Auf dem Lubawitscher Teil des Old Montefiore Cemetery in Queens, New York, steht ein schlichtes, sechs Quadratmeter großes Mausoleum aus Granit. Eine einfache Tür führt in ein dunkles, von Kerzen erhelltes Foyer. Auf Regalen entlang den Wänden des Raums stehen abgegriffene Psalmund Gebetbücher in mehreren Sprachen. Das Foyer hat zwei Ausgänge — einen für Männer und einen für Frauen —, die auf einen von Kieseln gesäumten Platz in der Mitte unter freiem Himmel führen. Und an diesem Platz, neben dem Grab seines Schwiegervaters, des sechsten Lubawitscher Rebben, liegen die sterblichen Überreste des siebten und letzten Lubawitscher Rebben Menachem Mendel Schneerson.
Als der Rebbe am 12. Juni 1994 im Alter von zweiundneunzig Jahren starb, machte seine Beisetzung Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Die New York Times berichtete ausführlich vom Ableben dieses Oberhauptes einer orthodoxen Gruppe aus Brooklyn. CNN sendete den Beerdigungszug live: Tausende von schwarz behüteten Trauernden drängten sich auf dem Eastern Parkway in seiner gesamten Länge, weinten, schrieen und streckten sich, um den einfachen Kiefernsarg ihres geliebten Rebben zu berühren, als er an ihnen vorbeizog. Seit dem Tag seiner Beerdigung ist der Rebbe, im Tod mehr noch als im Leben, nie allein gewesen. So wie Tausende von Besuchern jeden Sonntag zu seinem Hauptquartier in Crown Heights gezogen kamen, ihn um Rat und seinen Segen baten, strömen jetzt seine Anhänger, zusammen mit den einfach Neugierigen, zu seinem Grab, um seinen Schutz zu suchen, um ihn um seine Gunst anzuflehen oder auch, wie sie sagen, nur, um in der Gegenwart von Heiligem zu sein.
Die chassidische Philosophie lehrt, dass die Seele eines Verstorbenen bis zur Ankunft des Messias und dem anschließenden Einsammeln der auferstandenen Toten in Israel bei seinem Grab schwebt. Das gilt in einem weitaus stärkeren Maß für einen Z a d d i k, oder »Gerechten«, dessen Seele gemäß der jüdischen mystischen Tradition eine besonders enge physische Verbundenheit zum toten Körper, den sie bewohnte, beibehält. Der Wunsch des Chassids, seinem Rebben physisch nahe zu sein, hält nach dessen Tod an und erfordert häufige Wallfahrten zu den Gräbern verstorbener Zaddikim.
Z a d d i k [hebr.; »Gerechter«] der; -im: moralisch herausragende Person
Wochenlang nach Schneersons Tod zogen täglich Tausende von Trauernden an das frische Grab. Dutzende von Jeschiwa-Jungen blieben rund um die Uhr und schliefen ein paar Stunden, an die Granitwände gelehnt oder niedergesunken auf dem harten Boden, unwillig, auf die Gegenwart ihres Rebben zu verzichten, und sei es auch noch so kurz. Chassidim kamen mit dem Flugzeug aus der ganzen Welt herbei, um am Grab Psalmen zu sagen und ihre Herzen auszuschütten. Einige davon, insbesondere aus Israel, kauften für den Tag der Beisetzung nur Einwegtickets, überzeugt, dass sie schon bald zusammen mit dem Messias ins Gelobte Land zurückkehren würden. Offensichtlich glaubten sie, die Endzeit sei gekommen.
Gegen Ende jenes ersten Sommers ging die Zahl der Besucher zurück, aber acht Jahre später kommen noch immer täglich Hunderte von Menschen, sei es Sommer oder Winter, Frühling oder Herbst. Vor jüdischen Feiertagen ist es auf dem Friedhof so voll wie an dem Tag, an dem Schneerson beerdigt wurde. Chabad-Funktionäre und -Schlichim, die den Rebben in seinem Büro aufsuchten, um ihre Berichte abzugeben, machen jetzt die gleiche Wallfahrt zu seinem Grab. Sie stehen mit gesenkten Köpfen am Grab, berichten ihre guten Nachrichten und warten auf den Segen ihres Anführers. Mehr als 40.000 Chabad-Chassidim kamen im Juni 2001 zur Jahrzeit des Rebben, seinem siebten Todestag, und standen stundenlang Schlange, um das Mausoleum zu betreten und einige kurze Momente in seiner Gegenwart zu verbringen.
»Am O h e l fühlt man sich geleitet und unterstützt, man spürt die Verbundenheit «, sagt Shternie Notik, eine Chabad-Schlicha in Chicago, und verwendet dabei das hebräische Wort für ›Zelt‹, mit dem Chassidim das Grab eines Rebben bezeichnen. »Ich wünsche mir, es gäbe einen anderen Weg als diesen Besuch an seinem Grab. Aber das ändert nichts an der Verbindung, sie wird in keiner Weise unterbrochen oder verringert. Wenn man geht, fühlt man sich wie neu belebt und mit Kraft versehen. Selbst heute bekommen wir vom Rebben sehr viel mehr zurück, als wir ihm geben.«
Das Grab des Rebben zieht auch viele Nicht-Lubawitscher an. Die Wallfahrer kommen: Juden und Nichtjuden, regelmäßige Besucher aus Brooklyn und Familien auf ihrem ersten Besuch der Vereinigten Staaten. Schwangere Frauen kommen, um für gesunde Babys zu beten. Verlobte erbitten den Segen des Rebben für ihre Ehe. Ältere Männer flehen ihn an um den Erhalt ihrer Gesundheit. Junge Mädchen kommen, um um einen Ehemann zu beten. Sie schreiben ihre Hoffnungen und Träume auf kleine Papierzettel, die sie in Streifen reißen und auf das Grab streuen. Wer nicht persönlich kommen kann, schickt seine Bitten per Fax oder E-Mail; es sind täglich Hunderte. Auch diese Botschaften werden ausgedruckt und und auf den riesigen Papierberg gelegt, der stets das Grab des Rebben bedeckt, eine Decke von Seufzern und Tränen.
Wer ist dieser Mann, der noch im Grab zu soviel Ergebenheit inspiriert? Wer war Menachem Mendel Schneerson, den seine Anhänger den Moses seiner Generation nannten, den Mann an der Spitze des jüdischen Volkes, der Mann, von dem einige sagten, er sei der Messias?
Der Einflussbereich des Rebben war außergewöhnlich, das Ausmaß seiner Lehre und Tätigkeit atemberaubend. Er war ein Tora-Gelehrter, und seine Kommentare füllen mehr als zweihundert veröffentlichte Bände. Er war unablässig tätig, sei es, dass er sich mit Bittstellern in Privataudienzen traf, die oft bis zum Morgengrauen dauerten, oder ob er jeden Sonntag stundenlang auf den Beinen war, um Segen und Dollarnoten an die Tausenden von Menschen zu verteilen, die sich vor seinem Büro versammelten, oder sei es, dass er Chabads Aktivitäten auf der ganzen Welt leitete. Er hielt die Zügel seiner Bewegung knapp und übte seinen beträchtlichen Einfluss auf das geringste Detail jeder einzelnen Kampagne, jedes veröffentlichten Werkes, auf alles, was seinen Namen trug, aus. Er konnte praktische Ratschläge zu den intimsten Problemen eines Menschen geben und im nächsten Augenblick die Juden in Israel ermahnen, während des Golfkriegs nicht davonzulaufen, denn Saddam Husseins Scud-Raketen würden keinen Israeli töten. Er beantwortete jedes Monat Tausende von Briefen und teilte seine sorgfältig erwogene Philosophie und Weltansicht Kindern ebenso wie Politikern auf der Weltbühne mit. Er fühlte sich zutiefst dazu verpflichtet, die Flammen des Judentums in der Sowjetunion zu bewahren, und vierzig Jahre lang unterstützte er heimlich jüdische Untergrundbewegungen in diesem Land. Er stellte Chabads weltweites Netz von Schlichim auf die Beine und baute dabei auf dem Fundament auf, das sein Schwiegervater gelegt hatte, und er überwachte persönlich die täglichen Unternehmungen dieses Netzwerkes. Er sprach sechs Sprachen fließend und kam leidlich in mehreren anderen zurecht. Er liebte leidenschaftlich Kinder, hatte aber selbst keine.
