Nur gedämpfte Beleuchtung erhellt den großen Ballsaal des Marriott in Brooklyn, aber zwei Dinge sind noch zu erkennen: Ein Meer von schwarzen Anzügen und Hüten wogt um mehr als hundert weiß gedeckte Tische, und eine provisorische Mechiza trennt Dutzende elegant gekleideter Frauen von ihren Ehemännern. Es ist das Galabankett der Internationalen Konferenz der Chabad-Lubawitscher Schlichim, oder »Emissäre«, und über 1300 Lubawitscher Rabbiner sind von ihren Standorten rund um die Welt gekommen, um ein Wochenende lang gemeinsam zu studieren, sich miteinander zu vernetzen und moralische Stärkung zu tanken.
Das Verlesen der Anwesenheitsliste, der Höhepunkt des Abends, hat gerade begonnen. »Argentinien! Armenien! Australien!« Rabbi Moshe Kotlarsky, Konferenzvorsitzender und zuständig für die Entwicklung von Chabads internationalem Netz von Emissären, verliest die Namen von über 60 Ländern auf der ganzen Welt, in denen die Bewegung feste Zentren unterhält. Sobald ein Name verlesen wird, springen ein, zwei, manchmal ein Dutzend Männer unter verhaltenem Applaus auf.
»Paraguay … Peru … Polen … Rumänien!« Der Applaus wird lauter, als die Schlichim ihren Kollegen beglückwünschen, der gerade Chabads neuestes Zentrum in Bukarest eröffnet hat. Kotlarsky legt eine dramatische Pause ein. Dann ruft er mit dröhnender Stimme: »Russland!« Fast drei Dutzend junge Männer — ein Viertel von Chabads 130 Emissären, die in Vollzeitbeschäftigung in der ehemaligen Sowjetunion tätig sind, wo bis zum Zusammenbruch des Sowjetstaats 1991 jüdische Erziehung siebzig Jahre lang untersagt, wo jüdische Aktivisten pauschal angegriffen und inhaftiert worden sind — springen unter donnerndem Applaus und Beifallsrufen auf. Die Menschen im Saal formieren sich spontan zu einer H o r a, und unter Händeklatschen und Gesang geht der ausgelassene Tanz weiter und weiter — ein gewaltiges anfeuerndes Getümmel ohne Trommelwirbel, eine politische Versammlung ohne Fernsehkameras. Reine Freude. Reine Leidenschaft.
H o r a [hebr.] die: israelischer Volkstanz (Kreistanz)
Das ist Chabad-Lubawitsch, die 250 Jahre alte chassidische Bewegung mit Sitz in Brooklyn, der Experten nach dem Tod ihres siebten und letzten Rebben, Menachem Mendel Schneerson, im Juni 1994 vorausgesagt hatten, sie würde in sich zusammenbrechen. Schneerson oder »der Rebbe«, wie seine Anhänger ihn nennen, war dreiundvierzig Jahre lang Herz und Seele von Chabad gewesen, die geistige Leitfigur ebenso wie der intellektuelle und organisatorische Angelpunkt der Bewegung. Er verwandelte Chabad von einer kleinen Nachkriegsgemeinde von in Russland geborenen Chassidim in eine weltumspannende, höchst sichtbare Gemeinde, die im amerikanischen Kongress und in Crown Heights in Brooklyn gleichermaßen bestens bekannt war.
Aber im Januar 1994 lag der zerbrechliche einundneunzigjährige Rebbe sterbend in Manhattans Beth Israel Medical Center. Er hinterließ keine Kinder und hatte auch keinen Nachfolger bestimmt, die Zügel seines internationalen Reiches zu übernehmen. Rund um sein Krankenbett schwirrten Spekulationen über die Nachfolge und Gerüchte darüber, wer die Macht an sich reißen würde, kompliziert durch das Aufkommen von beinahe verzweifelten messianischen Klängen unter seinen Anhängern, die die Bewegung auseinanderzureißen drohten. Nichts dergleichen geschah. Heute ist Chabad stärker, größer, reicher und beliebter als je zuvor, mit mehr als 3800 Ehepaaren, die als Emissäre in 45 US-Staaten und 61 Ländern weltweit stationiert sind und es sich zu ihrer Aufgabe gemacht haben, Juden zurück zum Judentum zu bringen. Es ist beinahe so, als habe die Bewegung nach Schneersons Tod alle nur irgendmöglichen Anstrengungen daran gesetzt, der Welt — und auch sich selbst — zu beweisen, dass sein Erbe ihn überleben würde. »Alle selbst ernannten Experten dachten, wir würden nach Kalifornien laufen und von einem Felsen springen, als der Rebbe uns verließ, oder unsere Bärte abrasieren«, sagt Rabbi Yosef Langer, Chabad-Emissär in San Francisco. »Aber sie begreifen einfach nicht, welche Beziehung zwischen einem Chassid und seinem Rebben besteht.«
Chabad ist ein faszinierendes Phänomen: eine zutiefst religiöse chassidische Bewegung, deren Mitglieder einer strengen Interpretation des Tora- Gesetzes folgen, die aber ihre besten und klügsten jungen Ehepaare ausschickt, um unter nicht praktizierenden Juden auf der ganzen Welt zu leben und zu arbeiten.
Vielleicht die Hälfte, möglicherweise auch zwei Drittel, aller Lubawitscher in den USA leben ständig in einer Hand voll Lubawitscher Gemeinden, die größte davon in Crown Heights, dem geistigen und administrativen Zentrum der Gruppe. Diese Chassidim schicken ihre Kinder auf Lubawitscher Schulen, kaufen in Lubawitscher Läden und besuchen ihre Lubawitscher Freunde am Abend oder am Schabbat. Sie leben in einer koscheren Welt. Aber eine ansehnliche Zahl von Lubawitschern hat sich dazu entschlossen, ihre Heimatgemeinden zu verlassen, um an Orten zu leben, in denen sie ganz bestimmt die einzige chassidische und manchmal auch die einzige orthodoxe Familie sind. Sie gründen Chabad-Häuser, um ihre Lehren unter der allgemeinen jüdischen Bevölkerung zu verbreiten. Die Juden, die zu ihnen zum Beten kommen, sich auf ihren Chanukka-Partys und zu ihrem Tora-Unterricht einfinden und ihnen schließlich auch Geld geben, sind keine Lubawitscher. Die meisten sind nicht einmal orthodox, sondern nicht praktizierende Juden, die überhaupt keiner Gemeinde angehören, oder Mitglieder einer konservativen oder Reformgemeinde, die etwas in der Botschaft von Chabad anspricht.
Das ist etwas Neues: eine orthodoxe jüdische Bewegung, die hauptsächlich nicht-orthodoxe Juden anzieht.
K a b b a l a [hebr.; »Überlieferung«] die: mystische Tradition des Judentums
T e f i l l i n [hebr.; Pl.] die: ›Gebetsriemen‹; schwarze lederne Kapseln, die kleine Schriftrollen mit Toratexten enthalten und mit Riemen an Arm und Stirn gebunden werden
Pe s a c h - S e d e r [hebr.; »Ordnung«]: Feier am Abend von Pesach in Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten
Chabad bemüht sich ununterbrochen aktiv um Kontaktaufnahme. Die Aktivisten der Bewegung begegnen einem überall. Sie veranstalten Purim- Partys an Universitäten. Sie zünden öffentliche Chanukka-Leuchter unter freiem Himmel in Hunderten von Städten auf der ganzen Welt an und übertragen das Anzünden der größten live im Internet. Sie fahren mit ihren »Mizwa-Mobilen« — umgebauten Wohnmobilen mit einer Couch und Getränken für Besucher, vollbepackt mit jüdischem Informationsmaterial — durch die Gegend und bitten jüdische Männer, T e f i l l i n anzulegen, und jüdische Frauen, Schabbat-Kerzen anzuzünden. Sie bauen Mikwaot, Ritualbäder, in New Mexico, sie geben in den Büros der Wall Street, im Microsoft- Hauptquartier und in staatlichen Gesundheitsämtern Tora-Unterricht in der Mittagspause. Sie errichten S u k ko t in Brasilien und organisieren einen P e s a c h - S e d e r für Rucksacktouristen in Katmandu. Sie betreiben Drogenrehabilitationszentren und Suppenküchen. Sie geben Hollywood- Berühmtheiten K a b b a l a -Unterricht. Sie unterstützen gewaltige Werbekampagnen, um das Einhalten jüdischer Feiertage zu fördern, einschließlich eines Hinweises jeden Freitag auf die Zeiten für das Anzünden der Schabbat-Kerzen auf der ersten Seite der New York Times über so viele Jahre, dass er in die satirische tausendjährige Ausgabe der Zeitung, deren Datum 1000 Jahre in der Zukunft lag, aufgenommen wurde. »Wir konnten uns die Welt ohne das nicht vorstellen«, witzelte ein Times-Redakteur.
Diese Männer mit den schwarzen Hüten und langen Bärten und ihre Frauen mit den züchtigen Kleidern und den Perücken treffen ganz unauffällig in der Stadt ein, aber ehe man es sich versieht, machen sie das Haus koscher, geben Bibelunterricht, veranstalten die Bar Mizwa für den Sohn und führen tägliche Gebetszeiten ein — alles größtenteils völlig ehrenamtlich. Chabadniks haben Filialen in Los Angeles und auf Long Island, aber auch in Omaha, Des Moines, Salt Lake City, El Paso, Little Rock, Anchorage und — seit dem Sommer 2001 — sogar in Peoria. Beinahe 1 Million Kinder besuchen Chabad-Schulen und nehmen jedes Jahr an Sommerferienlagern und besonderen Ereignissen teil. Chabad hat die jüdische Welt dermaßen vollständig durchdrungen, dass Funktionäre der Bewegung in Brooklyn behaupten, sie würden mit ihren Feiertagsprogrammen jedes Jahr 10 Millionen Juden erreichen, das sind beinahe drei Viertel der gesamten jüdischen Bevölkerung auf der Welt.
