Der Sohar, heiliges Buch der Kabbala, vergleicht die drei Zaddikim – die überragenden Persönlichkeiten Noach, Abraham und Moses. Jeder dieser bedeutenden Männer lebte zu einer Zeit, da die Moral der Menschen, und ihr Lebenswandel überhaupt, viel zu wünschen übrig ließ. Jeder dieser drei Führer, so sagt der Sohar (I, 106a und 67b), reagierte auf verschiedene Weise gegen seine sündhafte Umwelt.
Als Noach feststellen musste, dass er die Menschen seines Zeitalters nicht zu reuiger Umkehr bewegen konnte, betete er zu G-tt, dass er selbst und seine Familie von der Strafe verschont bleibe, die G-tt über die versündete Umwelt zu bringen beabsichtigte. Als er erfuhr, dass die Erde überflutet und alle Lebewesen zerstört werden sollten, betete Noach nicht für die Menschen seiner Generation (Sohar, I a.a.O. und 254b; III, 14b).
Das hebräische Wort für Noachs Arche, "Tewa", hat – wie der Baal Schem Tov unterstreicht (zitiert in Likute Sichot, I, S. 6; vgl. auch Tora Or 9a) – noch eine zweite Bedeutung, nämlich "Wort". Noach, in seine eigene Rechtschaffenheit eingehüllt, zog sich in seine "Arche" zurück – in seine Welt von Studium und Gebet. Als die Leute zu ihm kamen, um sich über den Zweck des großen Schiffes zu erkundigen, das er baute, da unterrichtete er sie über die demnächst eintretende G-ttliche Strafe, die Flut. Es war aber erst dann, nämlich als sie an ihn herantraten, dass er sie ermahnte und tadelte und sie aufforderte, sich zu bessern; er ergriff nicht die Initiative, er ging nicht zu ihnen. Er unternahm es nicht, die Information zu ihnen zu bringen. Dies war allerdings zu einer Zeit, da die Tora noch nicht gegeben worden war, mit ihrem Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst".
Der Sohar erklärt (a.a.O.), dass dies ein bedenkliches Versehen war, und dass der von dem Propheten Jesaja für die Flut gebrauchte Ausdruck "die Wasser Noachs" Noachs indirekte Verantwortung für die Flut andeutet, indem er nicht für seine Generation gebetet hatte. Diese Art von Verhalten wird auf Jiddisch "ein Zaddik im Pelz" genannt, d.h. "ein gerechter Mensch in einem warmen Pelzmantel". Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man sich in einem kalten Zimmer erwärmen kann. Die eine besteht darin, ein Feuer zu schüren; dann nimmt das ganze Zimmer an der so geschaffenen Wärme teil. Die andere Möglichkeit ist, dass man sich selbst in einen warmen Pelzmantel hüllt; dann ist die so geschützte Person zwar warn, aber alle anderen Menschen im Zimmer bleiben kalt. Auf diese Weise in die sichere Wärme seiner eigenen Rechtschaffenheit und Charakterfestigkeit eingehüllt, ist er von der bitteren Kälte, die alle "draußen" zu leiden haben, nicht betroffen.
So ist diese Episode von Noach dazu angetan, uns allen eine wichtige ethische Lehre zu geben: Alle diejenigen, die da meinen, dass sie sich in ihren guten Taten, in ihrem von der Tora geleiteten Lebenswandel, in Sicherheit befinden, sollten sich folgendes vor Augen halten: Wenn sie, G-tt behüte, die Rufe ihrer jüdischen Mitmenschen ignorieren, derer, deren Seele nach Jüdischkeit lechzt, dann liegt schwer auf ihren eigenen Schulten die Verantwortung für das allgemeine Übel, das heutzutage durch religiöse Apathie verursacht wird.
Abraham dagegen wartete erst gar nicht, bis man an ihn herantrat, um ihn über seinen Glauben an den Einen G-tt zu befragen, einen Glauben, der für sein Zeitalter etwas ganz Neues, etwas Aufsehenerregendes bedeutete. Wohin immer er sich begab, so sagt die Tora, "rief er den Namen des Ewigen, des G-ttes der ganzen Welt, an" (Genesis 21, 33). Die Weisen des Talmuds bemerken in Erläuterung dieses Verses: "Lies nicht 'Wajikra' - er rief. Lies vielmehr 'Wajakri' – er veranlasste andere zu rufen" (Talmud, Sota 10a, b). Abraham war bemüht, die heidnischen Araber, die Bewohner Kanaans, heranzuziehen, einen Volksstamm so primitiv, dass sie den Staub ihrer Füße anbeteten! (Talmud, Baba Mezia 86b). Trotzdem strebte er danach, auch sie dazu zu bringen, dass sie "den Namen G-ttes anriefen". Dies gelang ihm auf folgende Weise:
Er richtete eine Gaststätte (Genesis 21, 33; Talmud, Sota 10a, R. Nechemjas Ansicht) in Beerscheba, in der Wüste, ein und forderte alle vorüberziehenden Reisenden auf, hereinzukommen und sich gastlich bewirten zu lassen. Er setzte jedem seiner Gäste eine komplette Mahlzeit vor, Fleisch, Wein und Obst, er gab ihnen ein Bett zum Schlafen (Midrasch, zitiert in Bachja ibn Pakuda zu Genesis 21, 33) und ging sogar so weit, dass er einen Gerichtshof in der Gaststätte tagen ließ (Bereschit Rabba 54, 6), damit gleich die verschiedenen Streit- oder Rechtsfragen, die manchmal unter den Reisenden auftraten, entschieden werden konnten!