Die politische Schlagkraft des Rebben war fühlbar von Crown Heights, wo sich sein Hauptquartier befand, dessen Besuch für jeden politischen Kandidaten in New York City ein Muss war, bis nach Israel, wo er die wichtigsten Wahlen beeinflusste, obwohl er das Land nie betreten hat. Außer für häufige Besuche am Grab seines Schwiegervaters in Queens verließ der Rebbe während der letzten dreißig Jahre seines Lebens Crown Heights nie. Präsidenten, Senatoren, Ministerpräsidenten, Geschäftsmogule und Berühmtheiten, sie alle kamen zu ihm, nie umgekehrt.
Schneerson inspirierte Bewunderung an den unwahrscheinlichsten Plätzen. Und im Chabad-Hauptquartier hat man dieses Lob, seien es schriftliche Zeugnisse oder Filme, fleißig gesammelt.
Jeder US-amerikanische Präsident seit Richard Nixon hat Schneerson geehrt und Erklärungen zu seinen Ehren unterzeichnet. Mehrere korrespondierten mit ihm persönlich. Bill Clinton schickte an dem Tag, an dem Schneerson starb, einen Kondolenzbrief ans Lubawitscher Hauptquartier, in dem er ihn »einen monumentalen Mann« nannte, der »mehr als jeder andere Einzelne im Verlauf der letzten fünfzig Jahre verantwortlich dafür war, die Lehre von Ethik und Moral unter unseren jungen Menschen zu fördern.«
Politiker, die Schneerson von Angesicht zu Angesicht begegneten, gingen, selbst wenn sie ihm politisch nicht zustimmten, von ihren Treffen zutiefst bewegt davon. »Die Augen des Rabbiners haben mich am meisten beeindruckt, diese blauen, durchdringenden Augen, die Weisheit und tiefen Einblick ausdrücken«, sagte der ehemalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin, dessen Arbeitspartei eine betäubende Niederlage erlitt, als durch das Eingreifen des Rebben sein Versuch einer Koalition 1990 zunichte gemacht wurde. Aber das beeinträchtigte nicht Rabins Bewunderung für den Mann selbst. »Ich fühlte mich erhoben und inspiriert, einem führenden Mann des jüdischen Volks begegnet zu sein.«
Die ehemalige englische Ministerpräsidentin Margaret Thatcher spricht bewegt von der Ehre, die die Welt Schneerson erweisen sollte für »die Arbeit, die er getan hat; für das Vorbild, das er uns vorgelebt hat, und die Inspiration, die viele, viele Menschen ihm verdanken.« Der ehemalige Senator von New York Alfonse D’Amato und der ehemalige Sprecher des US-Repräsentantenhauses Newt Gingrich gehören zu den Dutzenden von amerikanischen Politikern, die mit Ehrfurcht und Zuneigung von ihm sprechen. Führende israelische Politiker wie Zalman Shazar, Menachem Begin, Benjamin Netanyahu, Shimon Peres und Ariel Sharon haben zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Karriere Crown Heights einen Besuch abgestattet. Begin machte 1979 auf seinem Weg nach Camp David zu den Friedensgesprächen dort Halt. Netanyahu suchte Schneersons Grab 1996 kurz vor Rosch haSchana auf und nannte ihn einen »großartigen Lehrer, einen großartigen Heiler, der mir als eine sichere Quelle der Inspiration gedient hat«.
J e c h i d u t [hebr.]: private Zusammenkunft mit einem chassidischen Rebben
Joseph Lieberman, Senator von Connecticut, tritt häufig als Hauptredner bei Lubawitscher Veranstaltungen auf, und er bewundert uneingeschränkt die Arbeit des verstorbenen Rebben zur Förderung von Erziehung und Outreach. »Meine kostbarste Erinnerung gilt den Augenblicken, in denen ich das große Glück hatte, beim Rebben sein, ihn unterrichten hören zu dürfen, ihn um Rat zu bitten und in den Genuss seiner geistigen Führung zu kommen«, sagte Lieberman bei einem Chabad-Dinner in Washington, D. C. »Der Rebbe ist eine ungewöhnliche, andere inspirierende Führungspersönlichkeit, der die Traditionen unseres Volkes, die Freuden, jüdisch zu sein, nahm und sie in einem sehr modernen Kontext in ganz Amerika und auf der Welt verbreitete.«
Auch der Nobelpreisträger Elie Wiesel spricht oft auf Chabad-Veranstaltungen, die das Gedenken des Rebben ehren. Wiesel hat jahrzehntelang mit Schneerson korrespondiert und hatte mehrere private Termine, oder J e c h i d u t, mit ihm. Wie die meisten anderen Menschen, die den Rebben privat getroffen haben, gibt Wiesel nicht preis, was genau der Rebbe ihm bei diesen Begegnungen sagte, aber er spricht häufig von dem Einfluss, den sie auf ihn ausgeübt haben:
»Ich kenne niemanden, der vom Rebben, sei es auch nach nur einem Augenblick von Jechidut, fortging, ohne dass er durch diese Begegnung zutiefst berührt, wenn nicht gar verändert wurde … I n seiner Gegenwart hat die Zeit ein anderes Tempo. Man fühlt sich inspiriert, man fühlt sich selbst auf dem Prüfstand, man macht sich Gedanken und beginnt mit der Sinnsuche. In seiner Gegenwart kommt man näher in Berührung mit dem eigenen inneren Schwerpunkt … Wann immer ich den Rebben sah, er hat die Tiefen in mir angerührt. Das gilt für jeden, der den Rebben sah. Jeder, der von ihm fortging, hatte das Gefühl, tiefergehend und gleichzeitig höher gelebt zu haben.«1
Eine persönliche Begegnung mit Schneerson wirkte sich so eindringlich aus, dass einige sie fürchteten. Der verstorbene Chaim Potok, der die chassidische Welt von Brooklyn in den 1940ern in The Chosen verewigt hat, gestand Ted Koppel in einem Interview, das er ihm 1991 für Nightline gab, er habe eine private Zusammenkunft mit dem Rebben abgelehnt. »Es gibt etwas um ihn, das buchstäblich unbeschreibbar ist, das man erlebt haben muss, und das einer der Gründe dafür ist, dass ich immer gezögert habe, im gleichen Raum mit ihm zu sein«, gestand Potok. »Ich habe Angst, dass meine Objektivität von diesem charismatischen Mann geschluckt und überwältigt wird.«
Niemand lobt den Rebben beredter als Dr. Jonathan Sacks, der Oberrabbiner von Großbritannien, der Schneerson das Verdienst zuschreibt, ihm den Anstoß zu seiner Laufbahn als Rabbiner gegeben zu haben. In einer Gedenkstunde kurz nach Schneersons Tod sagte Rabbi Sacks: »Unter den größten führenden Juden in der Vergangenheit haben einige Gemeinschaften verändert. Andere haben viele Anhänger um sich gesammelt; wieder andere haben uns Kodizes und Kommentare hinterlassen, die bis in alle Zeit studiert werden. Aber es hat wohl nur wenige in der gesamten Geschichte eines der ältesten Völker der Welt gegeben, die während ihres Lebens die gesamte jüdische Welt beeinflusst haben … Der Rebbe gehörte zu diesen Unsterblichen.«
Wie ist es Schneerson gelungen, so viele Menschen selbst über seinen Tod hinaus anzuziehen? Das faszinierte Hershel Shanks, den Redakteur des Magazins Moment, als er im Juni 1995 zu einem Forum in Washington, D. C., geladen wurde, auf dem Schneerson posthum die Goldmedaille des Kongresses verliehen wurde, dem ersten führenden religiösen Oberhaupt, dem diese höchste zivile Auszeichnung zuteil wurde. Shanks sagt, er sei zu der Veranstaltung mehr als skeptisch gekommen, sei aber, als er ging, zutiefst berührt gewesen. Als Shanks später in jenem Jahr in Moment darüber schrieb, erklärte er: »Was am Rebben so bemerkenswert ist … waren nicht nur seine Brillanz, seine Gelehrsamkeit, seine Weisheit, wenngleich er offensichtlich das alles besaß, sondern die Kraft seiner Persönlichkeit. Er motivierte Menschen. Er brachte das Beste in ihnen heraus. Dieser Aufgabe — Juden zu besseren Juden zu machen — widmete er sein ganzes Selbst, sodass wir alle fühlten, wir wurden in Gottes Ebenbild erschaffen.«2
C h e d e r [hebr.] der ; Chadarim: jüd.-trad. Schule bis zur Bar Mizwa
Nach dem Tod des Rebben wirkten die Äußerungen von Trauer und das überschwängliche Lob, mit dem die Weltpresse ihn überschüttete, beinahe verdächtig. Die Superlative erstickten einander förmlich. Doch es gab auch Kritiker des Rebben. Er entzündete eine Kontroverse, weil er sich gegen religiösen Pluralismus stellte; ebenso wegen seiner aggressiven Kampagnen, um Juden zu erreichen, und wegen des Persönlichkeitskults, der sich schon zu seinen Lebzeiten um ihn entwickelt hatte und über seinen Tod hinaus anhielt. In einem Interview Mitte der 1990er sprach Potok von seinen widersprüchlichen Gefühlen: »Im Hinblick auf seine Persönlichkeit hat er einen fundamentalen Beitrag zum Judentum geleistet. Im Hinblick auf seinen Fundamentalismus in bestimmten Standpunkten, die er insbesondere in Bezug auf Israel einnahm, ist es ihm beinahe gelungen, das jüdische Volk zu spalten. Man muss sehr aufrichtig über das Gute und das Nicht-so-Gute sprechen, wenn man sich mit einem sehr großen Mann befasst.«3
Menachem Mendel Schneerson wurde am 18. April 1902 in der ukrainischen Stadt Nikolajev als Erbe herausragender chassidischer Vorfahren geboren. Er wurde nach seinem Urururgroßvater, dem dritten Lubawitscher Rebben, benannt. Sein Vater war ein führender Rabbiner und Kabbalist, seine Mutter entstammte ebenfalls einer langen Linie angesehener Rabbiner.
