliche Feiertagsstimmung wird durch Dutzende unvorhergesehener Begegnungen gesteigert, als junge Israelis ihre Arme um Freunde schlingen, die sie seit der Armee — oder seit Indien — nicht mehr gesehen haben. Dovid Hadad und zwei weitere Jeschiwa-Studenten nehmen oben die Eintrittskarten entgegen, aber weniger als die Hälfte der Gäste hat sich die Mühe gemacht, welche zu kaufen. Die Menschen sind daran gewöhnt, bei Chabad etwas umsonst zu bekommen. Die Jeschiwa-Jungen lächeln nur und lassen alle hinein, zu höflich, um zu erwähnen, dass die 11-Dollar-Tickets, alle vor dem Feiertagswochenende ausverkauft, gerade einmal ein Drittel der Ausgaben des Abends decken. Rabbi Kantor schätzt, dass die drei Sedarim, die er in diesem Jahr in Thailand organisiert, ihn $ 50.000 mehr kosten werden, als er mit dem Kartenverkauf einnimmt. Und das ist die einzige Veranstaltung, für die er einmal im Jahr eine Gebühr erhebt.
Drinnen im überfüllten Speisesaal sind Rabbi Wilhelm und seinem Team die Stühle ausgegangen. Leute stehen an den Wänden und fächeln sich mit Papiertellern und zusätzlichen Haggadot Luft zu. »Freunde, bitte nicht fotografieren !« plädiert Rabbi Wilhelm, während Kameras links und rechts mit ihren Blitzen gegen den jüdischen Feiertag verstoßen.
Schließlich fängt das Vorlesen der Haggada an. Junge Israelis, die damit prahlen, nie in die Synagoge zu gehen; nie die gesamte Haggada bei den langen Sedarim in der Familie zu schaffen, deklamieren einstimmig die Pesach-Geschichte, während Rabbi Wilhelm von Tisch zu Tisch springt, um die Begeisterung weiter anzufachen.
»Wenn ich zu deinem Tisch komme und du weißt nicht, wo wir mit der Geschichte sind, hast du verloren!« ruft er unter großem Gelächter.
Die ersten beiden Becher Wein werden eingeschenkt und geleert, der Seder- Teller wird aufgedeckt, für »Hillels Sandwich« die Mazza mit Kren belegt und gegessen, und gegen 22:30 Uhr beginnt dann endlich die Festmahlzeit. Mit Rücksicht auf die israelischen Gäste stehen Auberginen- und geriebener Karottensalat auf dem Tisch, aber die restlichen Speisen sind typisch osteuropäisch. Auf Gefillte Fisch folgt die Suppe mit den Mazzaknödeln, danach geht es weiter mit gekochtem Rind und Wurzelgemüse. Thailändisches gibt es erst beim Nachtisch: frische Papaya und Ananas in Stücken.
»Heute Abend sind wir alle eine Familie«, ruft Wilhelm erneut unter donnerndem Applaus. Um 23:30 Uhr sind auch die letzten beiden Becher Wein geleert, und Wilhelm springt auf seinen Stuhl, um eine mitreißende Version von Echad, mi jodea? [Wer kennt eins? (populäres Pesachlied)] zu singen. Nach den ersten vier Strophen bittet er alle sechshundert Gäste, aufzustehen und im Stehen weiterzusingen. Zwei Strophen weiter ermutigt er sie, auf ihre Stühle zu steigen. »Gehen wir immer höher hinauf!« ruft er. Der Gesang wird immer rauer, deshalb zögert er, sie aufzufordern, auf die schwer beladenen Tische zu steigen. Nein, das ist für eine Nacht vielleicht schon genug. »Wir sind körperlich schon sehr hoch gestiegen. Wie wäre es, nach innen zu gehen, um auch spirituell erhöht zu werden?« schlägt er statt dessen vor.
Einige Zeit nach Mitternacht ist der Seder vorüber, und die Menge ergießt sich geräuschvoll auf die nächtliche Bangkoker Straße. Wie immer herrscht in dieser Samstagnacht geschäftiges Treiben. Susies Bar lockt gleich um die Ecke, die Massagemädchen spazieren auf der Straße gegenüber, und die Straßenhändler preisen laut ihre Waren. Viele Seder-Gäste kehren zurück in ihre Hotels, aber mindestens ebenso viele verschwinden in den Cafés und Tanzclubs auf der Khao San Road. Rabbi Wilhelm und Rabbi Kantor müssen es wissen. Sie haben ein gemütliches Leben in New York und Kfar Chabad aus keinem anderen Grund aufgegeben, als jungen Israelis, die durch Thailand reisen, Jüdischkeit zu bringen. Empfinden sie das Weiterfeiern, besonders direkt nach dem Pesach-Seder, als entmutigend? Vielleicht. Aber sie lassen sich dadurch nicht aufhalten.