Nachdem sie dann all diese Annehmlichkeiten seiner Gastfreundschaft genossen hatten, forderte Abraham sie auf: "Segnet Ihn, dessen Speise Ihr genossen habt; dankt, segnet und preist Ihn, dessen Wort das Weltall erschaffen hat" (Talmud, Sota 10b; Bereschit Rabba 49, 4). So tat er im wahrsten Sinne des Wortes G-ttes Allgegenwart auf der Welt kund; um dieses Ziel zu erreichen, gerade deshalb dehnte er den Begriff der Gastlichkeit so außerordentlich weit aus. Er begnügte sich nicht damit, seinen Gästen Brot und dergleichen "elementare" Speisen vorzusetzen, die an sich doch genügt hätten, um ihren Hunger zu stillen. Nein, er hielt es nicht für ausreichend, das bloße Minimum zur Verfügung zu stellen, sondern er betrachtete es als erforderlich, dass seine Gäste feinste Genussmittel zu sich nahmen, – Obst, Wein und andere Delikatessen; er hatte für sie ein Bett bereit und sogar ein "Sanhedrin", ein Gericht, das ihre Rechtsfragen entschied. All dies ist umso bemerkenswerter, als diese Durchreisenden ihm alle fremd und unbekannt waren.
Seinem Nebenmenschen das, was ihm fehlt, zu geben, ist eine verständliche Handlung, denn Gefühle des Mitleids werden ganz natürlich erweckt, wenn man einen anderen in Not sieht. Jedoch jemandem zu geben, was ihm nicht fehlt, was für ihn vielmehr einen Luxus bedeutet, ein solcher Trieb beruht auf einem Maß von Charaktergüte, die über alle vernunftsbedingte Motive hinausgeht.
Wir, Abrahams Nachkommen, sollten uns bemühen, seinem edlen Beispiel zu folgen. Auch wir sollten unseren Teil dazu beitragen, Jüdischkeit (Tora-Judentum) zu verbreiten, und dabei als unser Motto aufstellen: "Wajakri" – andere dazu zu bewegen, "den Namen G-ttes anzurufen".
G-tt tat Abraham kund, dass Er dabei war, die Stadt Sodom zu vernichten, als Strafe für das sündhafte Verhalten ihrer Bewohner. Abraham plädierte mit G-tt für Gerechtigkeit (Genesis 18, 23-33): "Wirst Du denn sogar Gerechte zusammen mit Bösen vernichten? ... Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt ... wirst Du den Platz nicht verschonen um der fünfzig willen? ... Sollte der Richter der ganzen Welt nicht Recht üben?" G-tt gab Abraham die Versicherung, er werde Sodom verschonen, wenn Er fünfzig rechtschaffene Menschen in der Stadt findet. Doch Abraham gab sich damit noch nicht zufrieden. "Was wird sein," so fragte er, "wenn es nur vierzig, dreißig oder vielleicht zwanzig gibt?" Schließlich versprach G-tt ihm, die ganze Stadt würde verschont bleiben, wenn sich dort auch nicht mehr als zehn Gerechte befänden. Und damit war Abraham vollkommen zufriedengestellt.
Mit der obigen Schilderung von Abrahams Gastfreundschaft haben wir dargestellt, wie Abraham sein Leben der Aufgabe widmete, die Menschen aufzuklären und sie zu einem rechtschaffenen Lebenswandel anzuleiten. So auch hier: Mit seiner Fürbitte für Sodom setzte er sich dafür ein, dass die Stadt um der Gerechten willen nicht zerstört werde. Erst als er das Versprechen erhielt, Sodom werde nur dann untergehen, wenn die Zahl seiner Gerechten weniger als zehn wäre, verlangte Abraham nichts weiter. Es kam ihm nicht in den Sinn, mit G-tt auch für diejenigen zu plädieren, die nicht rechtschaffen waren. Wie wir es schon hinsichtlich Noah betont haben, handelte es sich auch bei Abraham um eine Epoche vor der Verkündung der Tora, die doch das Gebot enthält: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst".
Der letzte in diesem "Trio" von großen Führern, die der Sohar vergleicht, ist Moses, "der getreue Hirt" seines Volkes genannt (Schmot Rabba 2, 3). In welch idealer Weise zeigte er sich dieses Ehrentitels würdig, als er mit G-tt für die Juden plädierte! Nachdem fast das ganze Volk sich mit der Anbetung des Goldenen Kalbes schwer versündigt hatte und G-tt sie alle vernichten wollte, bat Moses Ihn um Vergeben. Nicht nur bat er nicht darum, dass er und seine Familie verschont bleibe (wie Noah es ja getan hatte), sondern er drohte im Gegenteil sogar (Exodus 32, 32): "... und wenn nicht (wenn Du ihnen nicht vergibst), dann lösche doch mich aus Deinem Buche, das Du geschrieben hast!".
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