Nur wenig ist über das Leben des Rebben bekannt, bevor er 1951 die Führung der Chabad-Bewegung übernahm. Wie bei so vielen weltbekannten Persönlichkeiten ist auch Schneersons Kindheit in sagenhaftes Dunkel gehüllt. Man sagt, er sei ein Tora-Wunderkind gewesen, der im Alter von elf Jahren schon den C h e d e r verlassen musste, weil er bereits damals seine Lehrer übertroffen habe. Die wenigen Geschichten, die über ihn im Umlauf sind, heben seine Freundlichkeit und seine überwältigende Fürsorge für andere hervor. Als er drei Jahre alt war, heißt es in einer Anekdote, und er sich mit Dutzenden anderer Juden vor plündernden Kosaken in einem Keller in der Nähe seines Elternhauses verbarg, ging er im abgedunkelten Raum umher und tröstete schreiende Kleinkinder, indem er ihnen Süßigkeiten gab und ihre Köpfe streichelte. Im Alter von neun Jahren, heißt es weiter, tauchte er in das Schwarze Meer, um einen ertrinkenden Jungen zu retten.
Ob diese Geschichten nun stimmen oder nicht, ist vielleicht weniger wichtig als ihr Nachdruck auf Eigenschaften, die Schneerson später tatsächlich verkörperte. Es gibt Tausende von Menschen, die noch heute leben und die Schneersons Großzügigkeit des Geistes, die Sorge um die Menschheit und seine ungeheure Tora-Kenntnis bezeugen können. 1923 begegnete Schneerson dem sechsten Lubawitscher Rebben, einem entfernten Verwandten, und beteiligte sich an seinen Bemühungen, im Untergrund jüdisches Leben in der Sowjetunion zu bewahren; er hat sich bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion siebzig Jahre später voll für diese Arbeit engagiert. 1927 folgte Schneerson dem sechsten Rebben nach Lettland, und im Jahr darauf heiratete er die zweite Tochter seines Mentors, Chaya Mushka. Das Paar ging nach Berlin, wo Schneerson bis zu Hitlers Machtantritt 1933 Philosophie und Mathematik an der Universität Berlin studierte. Danach zogen sie nach Paris, wo er an der Sorbonne und der École Polytechnique studierte. Als Deutschland 1940 Frankreich besetzte, flohen die Schneersons erst nach Nizza und danach, 1941, nach New York, wohin der sechste Rebbe im Jahr davor das Chabad-Hauptquartier verlegt hatte.
In New York arbeitete Schneerson kurz beim Brooklyn Navy Yard, während er gleichzeitig drei neue Chabad-Einrichtungen leitete: Merkos L’Inyonei Chinuch, die Erziehungsabteilung von Chabad, Machne Israel, die Abteilung für soziale Dienstleistungen der Bewegung, und Kehot Publication Society, einen Verlag. Er kehrte nur noch einmal, 1947, nach Europa zurück, um seine Mutter nach Brooklyn zu holen, die fortan bei ihm lebte. Sein Vater war 1944 nach brutaler Behandlung in einem Sowjetgefängnis gestorben; seinen Bruder hatten die Nazis ermordet. Als der sechste Rebbe 1950 starb, betrachteten die meisten Lubawitscher Schneerson als den offensichtlichen Erben der Lubawitscher Dynastie, aber er zögerte, dieses Amt anzutreten. Er war von seinem verstorbenen Schwiegervater nicht öffentlich dazu ernannt worden. Inoffiziell übernahm er dennoch die Funktion des Rebben der Bewegung, bis er auch formell den Mantel akzeptierte, den ihm seine Chassidim im Januar 1951 antrugen.
Von jenem Tag an im Jahr 1951 bis zu seinem Tod dreiundvierzig Jahre später stand Schneerson unablässig im Blickpunkt der Öffentlichkeit, dennoch umgab er sein persönliches Leben mit einer undurchdringlichen Mauer. Dieses Leben fand größtenteils hinter verschlossenen Türen in einem drei mal vier Meter großen, holzgetäfelten Büro auf dem Eastern Parkway 770 statt, das als »des Rebben Raum« bekannt wurde. Dort verbrachte er im Allgemeinen seine Tage mit Schreiben, Beten und Studieren und seinen nächtlichen Treffen mit seinen Anhängern. Bis in seine letzten Jahre hinein ging er dann spät nachts nach Hause, in der Hand eine Einkaufstüte aus braunem Papier, gefüllt mit Briefen, die zu beantworten waren, und Papieren, die redigiert werden mussten, und die er früh am Morgen darauf zurück in sein Büro brachte. Er hatte keine Vertrauten außer seiner Frau, die 1988 starb. Niemand unter seinen Anhängern, nicht einmal die ihm am nächsten Stehenden, konnte sagen, er hätte ihn wirklich gekannt.
Yehuda Krinsky arbeitete tagtäglich an der Seite des Rebben, seit 1957 bis zu seinem Tod. Er war der persönliche Fahrer des Rebben und verbrachte viele Stunden allein mit ihm, und doch gesteht Krinsky, er habe den Rebben überhaupt nicht gekannt. »Je mehr Zeit man mit ihm verbrachte, desto schwieriger ist es, ihn zu beschreiben«, sagt Krinsky. »Der Rebbe hatte kein Privatleben. Ich denke nicht, dass es seit der Zeit, als er Rebbe wurde, einen Moment gegeben hat, in dem nicht sein ganzes Leben unter dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit stand. Selbst wenn er bei sich zu Hause war, schlichen sich immer diese Burschen um das Haus um zu sehen, wo das Licht anging, und wo es ausging oder in welchem Raum er sich gerade aufhielt.«
Der Rebbe fühlte sich bei dieser Art von Verherrlichung mehr als unwohl. »Es brachte ihn immer wieder aus der Fassung, wenn B o c h e r im draußen auf dem Eastern Parkway 770 auf ihn warteten, wenn er nach Hause ging«, sagt Zalman Shmotkin. »Er warf uns einen scharfen Blick zu, als wolle er sagen: Was macht ihr hier? Warum studiert ihr nicht? Mehr als einmal drohte er, nicht mehr in die Synagoge zu kommen, wenn die Menschen ihm beim Beten zuschauten.«
Der Rebbe hörte sich die intimsten Details aus dem Leben seiner Anhänger an, aber er verriet keine eigenen, und niemand wagte es, ihn zu fragen. Er war, erklärt Krinsky, der einsamste Mann auf der Welt. Chabad-Chassidim erzählen, einst sei ein Chassid zu einem Termin mit dem Rebben gekommen und der Rebbe habe seine Hand ausgestreckt, aber der Besucher habe seine zurückgezogen aus Angst, seinen verehrten Rebben zu berühren. Dieser seufzte, nahm langsam seine Hand herunter, schüttelte seinen Kopf und fragte ruhig: »Auch du?«
S i m c h a t To r a [hebr.; »Tora-Freude«]: an diesem Tag geht der jährliche Tora-Lesezyklus zu Ende und beginnt sofort von Neuem
Lubawitscher schreiben ihrem Rebben eine beinahe übermenschliche körperliche Ausdauer zu. Er erlitt seinen ersten großen Herzinfarkt 1978 mitten beim Gottesdienst an S i m c h a t To r a, aber er unterdrückte den Schmerz bis zum Ende des Gottesdienstes, um nicht die Freude an jenem Abend zu dämpfen. Wenngleich ihn seine schlechte Gesundheit zwang, nach 1981 seine Privataudienzen einzuschränken, führte er 1986 die Praxis mit den »Sonntag-Dollars« ein, wobei er einmal in der Woche sieben oder acht Stunden lang in einer Nische vor seinem Büro stand und nacheinander Tausende von Besuchern empfing, mit jedem kurz sprach, bevor er ihm einen knisternden Dollarschein reichte, den der Empfänger spenden sollte. Er behielt diese wöchentlichen Empfänge bei, bis ihn im März 1992 ein Infarkt niederstreckte; damals war er beinahe neunzig Jahre alt. Als man ihn fragte, wie er die Kraft finde, so viele Stunden zu stehen, erwiderte er, jeder Mensch sei ein kostbares Juwel, wie könne er da müde werden, Diamanten zu zählen?