B a r M i z w a [aram. / hebr.; »Sohn der Pflicht«]: Religionsmündigkeit eines Jungen im Alter von 13 Jahren
B a t M i z w a [hebr.; »Tochter der Pflicht«]: Religionsmündigkeit eines Mädchens im Alter von 12 Jahren
Das ist ihnen jedoch nicht genug. Chabad strebt an, jeden Juden auf der Welt zu erreichen. Chabad umwirbt eifrig die Reichen, die Berühmten und die Mächtigen und hat mit großem Erfolg Berühmtheiten, Geschäftsmagnaten und führende Politiker auf der ganzen Welt für die Sache gewonnen. Bob Dylan studierte mit Chabad-Rabbinern in Minneapolis und unterstützte ein $ 100.000 teures Bauprojekt in einer Nachbarstadt. Jon Voight moderiert einen jährlichen Fernseh-Spendenmarathon für Chabad in Los Angeles, eine mit Stars besetzte Fundraisingaktion, die eine lange Liste aus der, jüdischen wie nichtjüdischen, Society anzieht, von Whoopi Goldberg bis Al Gore. Der ehemalige US-amerikanische Präsident Jimmy Carter half beim Anzünden der großen C h a n u k k i a der Bewegung im Jahr 1979, und der russische Präsident Wladimir Putin hat es ihm zwanzig Jahre später in Moskau nachgemacht. Senator Joseph Lieberman aus Connecticut und Nobelpreisträger Elie Wiesel waren Hauptredner auf Chabad-Banketten; Herman Wouk und der verstorbene Chaim Potok gehörten ebenfalls zu den großen Bewunderern. Jitzchak Rabin, Benjamin Netanjahu, Robert F. Kennedy und Rudolph Giuliani sind nur einige der Politiker, die dem Rebben in Crown Heights einen Besuch abgestattet haben. Chabad-Schlichim haben den Kongress der Vereinigten Staaten eröffnet, und der Rebbe stand auf der Titelseite des New York Times Magazine. Wie ist es diesen Chassidim gelungen, die führenden Politiker und Kulturikonen dieser Welt von der Bedeutung ihrer Bewegung zu überzeugen?
C h a n u k k i a [hebr.] die ; ~iot: Leuchter, der an den acht Tagen von Chanukka gezündet wird
In den zehn Jahren nach Schneersons Tod wuchs die Chabad-Infrastruktur schneller als zu seinen Lebzeiten. Zwischen 1994 und 2002 bezogen mehr als 610 Ehepaare als neue Emissäre ihre Posten, und über 700 neue Chabad-Institutionen wurden eröffnet, darunter 450 Gebäude, die gekauft oder neu gebaut wurden. Die Gesamtzahl der Institutionen auf der ganzen Welt — Synagogen, Schulen, Ferienlager und Gemeindezentren — beläuft sich damit auf 2766. Im Jahr 2000 wurden 51 neue Chabad-Einrichtungen allein in Kalifornien eingeweiht.
Die jährlichen Betriebskosten des Chabad-Unternehmens nähern sich $ 1 Milliarde. Und in diesem Budget sind nicht die Baukosten für neue Gebäude eingeschlossen, die seit Schneersons Ableben in einem erstaunlichen Tempo errichtet wurden: eine Synagoge in Bal Harbour, Florida, für $ 10 Millionen; ein Chabad-Campus in San Diego für $ 25 Millionen; das Jewish Children’s Museum in Crown Heights für $ 20 Millionen; ein Chabad-Zentrum in Las Vegas für $ 1 Million; für das Hauptquartier der American Friends of Lubavitch in Washington, D. C., $ 2 Millionen; für eine Tagesschule in Pittsburgh $ 5 Millionen und für ein Gemeindezentrum in Montreal $ 3 Millionen.
Die Chabad-Bauvorhaben auf der ganzen Welt haben Schritt mit jenen in Nordamerika gehalten: $ 15 Millionen für eine Mädchenschule vor den Toren von Paris; $ 14 Millionen für ein Gemeindezentrum in Buenos Aires, sowie Suppenküchen in Brasilien, Synagogen und Schulen in Lettland und Litauen und Waisenhäuser in der Ukraine.
Chabads Wachstum allein in der ehemaligen Sowjetunion ist phänomenal. 1994 hatte die Bewegung Emissäre in gerade einmal acht Städte in Russland geschickt. Im Januar 2002 gab es bereits in 61 Städten in ganz Russland, der Ukraine, in Moldawien, in den Baltischen Staaten und in Zentralasien Niederlassungen, wo 13.000 Kinder ihre Tagesschulen und tausende mehr ihre Kindergärten besuchen und an ihren Sommerferienlagern teilnehmen. Im Frühjahr 2000 teilte das Chabad-Hauptquartier mit, es werde in jenem Jahr $ 30 Millionen für den Bau von zehn neuen jüdischen Gemeindezentren in der ehemaligen Sowjetunion bereithalten, ein ehrgeiziges Unterfangen, gekrönt von der Eröffnung im September 2000 eines $ 12 Millionen teuren Chabad-Zentrums in Moskau, dem ersten bedeutsamen jüdischen Bauvorhaben in jenem Land seit der Revolution im Jahr 1917.
Es ist leichter, Gebäude und Bankkonten zu zählen als Gläubige. Niemand weiß genau, wie viele Chassidim Chabad tatsächlich hat. Es gibt keine Mitgliederlisten, keine offizielle Zählung. Viele Berichterstatter sprechen von ungefähr 200.000 Lubawitschern auf der ganzen Welt, das ist jedoch wenig mehr als eine wilde Schätzung.
Zahlen verraten außerdem nicht die ganze Geschichte. Chabad ist nicht wegen jener relativ geringen Zahl von Juden, die ein Leben als Chassidim führen, von Interesse, sondern wegen des Erfolgs dieser Lubawitscher im nicht chassidischen öffentlichen Leben. »Man kann ihren Einfluss nicht anhand der Anzahl der Männer mit schwarzen Hüten messen«, betont Samuel Heilman, Professor für Soziologie und Jüdische Studien an der City University von New York und Autor von Defenders of the Faith: Inside Ultra-Orthodox Jewry (»Verteidiger des Glaubens. Unter ultraorthodoxen Juden«). »An jedem Standort gibt es verhältnismäßig wenige offizielle Chabad-Mitglieder. Chabads Einfluss wird anhand der Anzahl von Juden gemessen, die sie beeinflusst haben, und diese übertrifft bei weitem ihre tatsächliche Zahl.«
Ein beredter Indikator ist die Zahl von Chabad-Rabbinern, die in vielen Ländern führende Positionen in allgemeinen jüdischen Gemeinden innehaben. Mindestens die Hälfte der Gemeinderabbiner in England, Italien und Australien und beinahe alle in Südafrika und Holland sind Lubawitscher, und Chabad übt einen beträchtlichen Einfluss in den jüdischen Gemeinden in Frankreich und Deutschland aus. Chabad-Rabbiner haben die Überwachung der Herstellung von koscheren Nahrungsmitteln in mehreren der bedeutendsten Städte auf der ganzen Welt in der Hand, und ein Chabad-Rabbiner steht an der Spitze des Rabbinerrats in Montreal. In der ehemaligen Sowjetunion ist Chabad zur richtungsweisenden Gruppe in der heute drittgrößten jüdischen Gemeinschaft der Welt geworden. Chabad ist die führende Kraft in der neu geschaffenen Federation of Jewish Communities of the CIS (Föderation Jüdischer Gemeinden der GUS), einer Dachorganisation, die 392 jüdische Gemeinden mit einem Jahresbudget von $ 20 Millionen vertritt. Das ist zwanzig Mal mehr als jener Betrag, den die Reformbewegung, die nächstgrößte Gruppe in der Region, ausgibt. Im Jahr 2000 wählten Chabad-Rabbiner ihren Moskauer Schaliach, Berel Lazar, zum neuen Oberrabbiner von Russland und schalteten damit den amtierenden Oberrabbiner in einem Machtspiel aus, bei dem sie öffentlich von Präsident Putin unterstützt wurden.
In den Vereinigten Staaten kommt Chabads Einfluss in den jüdischen Einrichtungen dem nicht einmal nahe. Aber in den vergangenen zehn Jahren hat es eine Zunahme in der Zahl von Lubawitschern gegeben, die an nicht von Lubawitsch betriebenen jüdischen Schulen unterrichten und auch in Synagogen, die nicht zu Lubawitsch gehören, den Gemeinderabbiner stellen. Insbesondere in den schnell wachsenden jüdischen Gemeinden in Florida und Kalifornien, wo mit großem Eifer Chabad-Häuser eröffnet wurden, ist Chabad sehr oft die einzige orthodoxe Vertretung in einer bestimmten Ortschaft oder Stadt. In der jüdischen wie der allgemeinen Öffentlichkeit wird Chabad als die jüdische Orthodoxie schlechthin betrachtet.
Wo liegt der Schlüssel für den Erfolg der Bewegung? Chabad hat Geld, das stimmt, der Großteil gespendet von nicht-orthodoxen Juden. Chabad hat eine beeindruckende Infrastruktur und bietet eine elegante, faszinierende Theologie, eine Interpretation der Realität an, die auf der Kabbala, der jüdischen Mystik, beruht und von vielen Juden intellektuell und geistig als bezwingend betrachtet wird. Lubawitscher sind anpassungsfähig — mehr als jede andere chassidische Gruppierung ist Chabad fähig und bereit gewesen, die politischen und technologischen Werkzeuge des 20. Jahrhunderts zu nutzen, um die eigene Sache zu fördern.
Vor allem anderen aber ist der Grund für Chabads anhaltende Vitalität und sein phänomenales Wachsen in jenem Ballsaal im Marriott in Brooklyn zu finden: die Schlichim — Tausende intelligenter, idealistischer junger Männer und Frauen voller Eifer, Energie und Liebe für das jüdische Volk, junge Chassidim Anfang zwanzig, die bereit sind, ihr gemütliches Zuhause und ihre Familien zu verlassen und nach Schanghai oder Zaire zu ziehen, um ihr Leben damit zu verbringen, Chabad-Unternehmungen zu betreiben, die sie oft genug praktisch aus dem Nichts heraus mit eigenen Händen aufbauen. Sie tun es, sagen sie, weil der Rebbe das von ihnen erwartet.
