Am Purim muss die Megillat Esther (die Estherrolle) zweimal vorgelesen werden, am Abend und dann wieder am Morgen. Dazu sagt die Mischna (Megilla 2, 1): "Wer die Megilla falsch herum (wörtlich: rückwärts) liest, hat seine Pflicht nicht erfüllt."
Der Baal Schem Tov, der Begründer des Chassidismus, hat erklärt, dass dies auf einen Menschen Bezug nimmt, der beim Lesen der Megilla die falsche Meinung hegt, die darin erzählte Geschichte habe sich zwar in der Vergangenheit zugetragen, sie sei aber belanglos für heute (also: er liest sie tatsächlich "rückwärts", im Sinne von "rückblickend"), und daher erstrecke sich das Wunder von Purim nicht auch auf die Gegenwart. Wer so denkt, hat seine Pflicht nicht erfüllt; denn der Zweck des Vorlesens der Megilla besteht sehr maßgeblich darin, dass man lernt, wie man als Jude sich in der Gegenwart verhalten sollte.
Dieser Gesichtspunkt ist erheblich für die Megilla in ihrer Gesamtheit, wie auch für jeden einzelnen Vers in ihr. Noch wichtiger jedoch ist dieses Prinzip, insbesondere, in Bezug auf den Vers, der davon spricht, wie das Purim-Fest seinen Namen erhalten hat. Denn überall ist gerade der Name einer Sache oder eines Gegenstandes ein Wegweiser auf den Kern, den wesentlichen Charakter. Wenn wir aber jenen Vers (Esther 9, 26), der so uns die innere Bedeutung von Purim übermittelt, in einer Weise lesen würden, als sei er nur für die Vergangenheit erheblich, dann würden wir an seiner ewigen Botschaft für Israel und für den Juden "vorbeilesen", wir würden sie völlig missverstehen.
Der Vers lautet: "Darum nannten sie diese Tage Purim (das ist: Lose), wegen des Loses", welches Haman geworfen hatte, um damit festzusetzen, an welchem Tage die Juden vernichtet werden sollten.
Das Wort "Pur" für "Los" ist kein hebräisches, sondern ein persisches Wort (s. Ibn Esra zu Esther 3, 7). Deshalb wird es in der Megilla selbst ins Hebräische übersetzt (Esther 9, 24): "Pur das ist Goral (Los)." Warum also erhält dieses Fest einen persischen statt den gleichbedeutenden hebräischen Namen "Goralot"? Alle anderen Festtage, ohne Ausnahme, haben hebräische Namen.
Zusätzlich ist zu betonen, dass andere Feste, die an Befreiungen erinnern, dieser Tatsache in ihrem Namen Ausdruck verleihen. Hier, bei Purim aber, wird durch den Namen die Befreiung nicht angedeutet, sondern er weist, im Gegenteil, auf die Gefahr hin, die den Juden drohte; das ist eben jene Lotterie, mit deren Hilfe Haman sie zerstören wollte.
Und schließlich: In der ganzen Megilla ist der Name G-ttes nicht erwähnt; er ist "verhüllt".
Als Antwort müssen wir auf das oben genannte Prinzip zurückkommen, nämlich dass das Wesen einer Sache eben durch ihren Namen angedeutet ist. Auf das Wesen von Purim nun wird, erst einmal, mit dem Namen "Esther" hingewiesen; denn "Esther" ist "Verbergen", "Verhüllen". Esther geht auf "Hester" zurück – und das heißt, etwas zu "verhüllen". Daneben aber ist auch der umgekehrte Begriff von Enthüllung angezeigt, und zwar in dem Worte "Megilla"; denn diese bedeutet genau "Enthüllung". So denn ist unsere "Megillat Esther" die "Enthüllung des Verborgenen".
Analog zu dem Namen des Buches lassen sich diese beiden Gegensätze, Verbergen (Esther) und Enthüllung (Megilla), auch im Zusammenhang mit dem Feste selbst herausschälen. Auf der einen Seite ist die Idee von Verhüllung im Namen "Purim" enthalten, einem persischen Worte und dazu einem Worte, das in direkter Verbindung mit der Verfolgung der Juden steht. Auf der anderen Seite ist dies ein Fest, das mehr als alle anderen mit Freuden und Frohlocken begangen wird, wo sogar der Genuss von Alkohol anempfohlen wird – eine Festlichkeit, deren Frohsinn alle Grenzen überschreitet.
Für den Juden gilt in vielfacher Hinsicht, dass gerade in der tiefsten Verborgenheit für ihn die Enthüllung zu finden ist. Das ist in der Tat eine wichtige Lehre für die Gegenwart, da aus der augenblicklichen Verborgenheit die Enthüllung des messianischen Zeitalters erstehen wird.
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