»Das war nicht die Energie eines normalen Menschen«, erklärt Shmotkin. »Keine Frage, dass das strenge Arbeitsreglement des Rebben für Lubawitscher eine Antriebskraft darstellt. Angesichts seiner Anstrengungen verblassen ihre eigenen zwölf- oder vierzehn-Stunden-Tage.«
Schneersons Bedürfnislosigkeit war legendär. Da er nie von seinen eigenen Bedürfnissen sprach und so intensiv zurückgezogen in Bezug auf Privates war, zögerten seine Anhänger, Besorgnis über seine Gesundheit und seinen Lebenskomfort zu äußern. Er verbrachte jede Woche sechs Stunden am Stück und mehr am Grab seines verstorbenen Schwiegervaters und stand stockstill im Regen oder Schnee, während er betete und laut Briefe vorlas. Seine Anhänger »schmiedeten einen Plan« für den Bau einer Hütte, um ihn vor den Elementen zu schützen, berichtet ein Chassid, aber niemand wagte es, mit dem Rebben darüber zu sprechen. Wenn etwas auf eine bestimmte Art geschah, dann, fühlten sie, war es, weil der Rebbe es so wollte. Der übertriebene Glaube seiner Anhänger an die Macht des Rebben, sein physisches Umfeld zu kontrollieren, brachte ihm ganz bestimmt mehr Unbequemlichkeit ein, als er sonst zu erleiden gehabt hätte.
Das Rätsel um Schneersons öffentliche Person und sein Privatleben muss man im Kontext des Chassidismus sehen. Eines der vielen Kennzeichen, durch die sich die Bewegung aus dem 18. Jahrhundert vom damals vorherrschenden zeitgenössischen Judentum unterschied und das eines ihrer typischen Merkmale war, war das Konzept des Rebben, eines heiligen Mannes, dessen Verbindung zu seinen Anhängern, seinen Chassidim, untrennbar war.
Was ist ein chassidischer Rebbe? Zuerst einmal ist er ein Zaddik, ein perfekter Gerechter. Seine Heiligkeit, Frömmigkeit und Ergebenheit in das jüdische Gesetz verleihen ihm gewaltige Kräfte, insbesondere die Fähigkeit, sich »in Sphären zu bewegen, die gewöhnliche Menschen nicht verstehen«.4 Der Rebbe steht zwischen Himmel und Erde und ist ein Sprachrohr zum Allmächtigen, Teil einer mächtigen und mystischen Kette, die zurück bis zu Moses reicht. In der chassidischen Überlieferung heißt es, der Baal Schem Tow stieg immer am Schabbat-Nachmittag in den Himmel auf und sprach dort mit den himmlischen Heerscharen und dem Messias höchstpersönlich.
In Zeiten einer Krise für das jüdische Volk kann der Rebbe und Zaddik Gott zum Handeln zwingen. »Er ist der Auserwählte, dem nichts abgeschlagen wird, weder im Himmel noch auf Erden. Gott ist verärgert? Er kann ihn zum Lächeln bringen. Gott ist streng? Er kann ihn dazu bringen, nachgiebig zu sein.«5 Diese Macht verdankt der Rebbe nicht seiner eigenen persönlichen Tugend, sondern weil er nicht für sich allein spricht. Ein Rebbe ist die »Wurzel und Seele« seiner Generation, die buchstäbliche und geistige Verkörperung von Moses und Erbe seiner großen Seele, der Seele, die direkt zu Gott sprach. Im Rebben und Gerechten vereinen sich die Seelen aller lebenden Juden, und er erhebt seine Stimme als ihr physischer und geistiger Vertreter zum Himmel. Rabbi Moshe New, ein Chabad-Emissär in Montreal, erklärt, dass ein Rebbe das Nervenzentrum von Juden überall auf der Erde ist, selbst solcher, denen er nie begegnet ist. Er fühlt ihren Schmerz und ihre Freude, weil er buchstäblich mit ihnen verbunden ist.
Deshalb betrachten Lubawitscher Schneerson als das Haupt aller Juden auf der Welt. Für ihre Art des Denkens liegt darin keine Anmaßung. Es ist etwas von Gott Bestimmtes. »Als Juden sind wir alle eins, ein großer geistiger Körper«, erklärt New. »Der Rebbe ist das Gehirn, und das Gehirn verspürt jede Empfindung, die sich irgendwo im Körper regt. Er ist der Herzschlag des jüdischen Volkes, der ihm seine geistige Energie gibt. Geht man zum Rebben, hat man das Gefühl, es gibt nichts, was man nicht tun kann, denn man kommt dabei mit dem eigenen Herzschlag, dem eigenen Mittelpunkt in Berührung.«
Ein Rebbe braucht keine formelle Ordination zum Rabbiner, um an der Spitze seiner Anhänger zu stehen. Er wird als Zaddik geboren. Ein Rebbe und Zaddik kann diese Eigenschaft und seinen Titel an seine ernannten Erben weiterreichen. Als es nach dem Tod des Baal Schem Tow immer mehr chassidische Höfe gab, bildeten sich bei den chassidischen Rebben sehr unterschiedliche Bräuche und Lebensstile heraus. Einige wie der Kotzker Rebbe praktizierten strenge Askese; andere wie der Ruschiner Rebbe stellten ihren Reichtum zur Schau. Die einen waren berühmt als Tora-Gelehrte wie der erste Lubawitscher Rebbe. Wieder andere wie der Belzer Rebbe kannte man hauptsächlich als wundertätig. Aber alle besaßen sie weiterhin die grundsätzlichen Eigenschaften, die man mit dem chassidischen Rebben in Verbindung zu bringen pflegte. Eine ist, dass ein Rebbe sein Amt dank des Willens seiner Chassidim innehat. Sie wählen ihn zu ihrem Rebben. Er steht lebenslang an ihrer Spitze und lebt auf einer höheren Ebene; dabei ist er mit Kräften versehen, von denen sie sich erhoffen, wenigstens kurze Blicke zu erhaschen. Aber er ist auch ihr Knecht und gehört ihnen voll und ganz. Schneersons Frau brachte das bei einem Prozess vor einem Bundesgericht in New York, bei dem es um den Besitz der 40.000 Bücher des sechsten Rebben ging, kurz und bündig zum Ausdruck. Als Ehefrau, Tochter und Enkelin von drei Lubawitscher Rebben erklärte sie dem Gericht, dass »der Rebbe und seine Bücher seinen Chassidim gehören«.
Ein Rebbe ist für das geistige und materielle Wohlergehen seiner Anhänger verantwortlich. Er berät sie bei ärztlicher Behandlung, Heiratsplänen, Berufswahl und in finanziellen Dingen sowie in spirituellen Angelegenheiten wie der Ergebenheit in Gott. Es ist eine erschöpfende Verantwortung, denn der Rebbe darf seinen Anhängern keine Antwort auf ihre Fragen verweigern. Sie akzeptieren ihrerseits seine Entscheidungen zu ihren lebenswichtigen Fragen als von oben eingegeben. »Seine Anhänger sind ihm zu blinder und bedingungsloser Treue verpflichtet … Den Rebben in Frage zu stellen, ist schlimmer als eine Sünde; es ist absurd, denn es zerstört die Verbindung mit ihm.«6
Der Rebbe und Zaddik gibt für seine Anhänger den Ton an in geistiger Größe genau so wie in Bezug auf Kleidung und Brauch. Trägt er lange Schläfenlocken, auf Jiddisch P a j e s, und steckt er seine Hosen in weiße Kniestrümpfe, machen auch sie es. Sie beobachten ihn von nahem und analysieren jede seiner Gesten; dabei übernehmen sie viele seiner persönlichen Gewohnheiten. Indem sie sein äußeres Erscheinungsbild nachahmen, hoffen sie, seiner inneren Reinheit nahe zu kommen, »denn alles, was mit dem Reinen verbunden ist, ist rein« (Talmud, Bawa Kama 92b).
