Wir lesen in der dieswöchigen Sidra, dass Moses zu G-tt für die Israeliten betete, als diese sich mit dem Goldenen Kalb schwer versündigt hatten (Exodus 32, 11 ff.). Das mag uns veranlassen, mehr allgemein darüber nachzudenken, was "beten" eigentlich bedeutet; und so erscheint es angebracht, hierzu einige Gedanken vorzutragen.
Gewöhnlich wird das hebräische Wort "T’filla" mit "Gebet" übersetzt. Diese Übersetzung gibt jedoch die genaue Bedeutung des Wortes nicht wieder; denn der Begriff "Beten" umfasst eigentlich nur ein Bitten, Ersuchen, Erflehen oder etwas Ähnliches, und dafür gäbe es an sich eine Reihe hebräischer Wörter, die einen solchen Gedankeninhalt klarer zum Ausdruck bringen. Nein, unsere täglichen "Gebete" sind nicht einfach Ersuche, mit denen wir G-tt "bitten", uns unsere täglichen Notwendigkeiten zu gewähren – und das wäre dann alles. Selbstverständlich sind derartige Bitten auch in unseren "Gebeten" enthalten, aber der Begriff von T’filla hat, darüber hinaus, eine viel weitere, Ausdehnung.
T’filla ist ein Gebot G-ttes. Er hat uns geboten, zu Ihm zu beten, und zu Ihm allein. In Zeiten von Wohlergehen müssen wir G-tt danken; und selbst wenn bei uns alles in bester Ordnung ist, müssen wir dennoch täglich erneut zu G-tt beten, dass Er uns gnädig gesinnt bleibt und uns weiterversorgt.
In unseren Gebeten nennen wir G-tt oft unseren barmherzigen Vater im Himmel, denn wir betrachten uns als Seine Kinder. Da liegt sofort diese Frage nahe: Ist es denn notwendig, dass wir unseren Vater im Himmel um tägliche Versorgung bitten? Kennt G-tt nicht unsere Bedürfnisse noch besser als wir selbst sie kennen? Ist G-tt nicht, in Seinem ganzen Wesen, freundlich und gütig und schon deshalb auf unser Wohlergehen bedacht? Schließlich "beten" ja auch nicht die Kinder zu ihren geliebten Eltern, dass diese sie ernähren, kleiden und beschützen sollen – weshalb müssen wir da zu unserem Vater im Himmel für all dies beten?
Bei nur kurzem Nachdenken jedoch lässt sich die Antwort hierauf unschwer finden. Tatsächlich ist sie uns von unseren Weisen gegeben worden, und auch Maimonides spricht davon. Kurz umrissen ist die Erklärung diese: Alle Gebote G-ttes haben wir nicht um Seinetwillen, sondern um unserer Willen zu befolgen. Auch das Beten ist uns um unserer Willen unbefohlen. G-tt benötigt unser Gebet an sich nicht. Ohne es kann Er ebenso gut bestehen, wir aber kommen ohne unser Gebet nicht aus. Es ist zu unserem Vorteil, dass wir unsere Abhängigkeit von G-tt für unsere Existenz, unsere Gesundheit, unser tägliches Brot und allgemeines Wohlergehen anerkennen und bekunden. Das sollen wir jeden Tag tun, dreimal täglich.
Es ist in der Tat unerlässlich, dass wir uns sehr oft daran erinnern, wie sehr unser Leben und unser Wohlergehen ein Geschenk unseres barmherzigen Schöpfers sind; dem damit erziehen wir uns dazu, G-ttes Gunst und Gnade wirklich zu verdienen. G-tt schuldet uns überhaupt nichts, und doch gibt Er uns alles. Wir sollten diesem Beispiel in unserem Verhalten unseren Mitmenschen gegenüber folgen und ihnen mit offener Hand Gunst erweisen. Unsere Dankbarkeit zu G-tt sollten wir nicht allein in Worten ausdrücken, sondern durch Taten manifestieren – dadurch, dass wir Seine Gebote befolgen und unser tägliches Leben so führen, wie Er es will, insbesondere nachdem dies alles zu unserem eigenen Vorteil gereicht.
In dem Bewusstsein, dass G-tt gut ist, und dass Ihm nichts unmöglich ist, können wir unser Leben in tiefem Vertrauen führen, in der Gewissheit, dass wir geschützt sind. Dann werden wir auch in Zeiten der Not nicht verzweifeln, wissen wir doch, dass irgendwie (nach G-ttes Ratschluss) das, was uns befällt, uns zum Wohle gereichen muss, dass dies eine "verhüllte Segnung" ist. "Wir vertrauen auf G-tt" ist stets unser jüdischer Wahlspruch gewesen, seitdem wir zu einem Volke geworden sind; und mit diesem Vertrauen gewinnen wir Kraft, Mut und Hoffnung.
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