»Wir führen die Revolution des Rebben fort«, sagt eine junge Frau Anfang zwanzig, die mit ihrem frisch gebackenen Ehemann Brooklyn verlassen hat, um im russischen Fernen Osten eine Chabad-Unternehmung zu gründen.
Die »Revolution« begann 1950, noch bevor Schneerson das Steuer von Chabad von seinem Schwiegervater, dem sechsten Lubawitscher Rebben, übernommen hatte. Als eine seiner ersten Handlungen schickte er in jenem Jahr ein Ehepaar als Schlichim von Brooklyn nach Marokko; damit begann die Kampagne, die sich überall auf der Welt an Juden wendet und für die Chabad heute so bekannt ist. 1995, am ersten Jahrestag von Schneersons Tod, wurden jede Woche zwei oder drei Lubawitscher Ehepaare von Brooklyn aus ausgeschickt, um Tora zu unterrichten und Juden zurück zum Judentum zu bringen.
Und sie gehen nicht für ein oder zwei Jahre fort, sondern für den Rest ihres Lebens. Diese jungen, frisch verheirateten Chabad-Ehepaare verlassen ihr Zuhause mit einem Einwegticket und — wenn sie Glück haben — mit einem Gehalt für ein Jahr. Danach wird von den meisten erwartet, sich finanziell allein durchzuschlagen, indem sie eine Gebühr für bestimmte Dienstleis-tungen wie Tagesschule oder Sommerferienlager erheben, Spenden zusammentrommeln oder Arbeiten in der örtlichen jüdischen Gemeinde annehmen. Das Chabad-Hauptquartier in Brooklyn versieht sie mit Broschüren und diversen Schriften, entscheidet bei Streitigkeiten und gibt auf internationaler Ebene die allgemeine Richtung für die Arbeit der Bewegung vor, aber jedes einzelne Schaliach-Paar ist praktisch auf sich selbst gestellt und kann lediglich auf den eigenen Mut und Willen zurückgreifen, um sich zu behaupten. Damit ist Chabad eine stark zentralisierte, gleichzeitig aber auch zutiefst dezentralisierte Bewegung.
Natürlich sind Chabad-Schlichim keine Gefangenen. Kommt ein Schaliach nicht zurecht, kann er in eine andere Stadt ziehen. Aber man hört praktisch von niemandem, der ganz aufgibt. »Sie gehen nicht und denken dabei: Probieren wir’s doch einmal für ein oder zwei Jahre aus. Sie gehen in dem Wissen, dass sie dort ihr Leben lang bleiben werden«, sagt Rabbi Zalman Shmotkin, Leiter des Lubawitscher Nachrichtendienstes in New York. »Womit gehen sie? Mit einem Dollar und einem Traum.«
»Chabad verfügt über das größte Reservoir an Menschen in der jüdischen Welt, die bereit sind, am Rand der Armut zu leben«, sagt der Historiker Arthur Hertzberg, Autor zahlreicher Bücher über Zionismus und jüdische Geschichte. Hertzberg ist nicht immer ein Chabad-Fan gewesen. Als in den frühen 1990er Jahren messianische Hoffnungen um den sterbenden Rebben aufkeimten, erklärte Hertzberg in der New York Times, Chabad komme den Anhängern von Schabtai Zwi gefährlich nahe, dem berüchtigten falschen Messias, der im 17. Jahrhundert lebte. Aber dank seiner persönlichen Begegnungen mit Chabad-Schlichim seit dem Tod des Rebben hat er seine Meinung geändert. Seine Tochter, Mitglied in einer konservativen Gemeinde in Fresno, Kalifornien, schicke ihre Kinder auf eine Chabad-Schule, erzählt Hertzberg stolz.
»Jene 3500 Schlichim sind die heiligste Gruppe in der heutigen jüdischen Welt«, erklärt er. »Sie setzen sich jeden Tag für Ki d d u s c h h a - S c h e m ein. Wo immer ich hingehe, ich stoße auf eines dieser jungen Ehepaare, die sich totarbeiten. Sie leben von nichts, und sie halten daran fest. Selbst wenn ich vielleicht nicht ihrer Theologie zustimme, kann ich nicht umhin, sie zu bewundern.«
K i d d u s c h h a - S c h e m [hebr.; »Heiligung von Gottes Namen«]: Vorbildhaftes Verhalten relig. Juden, das Gott Ehre und Sympathie einbringt
Nicht jeder mag Chabad. Die sehr öffentliche und unübersehbare Art von Jüdischkeit der Bewegung wirkt auf einige befremdlich, genau wie die Art und Weise, wie Schlichim in eine Stadt brausen und sich unter lauten Posaunenstößen in Gemeinden einrichten, in denen die jüdische Bevölkerung ein eher diskretes Profil gepflegt hat. Dadurch, dass Chabad sich weigert, nicht-orthodoxe jüdische Gruppen anzuerkennen, steht es weder mit der Mehrheit der Rabbiner, die in den USA arbeiten, im Einklang noch mit den meisten nationalen jüdischen Organisationen. Chabad wurde viele Male vor Gericht gebracht, für praktisch alles, von Verstößen gegen Zoneneinteilung bis zu öffentlichen Chanukkiot — meistens von anderen Juden. Chabad wird einerseits als zu religiös kritisiert, gleichzeitig aber auch, weil es in seinem Bemühen um andere Juden die Standards zu weit lockere. Manchmal kritisieren dieselben Personen, die Chabads Eintreten für ein Leben gemäß der Tora ablehnen, gleichzeitig die laschen Kleiderregeln bei Chabad-Gottesdiensten oder werfen Chabad vor, in den von der Bewegung betriebenen Schulen werde nur eine verwässerte jüdische Erziehung angeboten.
Chabads eher rechte Einstellung zu Israel, sein Eingreifen in israelische Wahlen und seine Unterstützung in den USA sowohl der als laizistischen Form des Gebets umstrittenen »Schweigeminute« in öffentlichen Schulen als auch der Debatte um Bundesgelder für religiöse Schulen stellen die Bewegung im amerikanisch-jüdischen Diskurs in die rechte Ecke. Aber ungleich anderen chassidischen Gruppen gehören sie fest zu diesem Diskurs. Leiter anderer jüdischer Institutionen erklären, man kann es mögen oder nicht, aber Chabads Einfluss auf die amerikanisch-jüdische Szene sei weitreichend.
»Sie haben einen gewaltigen Beitrag geleistet«, sagt Dr. Norman Lamm, Präsident der orthodoxen Yeshiva University und Chabad-Kritiker an mehreren Fronten. »Wo immer man hingeht, immer trifft man auf Chabad- Häuser. Diese Menschen sind ungeheuer ergeben, angetrieben von großem Idealismus und großem Engagement für ihre Sache. Es gibt vieles, wofür wir ihnen dankbar sein müssen.«
»Sie waren Pioniere, wenn es darum ging, andere Juden zu erreichen, was heute allgemein akzeptiert wird«, erklärt Malcolm Hoenlein, geschäftsführender stellvertretender Vorsitzender der Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations. »Jede Richtung im Judentum interpretiert das auf ihre Art, aber Chabad bereitete eindeutig den Boden vor, da man sich dort als Erste systematisch dafür engagierte. Das bedeutet nicht, dass man ihrer spezifischen Philosophie oder allem, was sie sagen, zustimmen muss. Auf jeden Fall haben sie einen prägenden Einfluss gehabt.«
Der Lubawitscher Chassidismus ist ein Zweig der allgemeinen chassidischen Bewegung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Wäldern Polens entstand, ein charismatischer mystischer Ausbruch religiösen Eifers, der sich unter den Millionen verarmter, schlecht gebildeter jüdischer Massen in Osteuropa und im Russischen Reich wie ein Lauffeuer ausbreitete.
T a l m u d [hebr.; »Studium«] der: vielbändige Sammlung von praktischen Ableitungen und Kommentaren zur Tora
Der Gründer des Chassidismus war Rabbi Israel ben Elieser, oder Baal Schem Tow, der »Meister des guten Namens«. Dieser um 1700 an der polnischen Grenze geborene autodidaktische Kinderlehrer wurde zunächst als Wanderheiler und Wundertäter bekannt und erst danach für seine neue Einstellung zu jüdischer religiöser Praxis. Der Baal Schem Tow, abgekürzt Bescht, sah das zu seiner Zeit vorherrschende Judentum, das ausschließlich Eigentum einer Elite von T a l m u d -Gelehrten war, und er lehrte statt dessen, dass sich selbst der einfachste Bauer, der kein Wort des Gesetzes kennt, durch sein aus dem Herzen kommendes Gebet und dadurch, dass er seine Seele ausschüttet, Gott direkt nähern kann. Der Bescht brachte die jüdische Mystik zurück zu den Menschen und erklärte, jeder Jude, nicht nur die Gelehrten, dürfte von ihrem berauschenden Wasser trinken. Er riss die Schranken zwischen dem Säkularen und dem Geistigen ein und verlieh den profansten Tätigkeiten eine göttliche Bedeutung, indem er erklärte, Gott erfreue sich an religiöser Ergebenheit mehr als an routinemäßigem Festhalten am Ritual. »Ich bin in diese Welt gekommen, um dem Menschen zu zeigen, wie er nach drei Regeln leben kann«, sagte er. »Liebe zu Gott, Liebe zu Israel und Liebe zur Tora.«
D w e k u t [hebr.; »Verschmelzung«]: intensive Annäherung an Gott
Die Botschaft des Bescht war umwälzend. Seine Anhänger, die das innige ›Haften an Gott‹, auf Hebräisch D w e k u t, als die geistige Voraussetzung für die Anbetung Gottes über alles stellten, beteten so intensiv, dass sie in Ekstase gerieten, wobei einige der Mitglieder sogar Purzelbäume in den Synagogen schlugen oder unter den Sternen tanzten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte man die exzessiveren körperlichen Praktiken gezügelt, aber das theologische Konzept blieb erhalten.
