Am Anfang der Sidra Acharej (Lev. 16, 4) erhält der Kohen Gadol – der Hohepriester – G-ttes Anweisung, dass er, wenn er am Jom Kippur das Allerheiligste des Stiftszeltes betritt, Gewänder aus weißem Leinen tragen soll. Die normalen Gewänder des Hohepriesters enthielten auch Gold. Im Allerheiligsten jedoch, das ist hier betont, musste er einfache leinene Kleider tragen, ähnlich denjenigen, die immer für einen gewöhnlichen Kohen vorgeschrieben waren.

Raschi (z.St.) gibt den Grund hierfür an, in diesen Worten: "Ein Ankläger kann nicht gleichzeitig Verteidiger sein." Nachdem Gold zur Herstellung des Goldenen Kalbes verwendet worden war (und ein Teil der Israeliten hatte dieses angebetet), war es völlig unangebracht, dass der Hohepriester ins Allerheiligste gehen und dort sich um Sühne für das ganze Volk einsetzen sollte und dabei dann in mit Gold verbrämte Gewänder gehüllt wäre; damit würde nur wieder an die Sünde erinnert werden.

Zu diesem Zeitpunkt, dem heiligsten Tage im Jahr, da der Kohen Gadol, der ehrwürdige Vertreter des jüdischen Volkes, den heiligsten Platz der Erde, eben das Allerheiligste, betrat, kamen die erhabensten Aspekte von Zeit, Raum und Mensch zusammen. All die vielen anderen Einzelheiten des von ihm zu leistenden Dienstes am Jom Kippur waren nur Einleitung und Vorbereitung für diesen Höhepunkt – für den Augenblick also, da der Hohepriester in der Tat die Vergebung von Israels Sünden erlangen konnte.

Für seine anderen Dienstleistungen am Jom Kippur konnte der Kohen Gadol sehr wohl seine mit Gold verbrämten Gewänder tragen, obwohl das Gold doch an das Goldene Kalb erinnerte; dies jedoch im Allerheiligsten zu tun, war einfach undenkbar.

Nicht nur Verzeihung für Sünden wurde hier erzielt, sondern gleichfalls ein Zustand von Reinigung vor G-tt, wie es heißt, (Lev. 16, 30): "Denn an diesem Tage soll er Sühne für euch bringen, euch zu reinigen; von all euren Sünden sollt vor G-tt ihr rein sein."

Spirituelle Reinigung "vor G-tt", um so G-ttes Anerkennung wieder zu erwirken, ist natürlich nicht auf den Jom Kippur beschränkt. Wenn auch dieser Tag sich mehr dafür eignet als andere, kann ein Jude etwas Ähnliches für sich wie für die Umwelt eigentlich an jedem Tage tun. Alle Juden können jeden Tag im Jahre den genannten Stand "vor G-tt" anstreben, dadurch dass sie sich Ihm, Seiner Tora und den Mizwot immer mehr nähern.

Um dies jedoch mit Erfolg durchführen zu können, muss ein Jude sich zuallererst bewusst sein, dass er damit ins "Allerheiligste" eintritt – das ist ein Niveau größter Verinnerlichkeit. Tief muss er in seine Seele schauen und danach trachten, durch sie sein ganzes Wesen mit Licht zu erfüllen. Damit denn ist es ihm ermöglicht, sich um Sühne und Reinigung für sich und andere zu bemühen.

Wie kann man so etwas tun? Man tut es, indem man sich der "selbstvergrößernden", der eitlen goldenen Kleider entledigt. So lange jemand nur an sich selbst und sein persönliches Prestige denkt, kann er nicht in diese innere Kammer eintreten, und so lange wird er dem eigentlichen G-ttlichen Zweck der Schöpfung nicht gerecht.

Erst wenn er die leinenen Kleider eines "gewöhnlichen" Kohen trägt, das heißt, wenn er sich in einem Zustand von wahrer, ungekünstelter Demut befindet, kann er das Allerheiligste betreten. Am Ende kann man dabei sogar so hoch ansteigen, dass man, ähnlich dem Kohen Gadol (Lev. 16, 17), "Sühne für sich selbst und für seinen Haushalt und für die gesamte Gemeinde Israels" erwirkt.