»Wir versuchen nicht, Ba’alej Teschuwa aus ihnen zu machen«, betont Wilhelm. »Nur etwas Jüdischkeit sollen sie verspüren. Das ist schon sehr viel.«
Zwei Nächte später sitzen die Wilhelms, Kantors und einige der sie besuchenden Jeschiwa-Studenten rund um den Esstisch der Kantors und erholen sich von den Feiertagen. Sie bedienen sich an Schüsseln mit Bratkartoffeln, grünem Salat und kaltem Aufschnitt, während Rabbi Kantor auf die Anrufe von draußen wartet, die über die Sedarim in Koh Samui, Chiang Mai und Nepal Bericht erstatten sollen. Tiefkühlung ist überall ein Problem. Er weiß schon, dass die Suppe in Koh Samui verdorben war und in letzter Minute eine neue gekocht werden musste. Jetzt hört er von einem noch größeren Schlamassel in Nepal, wo ein Hotelangestellter in guter Absicht jede Nacht die Stecker aller Kühlschränke herauszog, um Geld zu sparen, ohne zu bedenken, dass drinnen eine Pesach-Mahlzeit für 1500 Gäste verdarb. »Also haben sie Eingelegtes und Salat gegessen«, berichtet Kantor.
Um 23:00 Uhr wird die Eingangstür aufgerissen und herein marschiert der neunzehnjährige Levi Touger. Er kommt direkt aus Chiang Mai, wo er und mehrere andere Jeschiwa-Studenten einen Seder für zweihundertdreißig Touristen leiteten. »Es war ein gigantisches Erlebnis«, erklärt er mit einem glückseligen Lächeln. »Ein einziger langer Trip geradewegs nach oben. Unglaublich!«
Wie Hadad ist auch Touger für ein halbes Jahr in Bangkok. Mit neunzehn ist er bereits Rabbiner, selbst in Chabad-Kreisen etwas ungewöhnlich. »Talent«, erklärt er mit einem breiten Grinsen und lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Touger entstammt einer amerikanischen Lubawitscher Familie, die in Jerusalem lebt und, im Gegensatz zum leise sprechenden Hadad, versprüht er nur so Brooklyn-Temperament. »Ich bin am Freitagnachmittag mit dem ganzen Blattsalat nach Chiang Mai geflogen. Dort traf ich zwei Stunden vor dem großen Ereignis ein. Wir hatten einen erstaunlichen Schabbat. Die Energie, so etwas kriegt man in keinem anderen Club. Dazu muss man dem Chabad-Club beitreten.«
Die Jeschiwa-Jungen an Kantors Tisch platzen vor Adrenalin. Sie sind jung, weg von zu Hause, sie machen die Arbeit des Rebben, sehen Erstaunliches, und das alles steigt leicht zu Kopf. Die Riesen-Sedarim sind vorbei, sie stehen nicht länger auf der Bühne, und sie lassen Dampf ab mit einem Feuer von spielerischem Aufziehen und Witzen. Touger erheitert die Tischrunde mit Pointen vom Seder in Chiang Mai.
»Das Fleisch war so weiß, dass die Amerikaner dachten, es sei C h a s i r [hebr.; »Schwein«]«, berichtet er. »Sie fragten: Ihr Burschen, ihr esst dieses Zeug? Ich antwortete: Ja, sicher!«
»He, du solltest in die Politik gehen!« ruft einer der Studenten Touger zu. »Nein, hier geht es um Showbusiness, Mann«, erwidert Touger und lehnt sich noch weiter in seinem Stuhl zurück.
»Warum nicht Gebrauchtwagen?« witzelt ein zweiter Bocher. Touger lächelt nur.