Lawrence Schiffman, der Leiter der Abteilung Hebräische und Jüdische Studien an der New York University, definiert die chassidische Einstellung zu Gott als eine der »bedeutungsvollsten Freuden, eine Freude, die die Welt als vom Göttlichen durchdrungen erkennt.« Die Person des Tewje aus Anatevka — der einfache Milchmann, der mit Gott streitet — ist das Paradebeispiel für diesen neuen Chassid, der im frühen 19. Jahrhundert die vorherrschende Gestalt unter den osteuropäischen Juden geworden war.
Als der Baal Schem Tow 1760 starb, wurde Rabbi Dovber, der M a g g i d [»Prediger«] von Mesritsch sein Nachfolger. Der Maggid brachte Systematik in die Lehren seines Meisters und legte das Fundament, sodass seine Revolution weitergeführt werden konnte. Nach dem Tod des Maggid 1773 zersplitterte die chassidische Bewegung in zahlreiche kleine Höfe überall in Osteuropa, jeder unter der Führung eines eigenen chassidischen Lehrers oder Rebben. Einer dieser Rebben war Schneor Salman, der Gründer des Lubawitscher Chassidismus. Schneor Salman, auch der Alte Rebbe genannt, wurde 1745 in Weißrussland geboren. Als Neuerung übertrug er seine strenge litauische Methode des Talmud-Studiums auf die mystischen Lehren des Chassidismus und die Betonung der freudigen Ergebenheit in Gott. Die von ihm gegründete Bewegung ist unter zwei Namen bekannt: Lubawitsch, nach der weißrussischen Stadt, in der vier ihrer Rebben ihren Sitz hatten, und Chabad, ein Akronym der hebräischen Wörter C h o c h m a [»Weisheit«], B i n a [»Verstehen«] und D a’a t [»Wissen«].
Während einige chassidische Rebben für ihre Frömmigkeit bekannt waren, andere wegen ihrer Wundertaten und wieder andere für ihren Überschwang, war Schneor Salman für seinen Intellekt berühmt. Schon im Alter von dreizehn Jahren, heißt es in der Überlieferung, soll er den gesamten Talmud mit all seinen Kommentaren gemeistert haben, und oft habe er ganze Nächte damit verbracht, sich in die Geheimnisse der Kabbala zu vertiefen. Er studierte drei Jahre beim Maggid und wurde von ihm ermutigt, den Schulchan Aruch HaRav, einen bis heute grundlegenden jüdischen Gesetzeskodex, zu schreiben. Es war die erste vieler einflussreicher Schriften, von denen das 1796 veröffentlichte Buch Tanja die bemerkenswerteste ist, eine systematische Anleitung zur individuellen moralischen und geistigen Entwicklung und zum Konzept der göttlichen Immanenz, die als Grundtext des Chabad-Chassidismus gilt.
Rabbi Menachem Schneerson schrieb in seiner Einleitung zur ersten englischsprachigen Ausgabe von Tanja, der Chabad-Chassidismus sei eine umfassende Sicht auf die Welt, in der der Jude als Bindeglied zwischen Gott und der Schöpfung agiert, wobei er nicht so sehr darum bemüht ist, sich selbst in den Himmel zu bringen, sondern vielmehr den Himmel hinunter auf die Erde zu holen, indem Gottes Vorhaben in den Einzelheiten des täglichen Lebens umgesetzt wird.
»Der Jude ist ein Geschöpf des Himmels und der Erde, mit einer himmlischen göttlichen Seele, die ein wahrer Teil von Göttlichkeit ist, in ein irdisches Gefäß gekleidet, das aus dem physischen Körper und der tiergleichen Seele besteht — und sein Zweck ist es, die Transzendenz und Einheit seines eigenen Wesens und der Welt, in der er lebt, innerhalb der absoluten Einheit Gottes zu erkennen und umzusetzen. Die Umsetzung dieses Zweckes bedingt eine wechselseitige Beziehung: eine in Richtung von oben herab zur Erde; die andere, von der Erde hinaufzu. Im ersten Fall schöpft der Mensch Heiligkeit aus der gottgegebenen Tora und ihren Geboten, um damit jede Phase seines täglichen Lebens und seiner Umwelt zu durchdringen — seinen Anteil in dieser Welt; um die zweite zu erfüllen, greift der Mensch zu allen Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, seien sie gottgeschaffen oder menschengemacht, und verwendet sie als Vehikel für seinen persönlichen Anstieg himmelwärts und, mit ihm, den der ihn umgebenden Welt.«1
Diese Sicht der Welt beruht auf dem chassidischen Konzept von der Schöpfung, das sich wiederum auf die Lehren des Kabbala-Meisters Isaak Luria stützt, der im 16. Jahrhundert lebte. Dieses Konzept sieht wie folgt aus: Bevor das Universum zu existieren begann, füllte Gottes unendliches Licht alles. Um Platz zu machen für die zu erschaffende Welt, zog Gott etwas von seinem Licht zurück, sodass ein Vakuum entstand. Als Gottes schöpferisches Licht in jenes Vakuum zurückkehrte, wurde alles außer Gott zersplittert, und Funken des göttlichen Lichts wurden im ganzen Universum zerstreut. Diese Funken wurden von physischen Hülsen —den Objekten, die unsere Welt ausmachen — eingefangen. Die Welt sehnt sich nach einer Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Zustand des Lichts, dennoch bleibt sie in der physischen Welt. Diese anhaltende Spannung ist die Wurzel aller Schwierigkeiten auf der Welt. Es ist die Pflicht der Juden zu versuchen, die schlummernden Lichtfunken, die in der Seele eines jeden Menschen wohnen, zu erwecken als Teil des Prozesses, die Harmonie im Universum wieder herzustellen.
Dieser gesamte Prozess wird von der göttlichen Vorsehung beherrscht. Der Baal Schem Tow lehrte, dass Gott alles, was sich auf der Welt zuträgt, jeden Augenblick aktiv überwacht. Deshalb gibt es für alles, was sich ereignet, nicht nur einen Grund, sondern jede Handlung, die man ausführt, ist bedeutsam, denn sie ist Teil eines göttlichen Plans.
»Seit Hunderten von Jahren, vielleicht seit Anbeginn der Schöpfung, hat ein Stück der Welt darauf gewartet, dass deine Seele kommt und es reinigt und heilt. Und von der Zeit an, als deine Seele geschaffen und empfangen wurde, hat sie darauf gewartet, in diese Welt herabzukommen und die Aufgabe zu erfüllen. Deine Schritte wurden gelenkt, damit du genau diesen Ort erreichst. Und jetzt bist du hier.«2
Von Anfang an machten sich Lubawitscher das Ideal von A h a w a t J i s r a e l, der ›Liebe zu allen Juden‹, zu eigen. Die Liebe eines Menschen für seine Mitjuden muss immanent sein, muss eine Liebe sein, die jenseits aller Logik angesiedelt ist. Ahawat Jisrael fordert Aufopferung seiner selbst und beständiges Bemühen: Man muss den anderen sogar mehr als sich selbst lieben und ohne jede Diskriminierung. Alle Juden müssen gleich geliebt werden, ohne Rücksicht auf ihr Niveau von Gelehrsamkeit oder Observanz. Einst wurde Rabbi Schneor Salman von seinen Anhängern gefragt, welche Verehrung Gottes größer sei: Die Liebe zu Gott oder die Liebe zum jüdischen Volk? Er antwortete mit einem Zitat aus Maleachi, Kapitel 1, Vers 2: »Ich habe euch geliebt, spricht der Ewige.« Daraus ergibt sich, folgerte der Rabbi, dass die Liebe zum jüdischen Volk größer ist, »denn man liebt den, den der von dir Geliebte liebt.«
Aus der Sicht des Chassidismus haben Juden eine besondere Beziehung zueinander, die bis zur Schöpfung zurückreicht. Ganz Israel ist ein Körper und eine Seele. Wenn ein Jude sündigt, ist der gesamte jüdische Körper betroffen. Wenn ein Jude eine Mizwa erfüllt, einem Gebot Gottes gehorcht, kommt das Verdienst allen zugute.
Dieses theologische Verständnis gibt dem Bemühen von Lubawitsch, Juden zu erreichen, seine Eindringlichkeit. Chassidismus im Allgemeinen verlangt von seinen Anhängern, Tora-Wissen unter dem jüdischen Volk zu verbreiten. Chabad nimmt diese Forderung einen Schritt weiter, indem es sagt, es gebe nichts Wichtigeres als die Aufgabe, Juden zu erreichen.
