Die Errettung aus Ägypten war nicht nur die Befreiung von soundsovielen Einzelpersonen, sondern die Emanzipation eines ganzen Volkes. Sie begann mit G-ttes Ausspruch (Exodus 3, 7): "Ich habe das Elend Meines Volkes ... wohl gesehen." Dies führte zu der Aufforderung an Pharao (ibid. 5, 1): "Lass Mein Volk gehen", so dass schließlich Moses die ihm gestellte Aufgabe ausführen konnte (ibid 3, 10): "Führe Mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten."
Nun wurde, wie wir in der dieswöchigen Sidra Bo lesen, die Vorschrift des Pessachlammes kurz vor dem tatsächlichen Auszug und in direkter Verbindung damit anbefohlen; und man hätte daher wohl erwarten können, dass auch hierbei das "nationale Leitmotiv", die Kollektivität und Einheit des Volkes, betont worden wäre. Doch genau das Umgekehrte war der Fall. Jedes Haus musste sein eigenes Opfer bringen; jeder einzelne musste daran teilhaben; jeder einzelne musste in seinem Hause oder in seiner Gruppe das ganze Opfermahl hindurch verweilen (Talmud, Pessachim 86a).
Mit diesem sehr ausdrücklichen Hinweis auf die Einzelperson zeigt uns die Tora die Methode an, durch die man zur Freiheit gelangt – auch für ein ganzes Volk: Man muss sich in erster Linie auf die Einzelperson konzentrieren.
Dasselbe Prinzip muss zur Anwendung kommen, wenn man einen allgemein gültigen, umfassenden Entschluss in die Tat umsetzen will: Man muss auch die kleinsten Einzelheiten zur Ausführung bringen. Man soll sein Augenmerk nicht nur auf die großen, allgemein gültigen Erwägungen richten, auf die weitreichenden Entschlüsse, sondern man muss sich ebenso für die Verwirklichung der "kleinen" Pflichten einsetzen, die uns im täglichen Leben obliegen. Die Anwendung genau dieser Methode führt dann zur schließlichen "Befreiung" der ganzen Person.
Der Einzelmensch fasst oft großartige Vorsätze von großer Tragweite. Zum Beispiel mag er sich vornehmen, gut und rechtschaffen vor G-tt und den Menschen zu sein. Er fasst den Entschluss, "ein guter Jude" zu sein. Das allerdings sind hervorragende, eindrucksvolle Vorsätze.
Kommt es dann aber darauf an, diesen gewichtigen Entscheidungen im einzelnen und durch "kleine" Taten Ausdruck zu verleihen – nun, da sieht es schon gleich anders aus. Beim Essen zum Beispiel ist der Betreffende leicht geneigt, keinen Unterschied zwischen koscheren und nichtkoscheren Speisen zu machen; und wenn er sogar die Speisegesetze zu Hause noch einhält, nimmt er es nicht mehr so genau damit im Restaurant. Oder in Bezug auf Tefillin: Da hat er häufig weder die Zeit noch die Geduld für diese tägliche "Detail". Was den Schabbat betrifft, so verdrießen ihn die "Kleinigkeiten" der genauen Befolgung – und daher vernachlässigt er diese. Wie können wir da – so muss man sehr ernstlich in Frage stellen – aus all diesen negativen "Einzelheiten" das Bild eines "guten Juden" zusammenbasteln? Die Addition geht einfach nicht auf!
Die Lehre des Pessachopfers ist eine absolut klare: Zwar hing es durchaus mit der Befreiung unseres ganzen Volkes zusammen, doch legte die Vorschrift größtmöglichen Wert auf die Familie als Gruppe und auf die Einzelperson, weil diese es waren, durch die die Befreiung in die Praxis umgesetzt werden konnte. "Das Ganze ist die Summe all seiner Teile", und so ist auch der gewichtige Vorsatz, sich als zum Judentum gehörig zu betrachten, nur dann groß und gut, wenn er praktisch und konkret, in den "Einzelheiten" und den "kleinen" Pflichten unserer Mizwot, zum Ausdruck kommt.
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