Sich dem Rebben anzunähern ist ein zentraler Glaubenssatz des Chassidismus, ein Instrument, mit dem man sich Gott annähert, auf Hebräisch D we k u t . Chassidim kommen von weither, um ihren Rebben mindestens einmal im Jahr aufzusuchen und ihm ihre P i d j o n o t, Zettel mit ihren Bitten, zu überreichen und seinen Segen zu erhalten. Sie drängen sich dicht an ihren Rebben, eifrig auf seine körperliche Gegenwart bedacht. Sie beten in riesigen Gemeinden zusammen mit ihm, sie essen an seinem Schabbat-Tisch und reichen sich eifrig die Krumen von seiner Mahlzeit, damit alle an der heiligen Nahrung des Rebben teilhaben können. Das starke kollektive Ethos im Herzen des chassidischen Lebens entspricht dem Akt des Betens, bei dem der Chassid sein eigenes Selbst durch B i t u l in den Hintergrund treten lässt, um geistige Transzendenz zu erfahren. »Kollektives Leben und Beten sind unentbehrlich für die Rettung«, schreibt Elie Wiesel. »Der traditionelle Chassidismus verkündet: Das Selbst gelangt zur Erfüllung, indem es sich im kollektiven Selbst verliert.«7
B i t u l [hebr.]: »Selbstaufhebung«
Einen flüchtigen Eindruck, wie mächtig die Beziehung zwischen Rebbe und Chassid ist, können Außenstehende bei einem Farbrengen erhaschen, bei dem ein Rebbe über Tora, Leben und chassidische Philosophie referiert, wobei er in regelmäßigen Abständen durch das Singen und die Le-Chajims seiner Chassidim unterbrochen wird. Die Farbrengen des letzten Lubawitscher Rebben waren legendär. Bis zu seinem letzten Infarkt fanden sie regelmäßig in seiner Synagoge auf dem Eastern Parkway 770 statt. Der Rebbe sprach, während er an einem langen Tisch auf einem erhöhten Podium vorne im Raum vor seinen männlichen Anhängern saß, die vor ihm im Hauptraum der Synagoge standen. Die Frauen hörten von ihrer Empore oben zu, sie lehnten sich nach vorne und spähten einander über die Schultern, um jede Nuance mitzubekommen. Lubawitscher, die in Crown Heights lebten, trugen Beeper bei sich, über die sie erfuhren, wenn sich der Rebbe anschickte, eine Rede zu halten, und sie ließen alles stehen und liegen, um nach Eastern Parkway 770 zu eilen. Chabadniks kamen aus allen Winkeln der Welt herbei, um am Farbrengen des Rebben teilzunehmen, denn dort gab es Magie. Hier sprach der Rebbe direkt zu seinen Chassidim, inspirierte sie, leitete sie an und prägte ihr Programm.
Am mächtigsten waren jene Augenblicke geistiger Transzendenz, wenn Schneerson eine Pause einlegte und mit einem Kopfnicken andeutete, er werde gleich einen Ma’amar, einen chassidischen Diskurs, halten. Jeder Chassid, sei er Lehrer oder auch nur ein Jeschiwa-Student, kann ein Farbrengen abhalten. Aber nur ein Rebbe kann einen Ma’amar verkünden, ein Verströmen von Tora-Philosophie, das als göttlich inspiriert gilt. Jerome Mintz beschreibt eine solche Szene in Hasidic People:
»Der Ma’amar ist philosophisch und tiefschürfend. Für Chassidim entspricht jeder Ma’amar dem Geben der Tora am Sinai. Das Gefühl von Heiligkeit wird intensiver. Der Rebbe windet ein Taschentuch um seine Finger, um seine Seele am Boden zu halten. Jeder in der Gemeinde steht und bleibt die zwanzig Minuten oder die Stunde stehen, während der Rebbe spricht. Der Rebbe dagegen bleibt die ganze Zeit über sitzen, und er spricht mit geschlossenen Augen. Der Ma’amar wird in einer anderen Stimmlage gegeben, und für die Worte wird eine andere Melodie verwendet. Der Ma’amar ist dem Beten ähnlich, aber der Text ist von theologischer und intellektueller Art und gleichzeitig zutiefst persönlich, diskutiert er doch den Kampf einer Seele um ihr Überleben in der materiellen Welt. Beendet der Rebbe seinen Diskurs, wird gesungen.«8
Chabad-Schlichim, die heute draußen in den Gemeinden arbeiten, haben unauslöschliche Erinnerungen an die Zeit, die sie in der physischen Gegenwart Schneersons verbrachten, an den Überschwang, den sie bei seinen Farbrengen empfanden. Yossi Greenberg, heute Schaliach in Alaska, lebte von 1982 bis 1989 als Student in Crown Heights. Er nahm praktisch jeden Schabbat an einem Farbrengen teil und beschreibt es als »eine Dramatisierung des Talmud-Spruchs ›ein Licht Gottes leuchtet über den Köpfen der Gelehrten‹«. So wie Moses Gesicht einen unirdischen Glanz zeigte, als er nach dem Empfang der Zehn Gebote aus Gottes Hand vom Berg Sinai hinabstieg, sagt Greenberg, so habe das Gesicht des Rebben geleuchtet, wenn er auf seine Chassidim schaute. »Dieses Leuchten ging vom Gesicht des Rebben aus, man kann es nicht erklären. Und seine Augen strahlten. Wenn der Rebbe jemanden ansah, war es, als werde der von einem Laser durchdrungen.«
Die Chassidim, die zu Hunderten vor dem Rebben in der Synagoge standen, hoben immer wieder ihren Weinbecher zu einem Le-Chajim hoch, und wenn der Rebbe sich für einen Toast bedankte, indem er einem Chassid direkt in die Augen blickte, schlug der seine Augen nieder, sagt Greenberg, überwältigt vom durchdringenden Blick des Rebben. »Wir standen am Schabbat manchmal sechs oder sieben Stunden lang. Wir waren jung, achtzehn, neunzehn Jahre alt, jeder auf seiner eigenen geistigen Reise, und der Rebbe kannte uns von innen und außen. Wenn wir den Rebben sahen, fühlten wir, hier ist ein Mann, der die Wahrheit empfindet und lebt. Er war der überzeugendste Beweis dafür, dass es einen Gott gibt.«
Für Chassidim seiner Generation und älter, erklärt Greenberg, war der Rebbe ein persönlicher Magnet, ein Weiser, der sich immer die Zeit nahm, die einfachsten, persönlichsten Fragen eines jeden Einzelnen zu beantworten. »Später hatte er Tausende von Einrichtungen und Schlichim, und dennoch machte jeder von uns, als wir Studenten waren, geistige Krisen durch, und selbst dann nahm sich der Rebbe stets die Zeit, uns anzuleiten. Er hat stets jedem Einzelnen von uns geschrieben.« Greenberg schätzt immer noch eine Antwort, die er vom Rebben auf eine seiner Bitten um Anleitung erhalten hat. »Er hat mir ausführlich geantwortet und veränderte damit den Weg, den ich ging. Er gab von seiner eigenen Zeit, um einem jungen Menschen zu helfen. Nur ich weiß, was er geschrieben hat. Schlichim sprechen nicht davon, was der Rebbe ihnen sagte. Es ist etwas sehr Privates. Selbst später, als wir ihn nicht mehr einmal im Jahr für eine persönliche Audienz aufsuchen konnten und wir statt dessen nur vor ihm standen, Le-Chajim zu ihm sagten oder uns für die Dollars in einer Linie aufstellten — es war immer noch eine sehr persönliche Beziehung. Man hatte einfach das Gefühl, dass er sich etwas aus uns machte. Er wachte über jeden Einzelnen von uns mit einem ungemein tiefen persönlichen Interesse.«
Zalman Shmotkin wuchs in Milwaukee auf, wo seine Eltern auf Schlichut waren. Er erinnert sich an die seltenen Fahrten seiner Familie nach Crown Heights als eine bedeutungsvolle Angelegenheit. Wenn sein Vater sich in Jechidut begab, war seine gesamte Kleidung neu zu Ehren des Ereignisses. »Ich erinnere mich, dass der Rebbe mich, als ich drei oder vier war, fragte, wie viele Zizit ich hatte«, erinnert sich Shmotkin. »Ich habe noch immer dieses warme Gefühl, als ich die Stufen hinauf zum Büro des Rebben lief und wie ich mit einem Gefühl unendlicher Liebe davonging. Ich fühlte: Dies ist mein Zuhause.«