»Chabad-Lubawitsch unterstreicht ein altes Konzept in der Tora, nämlich, dass alle Juden füreinander verantwortlich sind. Der Gründer von Chabad ging sogar so weit zu sagen, dass ein Jude, der einem anderen bei der Rückgewinnung seines Judentums hilft, feststellen wird, dass sein eigenes Herz und sein eigener Verstand tausendfach gereinigt und verfeinert werden. Indem der Jude anderen hilft, hilft er auch sich selbst.«3
Der fünfte Lubawitscher Rebbe, Scholom Dovber Schneersohn, verglich die Rolle eines Chassids mit der eines Laternenanzünders, der Gottes Feuer auf einer Stange tragen und alle »Laternen«, oder Seelen, unterwegs anzünden muss. Selbst wenn die Laterne mitten in einem Ozean steht, sagte Scholom Dovber, muss der Chassid ins Meer springen und diese Lampe anzünden. Menachem Mendel Schneerson malte die Metapher weiter aus:
»Ein Chassid ist derjenige, der seine persönlichen Angelegenheiten beiseite stellt und darangeht, die Seelen von Juden mit dem Licht von Tora und Mizwot zu entfachen. Jüdische Seelen warten darauf, entfacht zu werden. Manchmal sind sie gleich um die Ecke zu finden. Manchmal sind sie in einer Wüstenei oder auf See. Aber es muss jemanden geben, der persönliche Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten vergisst und hinausgeht, um diese Laternen anzuzünden. Das ist die Pflicht eines echten Chassids.«4
T a l l i t [hebr.] der: ›Gebetsmantel‹; viereckiges Tuch, das zum Morgengebet getragen wird
Chabad lehrt, dass einem anderen Menschen zu helfen die reinste Art und Weise ist, seine Liebe zu Gott auszudrücken. Judentum zu lehren ist eine Form der Hilfe. Aber auch physische Nahrung kann dem heiligsten Zweck dienen. Ein Mensch mag auf die Welt kommen und siebzig Jahre leben, nur damit er einem anderen helfen kann, wie Rabbi Schneerson einer führenden jüdischen Persönlichkeit in New York in den 1970ern schrieb:
»Liebe für einen Mitjuden drückt sich nicht unbedingt in einem Versuch aus, das gesamte Volk zu retten, sondern auch, indem man einem einzigen Menschen hilft. Als eine arme Frau am anderen Ende der Stadt ein Kind zur Welt brachte, … legte Rabbi Schneor Salman T a l l i t und T e f i l l i n ab und suchte sie in ihrer schäbigen Hütte auf, um das Feuer anzuzünden und etwas Essen für sie zu kochen. Für den Rabbi bestand kein Widerspruch darin, sein Gebet zu Gott zu unterbrechen, um einer bedürftigen Frau zu helfen. Im Gegenteil, solche Hilfe ist der beste Ausdruck seiner Verbundenheit zu Gott. Wie können also Sie — und ich sage das mit allem Ihnen geschuldeten Respekt — in dieser Stadt untätig herumsitzen, umgeben von Tausenden und Abertausenden von Mitjuden, die es nach Führung und Anleitung zum rechten Lebensweg, dem Weg der Tora, dürstet? … Sicher sollten Sie den Wunsch haben, Ihre gesamte Energie und Fähigkeiten in den Dienst dieses lebensrettenden Werks zu stellen.«
Chabad-Chassidismus lehrt, dass Tora-Studium und gute Taten, was die Umsetzung der Lehren der Tora in die Wirklichkeit bedeutet, beide zum idealen jüdischen Leben gehören. Aber gute Taten haben Vorrang, denn nur durch Handeln kann der Chassid den göttlichen Funken sichtbar machen, der sich in jedem Aspekt der profanen Realität verbirgt. Das gesamte Universum ist miteinander verbunden, und jede Tat, sei sie gut oder schlecht, zieht kosmische Kreise. Der Chassid lebt daher mit einem erhöhten Bewusstsein für seine individuelle Verantwortung, denn er ist sich jederzeit der Nachwirkungen seiner Tat bewusst. Oft warnte Schneerson seine Anhänger davor, zu lange über ihren Büchern zu sitzen und in der exklusiven Sphäre privater Betrachtung zu verharren. Bei seinen privaten Treffen und in seinen Briefen an sie fragte er stets: Was tust du, um die Welt zu verändern? Wie viele Kinder hast du heute unterrichtet? Wie hast du heute Gottes Botschaft anderen vermittelt?
M a s c h i a c h [hebr.; »der Gesalbte«]: der: Messias; wird von Gott befähigt, ein neues Zeitalter von Frieden und Gerechtigkeit für die ganze Welt einzuleiten und das jüd. Volk aus dem Exil zu führen
Während die meisten Chassidim ihren persönlichen Umgang auf Juden beschränken und einige sogar auf Juden innerhalb ihrer eigenen ultraorthodoxen Gemeinden, sind Lubawitscher nie engstirnig gewesen. Ihr erstes Interesse gilt dem Entfachen der Funken in jüdischen Seelen, aber seit den frühen 1980 ern haben sie ihren Aktionskreis auch auf Nichtjuden erweitert, die sie anhalten, innerhalb ihrer eigenen Religionen zu bleiben, aber die sieben Gesetze zu befolgen, die Gott Noach gab: keine Götzenanbetung, keine Gotteslästerung, keine sexuelle Perversion, kein Mord, kein Diebstahl, keine Grausamkeit an Tieren und das Einsetzen von Gerichten. Das ist lebenswichtig, denn nur wenn alle Funken Gottes freikommen und mit der göttlichen Einheit wiedervereint sind, wird Gottes Zweck erreicht.
»Es ist unsere Aufgabe, eine Wohnstätte für Gott in der Welt hier unten zu schaffen«, sagt Rabbi Sholtiel Lebovic, ein Lubawitscher in Crown Heights, der ein gemeinnütziges Unternehmen betreibt, das Küchen kaschert. »Wir versuchen, die Welt zu einem immer gottähnlicheren Platz zu machen, bis der M a s c h i a c h, der Messias, kommt.«
S c h m a J i s r a e l [hebr.; »Höre Israel!«]: zentrales jüd. Gebet
Trotz bestimmter ritueller und philosophischer Differenzen zwischen Chassidim und allgemein praktizierenden Juden gehören chassidische Juden fest zum orthodoxen Flügel. Sie gehorchen derselben Tora und befolgen dieselben Gesetze. Sie sagen nach dem Aufwachen dasselbe Gebet, in dem sie Gott dafür danken, ihre Seele wieder ihren Körpern zurückgegeben zu haben, und sie gehen auch mit demselben S c h m a J i s r a e l auf den Lippen schlafen.
K a s c h r u t [hebr.] die: rituelles Reinheitsgebot für Speisen
Und doch gelten Chassidim als eine eigene Gruppe, weil ihre Kleidung, Bräuche und ihr Befolgen der Tora-Gesetze zurück in eine frühere Zeit reichen, als Juden in Europa getrennt von der nichtjüdischen Welt lebten. Sie befolgen die K a s c h r u t -Bestimmungen auf strenge Art, und jede chassidische Gruppe wacht über die Herstellung ihrer eigenen koscheren Nahrungsmittel. Genau wie viele andere Orthodoxe trinken auch Lubawitscher nur Ch a l a w J i s r a e l, d. h. Milch, über die ein Jude von dem Augenblick des Melkens bis zum Einfüllen in Flaschen wacht. Dieser Brauch rührt aus einer Zeit her, als Bauern Schweinemilch dazugaben, wenn ihre Kühe nicht genug produzierten, eine Praxis, die in den modernen großen Molkereien undenkbar wäre.
Chassidim studieren Tora, Talmud und die Werke mittelalterlicher Gelehrter wie Maimonides genau wie andere orthodoxe Juden, aber sie erweitern sie um die Schriften ihrer eigenen Rebben, die Teil des geheiligten Kanons ihrer Bewegung geworden sind. Alle Orthodoxen befolgen die Trennung zwischen den Geschlechtern bis zu einem bestimmten Grad, aber die Chassidim trennen Mädchen und Jungen von klein auf. Die Lubawitscher kennen keine arrangierte Ehe, aber wie viele orthodoxe Juden verabreden sie sich nur zwecks Heirat; dabei treffen sie sich mit in Frage kommenden Ledigen, die ihnen von Eltern, Geschwistern oder Ehestiftern vorgeschlagen wurden.
Genau wie andere strikt orthodoxe Juden betrachten auch Chabad-Chassidim die Hebräische Bibel als wahr. Noach, Moses, Sara und Abraham sind keine Metaphern für korrektes Verhalten oder flüchtige historische Gestalten, sondern reale, überlebensgroße Vorfahren, von Gott geleitet, um das jüdische Volk auf seinem Weg zu führen. Lubawitscher glauben, dass das gesamte menschliche Wissen aus der Tora abgeleitet werden kann, auch die Wissenschaft. Die Welt war im Jahr 2001 tatsächlich 5. 762 Jahre alt, trotz Dinosauriern und der Theorie vom Urknall. Der gleiche allmächtige Gott, der das Universum erschuf und es in ständiger Bewegung hält, muss nicht den Regeln der Karbon-14-Datierung folgen.
Für Lubawitscher existieren keine Bezeichnungen wie Reform, Konservativ oder Orthodox. Für sie sind alle Juden eins. Die Kehrseite dieses Verständnisses ist, dass sie nicht-orthodoxe jüdische Richtungen nicht anerkennen; für Lubawitsch gibt es nur eine einzige legitime »Version« von Judentum, und das ist die als orthodox bekannte Version. Aber Chabadniks öffnen ihre Arme für nicht-orthodoxe Juden als Individuen. Für sie haben alle Juden die gleiche, von Gott gegebene Seele, und sie sind authentisch, wesenhaft und unwiderruflich jüdisch, gleichgültig, was sie glauben oder welche rituellen Praktiken sie befolgen. So wird sich ein Chabad-Schaliach vermutlich weigern, eine Reformsynagoge mit einem Reformrabbiner zu betreten, aber in seiner eigenen Synagoge wird er jedes Mitglied jener Gemeinde einschließlich des Rabbiners als vollwertiges und willkommenes Mitglied begrüßen.
Der Rebbe lehrte seine Anhänger, einen anderen Juden nie in Verlegenheit zu bringen, weil er zu wenig über das Judentum weiß, sondern ihr Wissen bescheiden und zuvorkommend weiter zu geben. Nicht praktizierende Juden mit wenig formalem Hintergrundwissen, die am Chabad-Unterricht und Gottesdiensten teilnehmen, weisen oft auf diese sofortige, bedingungs-lose Akzeptanz hin, die sich sehr von dem unterscheide, was sie in anderen orthodoxen Kreisen erlebt haben. Chabad-Schlichim stellen diesen Aspekt ihrer Annäherung an Juden gerne heraus, mit dem sie sich von der »stickigen« Welt der allgemeinen Orthodoxie abheben.
In den 1880 er Jahren brachen chassidische Juden als Teil der großen jüdischen Auswanderung nach Amerika auf, die zwischen 1881 und 1925 2,5 Millionen europäische Juden in die Neue Welt brachte. Aber die größte Anzahl an Chassidim kam in die USA, um dem Angriff der Nazis zu entfliehen oder als seine Überlebenden direkt vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als mehrere der großen chassidischen Rebben ihre Höfe von Osteuropa nach New York verlegten.
