Jeder kennt das Gefühl des Belagerungszustandes.

Dieser kann ganz harmlos sein, wenn wir z.B. der einzige Vegetarier an der Familienvereinigungsmalzeit sind oder der einzige Mensch im Büro, der George W. Bush bevorzugt. Doch kann dieser Zustand auch unheimlichere Formen annehmen, wie z.B. für den einzigen Weißen in Harlem oder für die einzige Dame im überfüllten Aufzug. Bedrohlichere Formen nimmt dieser Zustand an, wenn wir uns z.B. wegen eines Raketenangriffs in enge Bunker drängen müssen. Scheinbar haben diese verschiedenen Szenen nur wenig gemeinsam, - jedoch sprechen alle von einer Situation, in der wir einer gegnerischen Mehrheit gegenüberstehen.

Unter solchen Umständen lässt sich ein sehr interessantes Phänomen beobachten: Wir beginnen, eine ausgesprochene Sympathie für jene in gleicher Situation Befindlichen zu entwickeln. Leute werden plötzlich zu unseren engsten Verbündeten, mit denen wir weder etwas gemeinsam haben, noch die wir unter normalen Umständen überhaupt beachten würden. Nun aber fangen wir an, uns um sie zu sorgen. Ihre Leiden und Freuden werden zu den unsrigen; wer sie angreift, greift uns an; – wir sitzen alle im selben Boot.


Ein Kennzeichen der chassidischen Lehren ist es, den Kern der Wahrheit zu finden, selbst wenn er unter der gröbsten Lüge begraben liegt, oder den Funken der Freude, selbst wenn er sich hinter der bedrückendsten Traurigkeit verbirgt, oder den Schimmer der Güte, selbst wenn er sich hinter den finsteren Wolken des Bösen versteckt.

Das heißt nicht, dass die Lüge jetzt weniger falsch, das Böse uns jetzt weniger zuwider, die Traurigkeit verringert ist. Ganz im Gegenteil: Wir empfinden die Falschheit jetzt als noch abscheulicher, weil wir die darin verborgene Wahrheit jetzt viel mehr schätzen. Wir bemühen uns noch mehr, das Böse zu bekämpfen, weil wir genau wissen, dass wir uns dabei dem in seinem tiefsten Innern enthaltenen Guten nähern, nach dem wir uns jetzt noch mehr sehnen. Der springenden Punkt ist, dass selbst im Anzeigen des Falschen, im Bekämpfen des Bösen und in der Trauer über die Tragödien, wir gleichzeitig die negative Seite dieser Welt auf eine andere, wesentlichere Ebene erheben, indem wir ihren positiven Kern zurückgewinnen.

Wir bekämpfen das Böse, wo immer wir ihm begegnen. Doch wir können noch viel tiefgründiger heran gehen. Wir können uns fragen: Was ist die Quelle seiner Kraft? Auf welcher guten, positiven Macht basiert das Böse, um daraus seine Existenz zu schöpfen? Wie können wir dieses gefangene Gute befreien, so dass die das Gute umhüllende Schale des Bösen im Lichte des Guten dahinschmilzt?

Wenn wir auf eine Tragödie stoßen, trauern wir. Doch wir können noch viel tiefgründiger heran gehen. Wir können uns fragen: Welches positive Element liegt unter dieser negativen Tatsache begraben? Denn wir glauben fest an das Gute im inneren Wesen jeder Sache, Macht oder Erscheinung in G-ttes Welt. Wir können es zwar nicht immer sehen, aber immer danach Ausschau halten.


Der zehnte Tag des Monats Tewet ist ein Fasttag im Jüdischen Kalender. Vor rund 2.500 Jahren belagerten die Armeen des babylonischen Kaisers Nebukadnezar die Stadt Jerusalem. Damit begannen all jene Ereignisse, die schließlich zur Zerstörung des Tempels und der Verbannung unseres Volkes aus Israel führte. Es ist daher ein Tag des Fastens und der Reue, – ein Tag, an dem wir den Tragödien jenes Tages nachtrauern, ihre tieferen Ursachen in unseren eigenen Seelen und Taten identifizieren und uns bemühen, diese zu verbessern.

Doch die chassidischen Meister lehren uns, die positiven Seiten jenes Ereignisses zu suchen. Ohne uns im geringsten von der Notwendigkeit des Trauerns und der Berichtigung der negativen Seite der Geschehnisse jenes 10. Tewet abzulenken, sollten wir uns auch mit dem positiven Kern dieses Tages befassen.

Unter Belagerung zu stehen, ist zwar äußerst unangenehm. Eine buchstäbliche Belagerung bringt Hunger, Seuchen und Tod. Auch eine bildliche Belagerung ruft überwiegend negative Gefühle der Hilflosigkeit hervor. Doch trotz allem Negativen ermächtigt sich uns die befreiende Erkenntnis, dass wir zusammen sind. Trotz den Unterschieden, trotz der manchmal vorhandenen Feindseligkeit und den Streitigkeiten, durch die wir uns auseinanderleben, teilen wir ein gemeinsames Schicksal, eine gemeinsame Identität, ein gemeinsames Ziel. Unter Belagerung zu stehen bringt eine Wahrheit ins Licht, die eigentlich schon immer vorhanden war, doch die wir bis jetzt nicht sehen konnten – die Wahrheit dass wir alle eins sind.

Die Kunst besteht im Erfassen und Festhalten dieser Wahrheit, um sie uns zu eigen zu machen und nicht mehr in die Falle ihrer negativen Seite zu laufen. Ereignisse sind stets neutral und wir allein entscheiden über seine positiven oder negativen Auswirkungen.

Mögen wir bald dazu im Stande sein, den positiven Kern des 10. Tewet zu erfassen und uns von all seinen negativen Auswirkungen loszusagen.