Als Shmotkin und Greenberg Teenager waren, hatte der Rebbe schon lange aufgehört, seine Anhänger in Privataudienzen zu empfangen. »Für mich war das ein gewaltiges Problem«, sagt Shmotkin. »Ich bekam schriftliche Antworten von ihm, aber ich fragte mich und Gott unablässig, warum ich nicht in den 1950ern oder 1960ern hatte leben können, als der Rebbe mehr Zeit für private Gespräche gehabt hatte. Wieviel Aufmerksamkeit der Rebbe uns auch zuwandte, es war nie genug. Wir hatten stets Hunger nach mehr. Es war eine Liebesgeschichte.«
Als älterer Teenager, berichtet Shmotkin, fing er an, sich darauf zu konzentrieren, was er für den Rebben tun, statt was der Rebbe ihm geben könne. »Wir versuchten, uns Dinge auszudenken, die dem Rebben gefallen würden — Talmudtraktate zu lernen, mit Aufmerksamkeit und Gefühl zu beten. Danach schrieben wir dem Rebben davon. Wir versuchten immer, den Rebben glücklich zu machen, aber wir wussten auch, dass, was immer wir taten, es nie genug sein würde. Wenn man an einem Freitag fünfhundert Männern Tefillin angelegt hat, wie kann ich es nächste Woche besser machen?«
Der Rebbe war im Leben eines Lubawitscher Studenten eine ständige Präsenz, sagt Shmotkin, und er lotste den Heranwachsenden wie ein moralischer Kompass durch die Zweifel. »Für mich, der ich mit meinen eigenen inneren Kämpfen rang, war es das Bild des Rebben, der sein Herz über uns ausschüttete, das mich durchgebracht hat. Er machte sich soviel aus uns. Es war eine großartige Sache, dem Rebben zuzuhören, wenn er von dem Stolz, ein Jude zu sein, sprach und uns sagte, dass die Welt auf uns warte, das zu sein, was wir sein sollen. Wenn es wieder einmal danach aussah, als würde man von den eigenen kleinlichen Fragen überholt, erinnerte man sich daran, wie der Rebbe uns das Gefühl eingegeben hatte, dass, was immer man macht, es sich in der Welt auswirkt.«
Was Schneerson den Menschen besonders teuer machte, war die Sorgfalt, mit er ihnen zuhörte. »Er konnte zu spirituellen Höhen emporschweben, ohne auch nur für einen Augenblick die Person zu vergessen, die vor ihm stand, oder den Brief einer Witwe, die ihm ihr Herz wegen ihrer Kinder ausschüttete«, sagt Krinsky.
Lubawitscher betrachten ihren Rebben als eine ständige Quelle der Kraft. Rabbi Zalman Posner, Chabad-Schaliach in Nashville, Tennessee, vergleicht einen Rebben mit einer »Quelle, die nie versiegt. Ein Chassid, der eine Verbindung zu seinem Rebben aufrecht hält, wird nie allein sein. Mögen auch Kontinente und Meere ihn von seinem Rebben trennen, er wird nie das Gefühl haben, dass er hilflos umhertreibt.«9
Diese nährende Kraft hält auch nach dem Tod an. »Zaddikim können nach ihrem Tod auf dieser Welt manchmal mehr bewirken als zu ihren Lebzeiten, da die Grenzen des Körpers fortfallen«, erklärt Yehuda Krinsky. »Es gibt wohl keinen Schaliach auf der Welt, der nicht das Gefühl hat, dass der Rebbe ihm über seine Schulter guckt.«
Das intensive Fokussieren der Lubawitscher auf die Persönlichkeit ihres geistigen Oberhauptes hat immer wieder zu Vorwürfen geführt, Chabad fördere einen Kult rund um den Rebben. Warum, fragen Kritiker, hängen Lubawitscher überall sein Bild auf? Warum bitten sie ihn immer noch um Rat, selbst jetzt, nachdem er schon gestorben ist?
Einige Lubawitscher glauben, die prophetischen Kräfte des Rebben erstreckten sich bis in die Bücher hinein, die seine mitgeschriebenen Diskurse enthalten. Sie schreiben Fragen an ihn auf ein kleines Stück Papier und stecken es in eines seiner Bücher; danach interpretieren sie die »Antwort« des Rebben aus den Worten der Seite, auf der ihre Notiz zufällig gelandet ist. Das ist zwar keine offizielle Chabad-Praxis, und sie wird von einem großen Teil von Lubawitschern auch mit Verachtung gestraft, aber sie entspringt einem zentralen Glauben, der allen chassidischen Höfen zu eigen ist, wonach die Fähigkeit eines Rebben, mit den himmlischen Sphären zu kommunizieren, ihm bestimmte außerweltliche Kräfte verleiht, wozu auch die Kraft, Wunder zu wirken, gehört. Ein Rebbe »sieht Dinge«. Er weiß von Dingen, bevor sie sich ereignen. Seine Stellung zwischen dieser Welt und der nächsten erlaubt es ihm, mithilfe ganz bewusster Anstrengungen, Gottes Segen hinab auf die Erde zu ziehen. Er kann diesen Segen sogar auf materielle Gegenstände, die er berührt, übertragen.
Viele Chabadniks sprechen heute bestimmten Ritualgegenständen, die von Schneerson berührt oder gesegnet wurden, wunderbare Kräfte zu. Chanie Lipskar hütet noch immer den kleinen Krug mit etwas Wein, den sie von einer Frau ihrer Gemeinde erhielt, die kurz vor dem letzten Infarkt den Rebben in Crown Heights aufgesucht hatte. Die Frau, die kinderlos war, hatte Schneerson um einen Segen gebeten, damit sie schwanger würde, und der Rebbe gab ihr den Segen zusammen mit etwas Wein, den er von seinem Becher in einen Behälter goss, den sie mitgebracht hatte. Die Frau schenkte Mrs. Lipskar den Wein, und sie hat ihn seither anderen Frauen gegeben, die schwanger werden wollten. Sie gab ihn auch einer Frau, die nach siebenjähriger Ehe kinderlos geblieben war. Die Frau trank den Wein, brachte zweimal hintereinander Zwillinge auf die Welt und hatte noch ein fünftes, ungeplantes Kind, nachdem eine Haushälterin ihr aus Versehen ein Glas Wein aus der Flasche gegeben hatte, die sie ganz hinten im Kühlschrank versteckte. Dieser Wein ist so mächtig, sagt Lipskar, dass mit seiner Hilfe mindestens zwanzig Babys geboren wurden. »Der Rebbe ist hier nicht physisch anwesend, aber die Kraft des Weins hält an«, betont sie. »Jede Frau, die davon trinkt, sagt: ›Ich weiß, dass ich jetzt schwanger werde.‹«
M e g i l l a t E s t h e r [hebr.] die: die Schriftrolle Esther, die zu Purim gelesen wird
Die Rolle des Rebben als Wundertäter war bis zum Aufstieg des siebten Rebben in der Lubawitscher Bewegung nachrangig. Jetzt ist die ChabadÜberlieferung jedoch voll mit Anekdoten über Schneerson, der das Ergebnis gesundheitlicher Krisen und politischer Ereignisse mit scheinbarer Haargenauigkeit vorhersagte. Als Jacob Goldstein, ein Chabad-Rabbiner, der bei der Nationalgarde im Staat New York arbeitet, während des Golfkriegs im Dezember 1991 nach Israel versetzt wurde, ging er in der Nacht vor seiner Abreise zum Rebben, um von ihm gesegnet zu werden. Er sagte Schneerson, er nehme eine M e g i l l a t E s t h e r mit, sodass er Purim feiern könne, das in drei Monaten stattfinden würde. »Der Rebbe lächelte und sagte mir, auf Jiddisch: ›Sicher, es wird eine M e g i l l a in der Wüste geben, aber Sie brauchen sie nicht zu lesen.‹« Der Golfkrieg ging am Tag vor Purim zu Ende.
Rabbi Yosef Wineberg von Crown Heights, einer der ältesten Anhänger des Rebben und Verfasser der populärsten Interpretation von Tanja, berichtet, wie bei seinem Bruder Tuberkulose festgestellt worden sei und wie man ihm zu einer Operation geraten habe. Als er den Rebben aufsuchte, sagte ihm Schneerson, das Loch in seiner Lunge sei verheilt und eine Operation unnötig, eine »Diagnose«, die später durch ärztliche Untersuchungen bestätigt wurde.