Ungleich früherer Wellen jüdischer Immigranten wollten diese orthodoxen Ankömmlinge nicht mit der vorherrschenden amerikanischen Kultur verschmelzen. Sie wollten auf den Straßen von Brooklyn die Welt wieder erschaffen, die sie verlassen hatten. In seiner maßgebenden sozio-historischen Studie Hasidic People5 merkt Jerome Mintz an, dass die »Mitglieder von Höfen, die sich einst von Bratislava bis Odessa erstreckt hatten, jetzt nur durch wenige Straßen voneinander getrennt leben«, in Williamsburg, Crown Heights und Borough Park.
B a ’ a l / B a ’ a l a t T e s c h u w a [hebr.] der / die ; -ej ~: Person, die zum Judentum zurückkehrt
An einem frischen Morgen im März des Jahres 1940 traf Rabbi Josef Jitzchak Schneersohn, der sechste Lubawitscher Rebbe, auf einem Schiff im New Yorker Hafen ein, um in Amerika einen Hof von Chabad-Lubawitsch zu gründen. Bis zu seinem Eintreffen lebten mehrere Dutzend Lubawitscher Familien in New York, daneben gab es ebenso kleine Lubawitscher Gemeinden in einigen Städten wie Detroit, Pittsburgh und Montreal. Nach der Ankunft des sechsten Rebben schwoll die Lubawitscher Bevölkerung in Amerika allmählich an, bereichert dank einer hohen Geburtenrate (Chassidim kennen keine Geburtenkontrolle, und Familien mit zehn, zwölf und sogar vierzehn Kindern sind nichts Ungewöhnliches) und dadurch, dass die Bewegung energisch um B a ’ a l e j Te s c h u w a, religiös gewordene Juden, warb.
Crown Heights war bis in die späten 1960er hinein ein jüdisches, aber nicht spezifisch Lubawitscher Stadtviertel; dann trieb die wachsende Kriminalität die Weißen in die Flucht, sodass ganze Wohnblöcke praktisch leer standen. Als einziger unter den führenden Vertretern der jüdischen Bevölkerung hielt der siebte Lubawitscher Rebbe seine Anhänger an, im Viertel zu bleiben. »Sie hielten eine Gemeinschaft am Leben, als all die anderen Juden packten und wegliefen«, sagt Malcolm Hoenlein mit offener Bewunderung. »Das war eine sehr mutige Tat.«
Heute besteht die weiße Bevölkerung von Crown Heights beinahe ausschließlich aus Lubawitschern. Die Gemeinde hielt Wohnungsmangel, Wirtschaftsflauten und verschlechterten Rassenbeziehungen stand, samt drei Tagen pogromartiger Ausschreitungen im Jahr 1991, nachdem ein afroamerikanisches Kind von einem Wagen in der Kolonne des Rebben angefahren und getötet wurde. Selbst der Tod des Rebben 1994 führte nicht zu einem Rückgang der Anhänger, deren Zahl in Crown Heights eine Zählung im Jahr 2000 bei ungefähr 11.000 Menschen ansetzte, d. h. mit einem Anstieg von siebzehn Prozent innerhalb von zehn Jahren. Außerhalb von Crown Heights gibt es in Los Angeles, Miami, Pittsburgh, Detroit, Montreal, Toronto und Chicago Lubawitscher Gemeinden mit jeweils mehreren hundert Familien sowie kleinere Gemeinden in einer Hand voll anderer Städte. Zusammen mit den Schlichim und ihren Familien, die in nicht zu Lubawitsch gehörenden Gemeinden leben, darf man eine Lubawitscher Bevölkerung von ungefähr 30.000 in den Vereinigten Staaten und vermutlich weiteren 80.000 bis 100.000 auf der ganzen Welt annehmen.
Crown Heights ist nach wie vor das emotionelle und administrative Herz der Chabad-Welt, aber seit zunehmend mehr Schlichim nach Schneersons Tod »hinausgegangen« sind, haben sich feine Veränderungen innerhalb der Bewegung aufgetan. Nach Ansicht von Lawrence Schiffman, Professor an der New York University, hat sich bei Chabad ein Wandel vollzogen, nämlich der von einer Gruppe von Chassidim, die sich um einen charismatischen Rebben scharen — das traditionelle chassidische Vorbild — zu einer Synagogenbewegung, gestützt auf ihre Philosophie und Liturgie, die eher den anderen jüdischen Hauptrichtungen gleicht, als dass sie sich von ihnen unterscheidet.
»Als der Rebbe der Rebbe wurde, war da eine Gruppe von Chassidim, die sich auf den Mann an ihrer Spitze konzentrierten«, sagt Schiffman. »Selbst als sie sich in jenen Tagen nach draußen begaben, war es doch nur eine temporäre Exkursion in eine Satellitengemeinde. Jedermann wusste, dass sie Lubawitscher waren. Heute lebt die vorherrschende Gruppe nicht mehr in Crown Heights — sie leben draußen und leiten die Einrichtungen.«
K i d d u s c h [hebr.; »Heiligung«] der: der Segen über Wein am Schabbat und an jüd. Feiertagen
Chabads Wachstum und der Erfolg bei seiner Tätigkeit draußen hängen direkt mit dem überraschenden Anstieg der amerikanischen Orthodoxie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen. In Jew vs. Jew6 schreibt Samuel Freedman, Professor für Journalistik an der Columbia University, dass in den 1930ern nur ein Drittel der amerikanischen Juden Mitglied einer Synagoge war, lediglich »ein Bruchteil« einen K i d d u s c h - Becher besaß oder koscheres Fleisch aß und außerhalb von New York City nur wenige Mikwaot, d. h. Ritualbäder, existierten. Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es gerade einmal fünf jüdische Tagesschulen für eine Bevölkerung von 3,5 Millionen amerikanischer Juden. In den gesamten 1960ern prophezeiten jüdische Schriftsteller und Soziologen zuversichtlich, orthodoxes Judentum würde das Jahrhundert nicht überdauern. Aber seit den frühen 1970er Jahren machte Amerikas orthodoxe Gemeinde ihre Autorität mit überraschender und unerwarteter Vitalität zusehends wieder geltend. Tagesschulen schossen aus dem Boden, Synagogen wurden eröffnet, immer mehr ausgewiesen säkulare Juden gingen zu Tora-Vorträgen, studierten den Talmud und aßen sogar koscher. In der gesamten amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft war eine langsame aber entschiedene Wende zu größerer jüdischer Praxis festzustellen. Innerhalb der orthodoxen Welt übernahmen junge Männer und Frauen zusehends strengere Bräuche; sie verzichteten auf Kinobesuche und hielten die N e g i ’ a -Vorschriften ein, die das Berühren von Personen des anderen Geschlechts außer dem Ehepartner und direkten Familienangehörigen untersagen. Die konservative und Reformbewegung gründeten eigene Tagesschulen, erweiterten ihr Programm für Erwachsenenbildung und sprachen zunehmend mehr von Gott.
Inwieweit Chabad zu dieser orthodoxen Renaissance beigetragen hat oder auf dieser Welle zum Erfolg getragen wurde, ist eine offene Frage. Aber zweifelsohne hat Chabad davon profitiert. Inmitten eines wachsenden Interesses für Religion sahen sich Chabad-Schlichim auf einmal in einer guten Position als die erste und manchmal einzige traditionelle jüdische Präsenz in zahlreichen amerikanischen Gemeinden. Viele amerikanische Juden, die sich selbst als nicht praktizierend betrachten, haben ein tiefes, manchmal eher diffuses Gefühl, dass ihr Chabad-Schaliach und seine Familie eine »authentischere« Form von Judentum darstellen als die liberale Version, mit der sie aufwuchsen und die sie vielleicht noch immer praktizieren.
Die Ankunft chassidischer Juden in großer Zahl in der Mitte des 20. Jahrhunderts beeinflusste sicher nach und nach die jüdische Praxis innerhalb der größeren amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft, aber auf jene orthodoxen Juden, die bereits in Amerika lebten, wirkte sie sich sofort aus. Zu Beginn des Jahrhunderts war es auch für orthodoxe jüdische Männer üblich, beim Eintreffen auf Ellis Island ihre Bärte abzurasieren und nur noch Englisch zu sprechen. Als jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg Wellen von Chassidim nach New York zogen, wurden in der Neuen Welt wieder religiöse Standards aktuell, die man seit langem ignoriert hatte. Verheiratete Frauen trugen wieder Perücken und / oder eine Kopfbedeckung. Männer ließen ihre Bärte wachsen entsprechend dem biblischen Gebot, das Gesichtshaar nicht zu zerstören. Mit Kaftan und Pelzhut für Männer und den langen Röcken und Blusen, die Hals und Arme bedecken, für Frauen unterschieden sich chassidische Juden wieder von ihren weniger praktizierenden Glaubensgenossen.
Unter den heutigen Chassidim haben Lubawitscher die modernste Kleidung. Die Männer tragen normale schwarze Anzüge, weiße Hemden, Krawatten und weiche Filzhüte, Lubawitscher Frauen zeigen zwar nicht ihre Beine, aber sie tragen auch keine dicken Strümpfe mit Nähten.
Dieser freiere Kleiderkodex lässt auf den Wunsch bei Chabad schließen, die Kluft zwischen der praktizierenden und der nicht praktizierenden Welt zu überbrücken. Hier sind Juden, die gemäß der striktesten Interpretation des jüdischen Gesetzes leben, die sich scharfen Beschränkungen in ihrem Lebensstil unterwerfen, die weder fernsehen noch ins Kino gehen und auch keine allgemeine Literatur lesen, die kaum oder geringe säkulare Bildung haben, die an jedem Wort ihres Rebben hängen, aber die — als einzige unter den C h a r e d i m — es sich trotzdem zur Aufgabe gemacht haben, in der modernen Welt zu agieren.