Einige der Lubawitscher Jungen in Bangkok befinden sich dort für ein halbes Jahr auf einer offiziellen Schlichut. Einige sind nur für ein paar Wochen gekommen, um zu helfen, wie der siebzehnjährige David Drizin aus Crown Heights. Im Allgemeinen verbringt er Pesach mit seiner Familie in einem Hotel in Miami Beach, aber dieses Jahr ist er mit ein paar Freunden in den Fernen Osten aufgebrochen, um zu den Feiertagen seine Runde in den Chabad-Häusern zu machen. »Ich hatte gehört, der Seder in Bangkok sei erstaunlich, und ich musste es sehen«, erklärt er. Hat er seinen Hoffnungen entsprochen? »Oh, ja!« sagt er nachdrücklich. Drizin hat in der Woche davor schwer gearbeitet. Dadurch hat er einen Vorgeschmack auf das Leben eines Schaliachs bekommen, das er eines Tages einschlagen möchte. Sein Vater ist Geschäftsmann in Brooklyn, aber er erhofft sich eine Schlichut an »einem warmen Ort« wie Singapur oder vielleicht Miami. »An jedem Ort außer New York«, sagt er. Nur drei seiner Klassenkameraden würden vielleicht in New York bleiben. Der Rest will weg. Aber, überlegt er, vielleicht kehren ihre Kinder oder Enkel eines Tages zurück nach Crown Heights, das ihnen dann so exotisch vorkommen könnte, wie die Schlichut in Thailand ihm heute erscheint. Der neunzehnjährige Shaya Boas ist für einen Monat in Bangkok; dazu hat er sich in Crown Heights vom einjährigen Vorbereitungskurs zum Rabbiner beurlauben lassen. Seine Eltern haben seinen Flug hierher bezahlt, und wie die anderen Bocherim hilft er ehrenamtlich. »Mein Papa hat mich angerufen um zu fragen, ob es mir Spaß macht. Ich antwortete, es sei Schwerstarbeit, aber ich tue etwas Nützliches. Es gibt eine Grenze, wieviel Spaß man verträgt, und danach möchte man richtig etwas tun.«
Boas möchte das Gleiche auch nächsten Pesach machen, vielleicht an einem anderen Ort im Fernen Osten. »Ich habe gehört, nächstes Jahr soll etwas in Kambodscha eröffnet werden«, sagt er hoffnungsvoll. Wie seine Freunde nutzt er soweit wie möglich seine vorübergehende Freiheit. Schon bald wird er verheiratet sein, eine Familie gründen und an sein eigenes Chabad-Haus gebunden sein.
»Ich liebe es, neunzehn zu sein«, gesteht er. »Noch hat man keine Verpflichtungen, man kann überall hinreisen. Meine Großmutter hat gesagt, dies sei das beste Jahr meines Lebens und ich solle es genießen.«Runde in den Chabad-Häusern zu machen. »Ich hatte gehört, der Seder in Bangkok sei erstaunlich, und ich musste es sehen«, erklärt er. Hat er seinen Hoffnungen entsprochen? »Oh, ja!« sagt er nachdrücklich.
Drizin hat in der Woche davor schwer gearbeitet. Dadurch hat er einen Vorgeschmack auf das Leben eines Schaliachs bekommen, das er eines Tages einschlagen möchte. Sein Vater ist Geschäftsmann in Brooklyn, aber er erhofft sich eine Schlichut an »einem warmen Ort« wie Singapur oder vielleicht Miami. »An jedem Ort außer New York«, sagt er. Nur drei seiner Klassenkameraden würden vielleicht in New York bleiben. Der Rest will weg. Aber, überlegt er, vielleicht kehren ihre Kinder oder Enkel eines Tages zurück nach Crown Heights, das ihnen dann so exotisch vorkommen könnte, wie die Schlichut in Thailand ihm heute erscheint.
Der neunzehnjährige Shaya Boas ist für einen Monat in Bangkok; dazu hat er sich in Crown Heights vom einjährigen Vorbereitungskurs zum Rabbiner beurlauben lassen. Seine Eltern haben seinen Flug hierher bezahlt, und wie die anderen Bocherim hilft er ehrenamtlich. »Mein Papa hat mich angerufen um zu fragen, ob es mir Spaß macht. Ich antwortete, es sei Schwerstarbeit, aber ich tue etwas Nützliches. Es gibt eine Grenze, wieviel Spaß man verträgt, und danach möchte man richtig etwas tun.«
Boas möchte das Gleiche auch nächsten Pesach machen, vielleicht an einem anderen Ort im Fernen Osten. »Ich habe gehört, nächstes Jahr soll etwas in Kambodscha eröffnet werden«, sagt er hoffnungsvoll. Wie seine Freunde nutzt er soweit wie möglich seine vorübergehende Freiheit. Schon bald wird er verheiratet sein, eine Familie gründen und an sein eigenes Chabad-Haus gebunden sein.
»Ich liebe es, neunzehn zu sein«, gesteht er. »Noch hat man keine Verpflichtungen, man kann überall hinreisen. Meine Großmutter hat gesagt, dies sei das beste Jahr meines Lebens und ich solle es genießen.«