Eines der bekanntesten Beispiele für das Vorherwissen des Rebben betrifft den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, dem der Rebbe bei einem Besuch in Brooklyn in den späten 1960ern gesagt hatte, er solle nicht den für jene Nacht geplanten Rückflug nach Israel nehmen. Sharon hörte auf die Warnung, und das Flugzeug, das er hätte nehmen sollen, wurde nach Algerien entführt. Später fragte man den Rebben, warum er, wenn er gewusst hatte, dass das Flugzeug entführt werden würde, nicht die Behörden gewarnt habe. Schneerson antwortete, er habe nicht genau gewusst, was passieren würde, er habe nur gewusst, dass Sharon nicht im Flugzeug sein sollte.
Manchmal genügt schon der Segen des Rebben, um ein Unglück abzuwenden. Aber in den meisten Geschichten über Wunder rät der Rebbe einer Person, bestimmte Mizwot zu befolgen, um eine Lösung ihres Problems herbeizuführen. Er gibt den Menschen auf, ihre Mesusot und Tefillin zu prüfen, ob sie keine Mängel aufweisen, koscher zu essen und jüdische Rituale einzuhalten. Ist im religiösen Bereich wieder Ordnung hergestellt, stellt sie sich auch in anderen Aspekten des Lebens ein. Einem kinderlosen Paar wird aufgetragen, die Tefillin des Mannes zu prüfen; dabei wird festgestellt, dass das Wort »Schoß« fehlt. Man ersetzt das Pergament, und sie bekommen ein Kind. Einem anderen Paar, das mehrere zurückgebliebene Kinder hat, wird geraten, nur noch koschere Milch zu trinken, und ihr nächstes Baby ist völlig gesund. Einem Vater mit einem schwer kranken Jungen wird aufgetragen, am Jom Kippur zu fasten, und sein Kind wird wieder gesund.
Es gibt unzählige von diesen Anekdoten. Vielen Lubawitschern missfällt der Nachdruck, der auf die Wundertaten des Rebben gelegt wird. Sie glauben zwar an seine Kräfte, sagen, das sei aber nicht die Essenz dessen, was er war. Sicher, viele der Geschichten über Wunder sind kreative Interpretationen vager Aussprüche des Rebben, Aussprüche, die auf verschiedene Weisen interpretiert werden könnten. Aber allein die Anzahl solcher »wunderbaren« Eingriffe und Vorhersagen lassen für viele, einschließlich vieler, die keine Lubawitscher sind, darauf schließen, dass Schneerson zumindest ungeheure Einsicht besaß und vielleicht etwas mehr.
Malcolm Hoenlein, langjähriger geschäftsführender stellvertretender Vorsitzender der Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, ist praktizierender Jude, aber kein Chassid. Er begegnete dem Rebben vor vierzig Jahren; damals war er ein elfjähriger Junge aus Philadelphia auf einem Klassenausflug. Es war gerade vor Simchat Tora, einem Tag, an dem Schneerson seinen Besuchern immer Honigkuchen schenkte. Als Schneerson die Reihe der Jungen abschritt, machte er vor Hoenlein Halt und sprach mit ihm; er befragte ihn zu seiner Familie, seinen Zukunftsplänen und zu Persönlichem, und schließlich schenkte er dem Jungen drei zusätzliche Stücke Kuchen, die er für seine Eltern und seinen jüngeren Bruder mit nach Hause nehmen sollte.
Sieben oder acht Jahre später kehrte Hoenlein nach Crown Heights zurück, wieder war es Simchat Tora, und der Rebbe erinnerte sich an jede Einzelheit dessen, was er ihm erzählt hatte, und erkundigte sich nach seinen Eltern und seinem kleinen Bruder. »Ich war von ihm eingenommen«, sagt Hoenlein. »Er erinnerte sich haargenau an das, was ich ihm vor Jahren erzählt hatte. Zum ersten Mal machte ich Bekanntschaft mit solch einem überwältigenden Charisma.«
Zum letzten Mal besuchte Hoenlein den Rebben 1991. Er fuhr mit seinem Sohn und der Verlobten des jungen Mannes durch Crown Heights und beschloss in einer plötzlichen Eingebung, zum Rebben zu gehen, um ihn um seinen Segen zu bitten. Rabbi Leib Groner, Schneersons Assistent, der den Besucherstrom regelte, wandte sich zum Rebben, um ihm zu erklären, wer die Besucher waren. »Der Rebbe sagte: ›Ich weiß genau, wer es ist‹, und er fing an, sich mit mir über meine Arbeit und meine sonstigen Aktivitäten zu unterhalten. Es war unglaublich, wie er so ausführlich über einige dieser Dinge Bescheid wusste.« Damals war Hoenleins Vater sehr krank, deshalb bat er den Rebben um einen Segen für R e f u a s c h l e m a, vollkommene Genesung. Schneerson antwortete ihm, sein Vater »soll auch weiterhin N a c h e s [Zufriedenheit] an all der guten Arbeit haben, die Sie tun.«
Hoenlein blieb hartnäckig und bat noch einmal um einen Segen für die Genesung seines Vaters. »Der Rebbe hatte breit gelächelt. Jetzt hörte er zu lächeln auf und wiederholte: ›Ihr Vater soll weiterhin Naches an all den guten Werken haben, die Sie tun.‹ Ich drehte mich zu Rabbi Groner um, aber er zuckte nur mit den Schultern, deshalb entschied ich mich für einen dritten Versuch. Ich sagte: ›Bevor ich gehe, Rebbe, möchte ich einen Segen haben.‹ Er schaute mich an, dieses Mal sehr direkt, und sagte: ›Ihr Vater soll weiterhin Naches an all den guten Werken haben, die Sie tun.‹«
Hoenlein fuhr nach Hause, nahm Tallit und Tefillin und ging ins Krankenhaus, wo sein Vater in jener Nacht starb. Zehn Jahre später spricht er noch immer verwundert über diesen Zwischenfall: »Wusste der Rebbe davon? Oder wusste er nichts davon? Ich kann es nicht sagen.«
Schneersons Tod im Juni 1994 schnitt ins Innerste von Chabad und hinterließ eine offene, klaffende Wunde, die immer noch schnell blutet. Wann immer Lubawitscher von seinem Tod sprechen, füllen sich bei vielen die Augen mit Tränen. Viele wollen nicht einmal »der Tod des Rebben« aussprechen, nicht, weil sie glauben, er lebe noch immer — wenngleich es auch welche gibt, die daran glauben —, sondern weil sie einfach nicht den Schmerz ertragen können, seine Abwesenheit anzuerkennen, indem sie laut davon sprechen.
Abba Refson war ein zweiundzwanzigjähriger Jeschiwa-Student, als der Rebbe starb. Er folgte dem Trauerzug zu Schneersons Grabstätte auf dem Old Montefiore Cemetery und ging nie wieder weg. Refson verbrachte die ersten sechs Monate in einem Mizwa-Mobil, das auf einem Weg auf dem Friedhof parkte. »Es war eher spontan als irgendein Plan«, sagt er. »Ich sah, dass ständig Menschen kamen, nicht religiöse Menschen, und sie brauchten Hilfe, sie brauchten Anleitung.« Wie die meisten Jeschiwa-Studenten seines Alters hatte der in Leeds geborene Refson davon geträumt, auf Schlichut zu gehen. »Ich hätte mir nie vorgestellt, das würde hier sein«, gesteht er ein.
Schließlich bezog Refson ein kleines Ziegelhaus mit zwei Schlafzimmern neben dem Ohel, gekauft von einem Lubawitscher in Crown Heights. Das Haus dient jetzt als Informationszentrum für die endlosen Besucherströme. Im vorderen Raum läuft auf einem Bildschirm eine Endlosschleife mit Videoaufnahmen vom Rebben. Dort sammeln sich die Besucher, um Chabad-Literatur durchzusehen und alte Freunde wiederzutreffen. Ein Schlafzimmer wurde in eine Bibliothek und Synagoge umfunktioniert, in der es Unterricht in Chassidut gibt und Gottesdienste stattfinden. Refsons Büro befindet sich im zweiten Schlafzimmer, das gerade einmal Raum für seinen Schreibtisch, einige Kartons mit Büchern und an der Wand ein Riesenbild des Rebben bietet.