So vieles um Lubawitsch wirkt widersprüchlich. Sie verachten die populären Medien, aber sie unterhalten mit Chabad.org die erste und größte jüdische Website, die monatlich Millionen von Aufrufen hat. Sie reichen Menschen des anderen Geschlechts nicht die Hand, aber sie bewegen sich in höchsten Regierungskreisen. Sie machen einen Bogen um die Universität, weil Schneerson — der selbst an der Sorbonne und der Universität Berlin studierte — entschied, dass sich das Leben an einer amerikanischen Universität schädlich auf seine Anhänger auswirken könnte. Und doch jetten sie nach kürzester Ankündigung rund um die Welt und leben in den exotischsten, unjüdischsten Orten. Sie wachen eifersüchtig über ihre eigene Kaschrut, aber sie halten ihre Arme offen für Juden, die Schweinefleisch essen und am Schabbat fahren.
Der Chabad-Schaliach urteilt nicht und heißt andere Juden willkommen, während er seine eigene »authentische« Identität mithilfe strikten Befolgens des jüdischen Gesetzes bewahrt. Diese Kombination von operativer Elastizität und persönlicher Gewissenhaftigkeit kann entwaffnend sein. Rabbi David Eliezrie, Chabad-Emissär in Yorba Linda, Kalifornien, hat den ersten Kontakt einer säkularen amerikanisch-jüdischen Familie mit Chabad-Emissären in einem Artikel im Magazin Moment 1993 so beschrieben: »Plötzlich war da dieser Bursche nebenan, der wie ihr Urgroßvater aussah. Aber dieser Chassid sprach Englisch, und er wusste das Baseball- Ergebnis vom Abend zuvor.«
Es gibt keine Schule für Chabad-Schlichim. Alle Männer wurden als Rabbiner ordiniert, aber weder sie noch ihre jungen Ehefrauen hat man irgendwie formell auf ihre Tätigkeit als Emissäre vorbereitet. Und doch brechen sie nicht völlig unvorbereitet ins Blaue auf. Alle Schlichim haben als Teenager einen großen Teil ihrer Zeit als Betreuer in Ferienlagern oder als Lehrer an Chabad-Einrichtungen, oft im Ausland, verbracht. Junge Lubawitscher Männer machen während ihrer Sommer- und Winterferien die Runde in Chabad-Einrichtungen und wohnen bei Schaliach-Familien, während sie sich um andere Juden kümmern. Die älteren Mädchen stehen schon einmal ein Jahr oder länger Schlichim in einem Chabad-Haus weit weg von zu Hause zur Seite. Nachdem ein junger Chabadnik über Jahre hinweg Juden auf der Straße angesprochen oder spontan Tora-Unterricht in weit entlegenen Orten gegeben hat, hat er eine ziemlich gute Vorstellung davon, ob er bereit ist, sich ein Leben lang für eine ähnliche Arbeit zu verpflichten.
Und doch kann auch noch soviel praktische Arbeit einer Person nicht die Werkzeuge geben, die für ein effizientes Wirken unter Juden im Sinne von Chabad der Schlüssel sind: ein immer bereites Lächeln und persönlicher Charme. Um ein Schaliach zu werden, muss man aus dem richtigen Holz geschnitzt sein. Rabbi Manis Friedman, pädagogischer Leiter am Beth- Chana-Institut für Frauen in Minneapolis, erzählt die Geschichte von einem jungen hoffnungsvollen Mann, der einst zum verstorbenen Rabbi Chaim Mordechai Hodakov, Schneersons rechter Hand, kam, um sich um die Position eines Schaliachs zu bewerben. Rabbi Hodakov fragte den jungen Mann, ob er ein guter Organisator sei. Der Mann verneinte es. Sprach er die Sprache des Landes, in das man ihn schicken würde? Wieder kam ein Nein. Kannte er sich mit Buchhaltung aus, wusste er, wie man Geld sammelt, hatte er überhaupt irgendwelche besonderen Talente? Die Antwort auf all diese Fragen war ein beschämtes Nein. In dem Fall, sagte Rabbi Hodakov ihm, werde er einen guten Schaliach abgeben, denn er biete nicht irgendeine Dienstleistung an — vielmehr biete er sich selbst an. »Ein Schaliach zu sein, bedeutet, dass man, dauerhaft, auf seine persönliche Identität verzichtet«, sagt Friedman. »Er ist nicht länger eine Privatperson; er gehört dem jüdischen Volk.«
Der erste große Sprung in der Chabad-Kampagne für Juden kam Mitte der 1960er Jahre, kurz nachdem Präsident John F. Kennedy das Peace Corps (»Friedenscorps«) gegründet hatte.7 Das ist kein Zufall, sagen Chabad- Funktionäre. Beide Projekte beruhten auf dem gleichen Idealismus, auf dem gleichen Drang einer Generation junger Menschen, etwas für die Allgemeinheit tun zu wollen. Der Rebbe verlieh S c h l i c h u t als wichtigster Priorität der Bewegung 1972 zusätzliche Dringlichkeit, als er auf einer Versammlung sprach, um seinen siebzigsten Geburtstag zu feiern. Statt in Pension zu gehen, forderte Schneerson von seinen Anhängern, im kommenden Jahr 71 neue Institutionen zu gründen »und danach 200 und danach 400 und so weiter und so fort«. Sie taten genau das und noch sehr viel mehr. Wer heute um die zwanzig oder dreißig ist und in Chabad-Kreisen aufwuchs, wurde mit dem Ideal von Schlichut groß. »Wer heute in Chabad aufwächst, weiß, dass ein Schaliach zu werden, das Größte ist, was man tun kann«, sagt Shmotkin. »Wer nicht hat, was man dazu braucht, wünscht, er hätte es.«
S c h l i c h u t [hebr.] die: »Auftrag«, »Aufgabe« des Schaliach
Trotz der persönlichen Entbehrungen, die ein Auftrag als Emissär in einem entlegenen Winkel der Welt mit sich bringt, hat die Tatsache, ein Chabad- Schaliach zu sein, für diese chassidischen Jugendlichen auch bestimmte Vorteile. Sie verleiht ihnen innerhalb ihrer Gemeinde Prestige und die Gelegenheit, hinaus in die Welt zu gehen und Menschen kennenzulernen, denen die meisten Chassidim nie begegnen. »Es gibt verschiedene Ebenen, warum jemand so etwas tun möchte«, sagt Rabbi Yitzchok Loewenthal, der 1996 im Alter von 24 Jahren das erste Chabad-Zentrum in Dänemark eröffnete. »Auf der tiefsten Ebene möchte man Juden helfen. Auf einer einfacheren Ebene, weil die Arbeit aufregend ist. Sie hat viele verschiedene Facetten. Man hat mit Menschen zu tun und mit der Präsentation von Judentum an einem Ort, an dem es nicht existiert.«
»Ich empfinde es als eine große Herausforderung und sehr aufregend«, sagt Rabbi Levi Wolff, ein junger Chabadnik aus New Jersey, der 1997 nach Perth, Australien, geschickt wurde. »Ich wache jeden Morgen auf, bereit für neue Eroberungen. Wenn man mich nach meiner Tätigkeit fragt, sage ich Marketing. Für das Judentum.«
Sowohl Chabad-Kritiker als auch Chabad-Freunde sind sich darin einig, dass die Fähigkeit der Bewegung, so viele nicht praktizierende, hoch gebildete amerikanische Juden anzuziehen, größtenteils mit der Persönlichkeit der Schlichim zusammenhängt: mit ihrer Aufrichtigkeit, Intelligenz und Wärme. »Sie machen es nicht um des Geldes willen«, sagt Samuel Heilman. »Sie haben das Gefühl, Gottes Werk zu tun, und das unterscheidet sie von orthodoxen Juden. Die meisten Orthodoxen blicken nur allzu schnell auf den Rest der Welt von oben herab. Chabad-Juden sind bereit, nach dem Rest der Welt zu suchen.«
Rabbi Eric Yoffie, der Präsident der Union of American Hebrew Congregations (UAHC, »Union der amerikanisch-hebräischen Gemeinden«) kritisierte 1999 auf einem nationalen Kongress seine eigene Reformbewegung, dass sie nicht von derselben Leidenschaft und tiefen Verpflichtung beseelt sei, andere Juden erreichen zu wollen wie Chabad: »Viele, viele Juden werden Ihnen sagen, dass sich als erster ein Chabad-Rabbiner um ihr geistiges Wohl gekümmert, wirklich richtig gekümmert hat.« Warum, fragte er, können Reformjuden, deren geistige Botschaft besser auf das zeitgenössische amerikanische Leben zugeschnitten sei, nicht die gleiche Begeisterung aufbringen?
Wenngleich die Schlichim Freiwillige sind und in einem gewissen Ausmaß einer Selbstauswahl unterliegen, haben jene, die erfolgreich sind, alle die gleichen Merkmale. Haben sie diese Eigenschaften nicht, erhalten sie nicht die besten Posten — oder überhaupt keine. »Sie sind wie Teflon«, sagt Ari Goldman, Professor für Journalistik an der Columbia University, der in den späten 1980ern und frühen 1990ern als Religionsredakteur der New York Times über Chabad schrieb. »Man bringt es kaum fertig, dass Kritik an ihnen hängen bleibt. Die meisten Juden haben in ihren Herzen eine schwache Stelle für sie.«
Alan Dershowitz, Jura-Professor an der Harvard University und Berater des Chabad-Hauses auf dem Campus, merkt an, dass sogar Juden, die behaupten, sie mögen Chabad nicht, ihren Chabad-Schaliach vor Ort mit Lob überschütten, so, als seien die beiden nicht miteinander verwandt.