Refson ist praktisch vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, wenngleich er mittlerweile einen Helfer hat, mit dem er sich die Nachtschicht teilt. Auch seine Frau, ein junges Mädchen aus Detroit, die er sechs Jahre nach seiner Übernahme des Ohel heiratete, assistiert ihm. »Ich nehme an, dass sie wusste, worauf sie sich einlässt«, sagt er mit einem Grinsen. Die täglichen Besuchermengen von 200 bis 300 Menschen schwellen auf 800 bis 1000 an Sonntagen an, wenn Chabad-Schlichim mit Bussen voller Unterstützer unterwegs zu einer Rundfahrt durch Crown Heights vorbeikommen. Drei Faxgeräte laufen ständig und drucken täglich 500 bis 600 Briefe von Bittstellern aus. Dazu kommen 300 E-Mails täglich. Refson und sein Helfer sammeln die Faxe und die E-Mails alle zwei Stunden ein, bringen sie zum Grab. Zwei- oder dreimal die Woche räumen sie den Papierhaufen fort und verbrennen ihn.
K o h a n i m [hebr.] die; Sing. Kohen: die »Priesterklasse« des jüd. Volkes mit einigen Vorrechten und besonderen Pflichten
Es ist 9:45 Uhr an einem bitterkalten Sonntagmorgen im März. Ein Schneesturm braut sich am zornigen grauen Himmel zusammen, aber mehr als fünfzig Personen warten bereits, den Rebben besuchen zu dürfen. Direkt an der Hausrückseite steht ein neun mal dreißig Meter großes Zelt, in dem Besucher an langen Picknicktischen ihre Briefe an den Rebben schreiben. Summende Generatoren treiben Ventilatoren an, die warme Luft in den überfüllten Raum blasen. Bei den Stufen, die zum Friedhof selbst führen, stellen religiöse Besucher ihre Lederschuhe ab und ziehen Kunststoffpantoffeln an, die für einen Besuch am Grab eines Zaddiks als angemessener gelten. Einige Männer treten in Kunststoffkisten, die unten und oben offen sind, und ziehen sie um ihre Hüften hoch. Die Kisten stehen für die vier Wände eines Hauses, und sie sollen K o h a n i m, die für gewöhnlich keinen Friedhof betreten dürfen, den Besuch am Grab des Rebben ermöglichen.
Die meisten Besucher sind Juden, glaubt Refson, aber auch eine ansehnliche Zahl von Nichtjuden kommt, besonders aus dem umliegenden Stadtviertel, in dem überwiegend Afro-Amerikaner leben. »Sie haben vom Rebben gehört, sie sehen, dass das hier eine heilige Stätte ist, und sie möchten teilhaben«, sagt er. Einige Wochen vor diesem Märzmorgen kam ein älterer Herr aus dem Stadtviertel zu seinem ersten Besuch. »Er war so bewegt, dass er in der Woche darauf seine ganze Familie mitbrachte.« Ein weiterer afroamerikanischer Mann, der für Refson als Hausmeister arbeitet, fragte ihn, ob er einen Brief schreiben und ihn zum Rebben bringen könne. Natürlich, erwiderte Refson, und als der Mann das Ohel verließ, ging er im Zelt auf und ab. Refson fragte, ob etwas nicht stimme. Der Mann schüttelte mit dem Kopf und sagte, er sei schon an vielen Gräbern gewesen, »aber dort drinnen gibt es etwas, das sehr stark ist«.
Heute ist ein junges Lubawitscher Paar mit seinen drei kleinen Kindern den ganzen Weg von Toronto bis ans Grab gekommen. Die Frau sagt, als sie noch ein Kind im Mittleren Westen gewesen war, sei sie mit ihren Eltern immer nach Crown Heights gekommen, um während der sonntäglichen Marathonaktionen vom Rebben Dollars zu bekommen. Es betrübe sie, das Grab des Rebben zu besuchen, sagt sie, und Tränen füllen ihre Augen, obwohl sie weiß, dass sie dort eigentlich nicht traurig sein dürfte. Sie hilft ihren Kindern, die Briefe zu schreiben, die sie mit zum Grab nehmen. Ihr vierjähriger Sohn bittet um R e f u a s c h l e m a, eine vollkommene Genesung, seiner Erkältung. Ihr Sechsjähriger schreibt, er »will den Maschiach jetzt«.
Lubawitscher Paare suchen das Ohel gemeinsam auf, wenn sie sich verloben, um den Rebben um seinen Segen zu bitten, so wie sie früher, als er noch lebte, den Segen des Rebben für ihre Ehe erbaten. An diesem Sonntag ist ein junges Paar von Crown Heights ans Grab gekommen, um dem Rebben von ihrer bevorstehenden Eheschließung Mitteilung zu machen. »Jetzt sind wir offiziell verlobt«, ruft Zalman, ein dreiundzwanzigjähriger hochgewachsener Mann mit rötlich-blondem Haar und einem kleinen Spitzbart. Er und seine Verlobte, die zwanzigjährige Miriam, strahlen. Wenngleich sie gerade einmal um die Ecke voneinander aufwuchsen, waren sie sich erst vor mehreren Wochen dank Heiratsvermittler begegnet. Dieser Besuch ist ihre erste formelle Handlung als Paar. »Jedes Mal, wenn wir uns anschicken, etwas Wichtiges zu unternehmen, bitten wir vorher den Rebben um seinen Segen«, erklärt Zalman.
Um 11:30 Uhr trifft der erste Ausflugsbus ein: vierzig Besucher mit ihrem Chabad-Rabbiner aus einer Vorstadt in Connecticut auf einem Tagesausflug nach Crown Heights. Eine Frau in der Gruppe bezeichnet sich selbst als »Chabad nahe stehend« und sagt, in ihrem Wohnzimmer hänge sogar ein Bild des Rebben. Dies ist ihr erster Besuch beim Ohel, und sie ist sehr aufgeregt. Ihr Rabbiner habe sie auf dieses Erlebnis vorbereitet, sagt sie. Aber als sie später aus dem Mausoleum kommt, hat ihr Gesicht etwas von dem Glanz verloren. Sie gibt zu, dass sie enttäuscht ist.
K o t e l [hebr.; »Mauer«] die: Westmauer und einziger oberirdischer Rest des Tempels in Jerusalem
»Es sah nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt habe«, klagt sie. »Ich dachte, es sei offener, mit mehr Gras. Ich habe etwas Geräumigeres erwartet.« Aber, sagt sie, sie wisse zu schätzen, was die Stätte für Lubawitscher bedeutet. »Es ist nicht die K o t e l, die Westmauer in Jerusalem, aber ich habe dennoch etwas empfunden.«
Jeder kommt mit anderen Erwartungen zum Grab des Rebben. Einige sind nur neugierig. Sie stehen in einem gewissen Abstand von der Menschenmenge und beobachten sozusagen von ferne, wie sie weinen und beten. Anderen bricht es das Herz. Sie gießen ihre intimsten Geheimnisse in langen, hingekritzelten Briefen aus und stehen dann schluchzend am Grab.
Nicht jeder weiß, warum er dort ist. Eine junge Frau Anfang zwanzig sitzt an einem der langen Picknicktische im Wartezelt und kaut unentschlossen an ihren Fingernägeln. Sie hat hellrotes Haar, und in ihrer Unterlippe ist ein Doppelpiercing. Sie sagt, sie sei in der Woche davor per Anhalter aus Montreal gekommen und habe an einem Wochenendtreffen für jüdische Studenten in Crown Heights teilgenommen. Das Studieren habe ihr gefallen, den Besuch am Grab des Rebben betrachte sie dagegen eher argwöhnisch. »Ich bin mir nicht so sicher, was ich hier mache«, murmelt sie. »Ich nehme an, das ist wie eine Pilgerfahrt an irgendeine heilige Stätte, so, als ob man den Dalai Lama besucht.« Sie hat, sagt sie, mehr als gemischte Gefühle über das, was sie »einen toten Mann verehren« nennt, und ihr missfällt die Vorstellung, an einem Grab zu stehen und zu einem Geist zu sprechen. »Irgendwie kommt es mir nicht richtig vor«, erklärt sie.
Aber als sie dann aus dem Ohel kommt, ist sie sehr still. Nein, drinnen habe sich nichts Übernatürliches ereignet. Ja, sie fühle sich noch immer unwohl bei dieser ganzen Sache. Aber es sei nicht »stupide«, wie sie es erwartet hätte. »Die Atmosphäre dort war sehr heilig«, sagt sie grüblerisch. »Etwas sehr Heiliges ist an diesem Ort.«