Sicher, Chabads Wachstum während der letzten dreißig Jahre hat viel damit zu tun, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Ihre geistigen Lehren und öffentlichen Auftritte klangen einer ganzen Generation junger Amerikaner echt, und sie reagierten positiv auf genau die direkten Ausdrücke jüdischen Stolzes, die die Generation ihrer Eltern so sehr in Verlegenheit gebracht hatten. »Chabad macht Dinge, an die sich keiner sonst heranwagt«, sagt Beth Preminger, die erst kurz zuvor ihren Abschluss an der Harvard University gemacht hat. Zwar habe sie vier Jahre lang im Hillel-Haus auf dem Universitätsgelände gegessen, aber sie habe immer wieder an Chabad-Aktivitäten teilgenommen. »Hillel hat ein riesiges, 8 Millionen teures Gebäude, aber es gibt Unmengen von Jugendlichen, die zu eingeschüchtert sind, um es zu betreten«, erklärt sie. »Wenn man dagegen am Schabbat zum Abendessen zu Chabad geht, fühlt man sich sehr heimisch. Man fühlt sich geistig angesprochen. Sie heißen jeden willkommen, aber sie bieten eine ganz bestimmte Richtung an.«
In einer Welt, die an moralischer Beliebigkeit leidet, reagieren viele amerikanische Juden auf die Sicherheit, die ihnen Chabads Vision bietet. »Es gibt hier ein universales menschliches Element«, meint Manis Friedman. »Wir leben in einer von Zweifeln zerrissenen Gesellschaft. Manchmal feiern wir es — wer zweifelt, gilt als gebildet. Andererseits demoralisiert es uns. Begegnet man einem Schaliach, sieht man als Erstes, dass es keine Zweifel gibt. Der Schaliach lebt nicht in zwei Welten — für die Menschen ist das sehr anziehend, aber auch beängstigend.«
Rabbi Moshe Feller sagt, als er 1958 seinen Posten als Chabad-Emissär in Minneapolis antrat, sei es nicht üblich gewesen, im amerikanischen jüdischen Dialog von Gott zu sprechen. Er erinnert sich an eine Begegnung mit einem konservativen Rabbiner, den Fellers Behauptung störte, den konservativen und Reformschulen jener Zeit gelinge es nicht, Kindern jüdische Identität zu vermitteln. »Er fragte mich: ›Rabbi Feller, wie können Sie so sicher sein, dass es einen Gott gibt?‹ Ich antwortete: ›Rabbi, wenn das Ihre Einstellung ist, warum sitzen Sie dann im Rabbinat?‹ Für uns Chassidim ist die Beziehung zu Gott eine tägliche Realität. Unser Job als Schlichim ist es, totale Verpflichtung und Sicherheit über die Tora und die Mizwot auszustrahlen. Darin liegt der Erfolg von Lubawitsch — in unserer Aufrichtigkeit, nicht in unserem Wissen über englische Grammatik und Literatur.«
Juden, die ein neues Schaliach-Paar in ihrer Gemeinde feindselig begrüßen, halten die Neuankömmlinge möglicherweise für erfahrene Missionare, unterstützt von einer gut gepolsterten religiösen Organisation. Dabei vergessen sie oder wollen es nicht wahrhaben, dass die Schlichim wirkliche Menschen sind — sehr junge Menschen, meistens noch dazu frisch verheiratete —, die ihr Zuhause und ihr vertrautes Leben aufgegeben haben, um an einem fremden Ort zu leben, ohne Freunde oder Familie, die verwirrt und einsam sind und sich ein wenig wie Tiere in einem Zoo vorkommen. Wird man sie akzeptieren? Werden ihre Kinder Freunde finden? Denken die Menschen, sie seien auf den Kopf gefallen?
Rabbi Berel Levertov, der 1996 im Alter von siebenundzwanzig Jahren das Chabad-Zentrum in Santa Fe, New Mexico, eröffnete, sagt, die kleine jüdische Gemeinde habe bei seiner Ankunft misstrauisch reagiert. »Orthodoxer schwarzer Hut, Sie wissen schon«, bemerkt er mit einem ironischen Lächeln. Er versuchte, die Verlegenheit zu überwinden, indem er Juden zum Schabbat zu sich einlud. Viele lehnten die Einladung ab. »Einige haben das Gefühl, dass traditionelles Judentum nichts für sie ist. Aber tief in ihrem Inneren sehnen sie sich genau danach. Ganz allmählich ändert sich die Einstellung dieser Menschen, sodass sie sich wohler mit uns fühlen.«
Feindseligkeit gegenüber Chabad rührt zu einem großen Teil vermutlich von der Annahme her, die Bewegung habe in Wirklichkeit vor, den Rest der jüdischen Welt zu ihrer Lebensweise zu bekehren. »Nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein«, betont Rabbi Yehuda Krinsky, Generalsekretär von drei wichtigen Chabad-Einrichtungen und der Mann, der an der Spitze der Verwaltung der Bewegung steht. Die Bewegung sehe ihre Aufgabe darin, sagen die Schlichim, andere Juden im Judentum zu unterrichten in der Hoffnung, damit ihr schlummerndes jüdisches Bewusstsein zu wecken, sodass sie ganz natürlich anfangen, die Mizwot einzuhalten. Denn gemäß Chabad kommt jedes Mal, wenn ein Jude eine Mizwa erfüllt, die Welt dem messianischen Zeitalter einen Schritt näher.
»Wir versuchen nicht, die Menschen dazu zu bringen, wie wir zu leben«, sagt Rabbi Loewenthal. »Ich sage den Menschen nicht: Tragt dunkle Anzüge oder tut dieses oder jenes. Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, hier Anhänger für Lubawitsch zu gewinnen. Das hat uns der Rebbe nicht gelehrt. Jeder Mensch sollte in seinem eigenen Tempo auf sein Judentum zugehen. Jeder Schritt ist von Wert, er ist nicht nur einfach Mittel zu einem Zweck.«
Unaufrichtig? Ein bisschen, vielleicht. Wie Krinsky eingesteht: »Ich will damit nicht sagen, dass das Niveau von Observanz eines Juden irrelevant ist, Gott behüte. Aber ich glaube daran, dass, ist einmal die Verbindung hergestellt, auch jene, die noch nicht praktizierend sind, schließlich die Schönheit erkennen können, die ein Leben gemäß der Tora bietet.«
Chabad wird sich auch weiterhin in der jüdischen Arena, sowohl in Amerika als auch weltweit, ausbreiten, zumindest in der absehbaren Zukunft. Chabad-Schulen verabschieden auch weiterhin jedes Jahr Hunderte neuer Absolventen, die eifrig darauf bedacht und auch fähig sind, die Revolution ihres Rebben weiterzuführen. Schneersons Tod hat die Bewegung und ihre Anhänger zutiefst getroffen, aber ihre Begeisterung für die Aufgabe, die er ihnen auftrug, hält unvermindert an. »Dieses Phänomen kann man nicht erklären«, sagt Moshe Kotlarsky. »Die Lehren des Rebben sind dermaßen tief in den Menschen verwurzelt, dass täglich mehr bereit sind, ihre Aufgabe in entlegenen Orten mit weniger Erwartungen als je zuvor anzutreten. Soeben hat mich ein Bursche angerufen. Er möchte nach Zypern. Stellen Sie sich vor: Er ist bereit, Crown Heights zu verlassen und den Rest seines Lebens auf Zypern zu verbringen!«
1999 brachte die Jewish Educational Media (Medien für jüdische Bildung) von Chabad ein Video heraus, das die 312 Schaliach-Paare vorstellte, die in jenem Jahr neue Posten antraten. Das Video beginnt mit Aufnahmen von Flugzeugen, die auf den Pisten landen und abheben, von Familien, die sich in überfüllten Terminals voneinander verabschieden, von Taxis, die Stöße von Umzugkartons an Straßenecken in Crown Heights einsammeln. Das so vermittelte Bild spricht von grenzenloser Energie, von einer nicht aufzuhaltenden Bewegung: Wir kommen, und wir kommen schnell. Und die Kommentare, die die jungen Schlichim, alle Anfang bis Mitte zwanzig, selbst dazu abgeben, sind bezeichnend.
»Wir haben, während wir groß wurden, das enorme Anwachsen der Zahl von Schlichim erlebt, von Menschen, die an all diese unterschiedlichen Orte gehen; das hat uns so gewaltig inspiriert, dass wir unser Leben in den Dienst anderer Menschen stellen möchten«, sagt der frisch ordinierte Sholom Ber Rodal. Er ist unterwegs nach Kalifornien, wo er ein Chabad- Zentrum gründen wird. Eine frisch verheiratete S c h l i c h a, die vor ihrem Haus in Brooklyn mitten unter ihren Koffern steht, wirft ein: »Es ist soviel leichter, hier in Crown Heights zu bleiben und ein sehr gutes Leben zu haben, inmitten all der Jüdischkeit; aber wir möchten andere näher an diese Jüdischkeit heranführen. Dazu hat man uns erzogen.«
Diese jungen Schlichim thematisieren auch ihre Ängste. Rabbi Zajac, auf dem Weg zu seinem lebenslangen Posten in Wellington, Neuseeland, gesteht ein, das Schwierigste an seinem bevorstehenden Schritt sei das Wissen, dass er und seine Frau zwei Familien, die bereits durch jahrzehntelange Schlichut physisch auseinander gerissen sind, noch stärker aufsplittern. »Meine Eltern sind in Brasilien, und die Eltern meiner Frau sind in London«, sagt er, fügt aber schnell hinzu: »Aber sie unterstützen uns dabei, das Werk des Rebben zu tun.« Mendel Zarchi, aufgebrochen, um mit seiner Frau Rochel ein neues Chabad-Zentrum in Puerto Rico zu gründen, sagt aufrichtig: »Wenn Sie mich fragen, ob ich die Kraft hätte, diese Reise auf mich allein gestellt anzutreten, muss ich antworten: Ich weiß es nicht. Aber der Rebbe ist bei uns und gibt uns die Kraft zum Vorwärtsgehen.«
Die Paare nehmen ihre Koffer, ihre Babys und ihre jüdischen Bücher und brechen auf zu unbekannten neuen Städten, die sie bald ihre Heimat nennen werden. Vielleicht können sie nicht die Sprache. Sie ziehen möglicherweise um die halbe Welt, weg von Eltern und Geschwistern. Aber, wie der frisch verheiratete Mendy Vogel, mit seiner Frau Sarah unterwegs nach Dallas, Texas, sagt: »Das ist die lohnendste Aufgabe. Denn man weiß, man verändert das Leben anderer für immer.«