In der dieswöchigen Sidra Noach heißt es (Genesis 7, 8): "Von dem reinen Vieh und von dem Vieh, das nicht rein ist" (kamen sie paarweise in die Arche). Der Talmud (Pessachim 3a) und Raschi (z. St.) weisen darauf hin, das die Tora hier scheinbar acht Buchstaben "zu viel" verwendet, denn statt des Ausdruckes "das nicht rein" ist hätte sie einfach "unrein" sagen können. Raschi bemerkt dazu: Nachdem die Tora sich stets so knapp wie möglich ausdrückt, enthält dieser mehr umständliche Text die Lehre, dass man immer bemüht sein muss, jeden unschicklichen Ausdruck zu vermeiden.
So gibt die Sidra hier eine Lektion über Redeweise, während man dann, weiter unten, ähnlich über das Sehen belehrt wird: Schem und Japhet nahmen sich sehr in acht, nicht auf die Nacktheit ihres Vaters zu schauen, und daher "gingen sie rückwärts ... und ihre Gesichter waren nach hinten gewandt, so dass sie die Nacktheit ihres Vaters nicht sahen" (Genesis 9, 23). Ihre Tugend wurde dementsprechend auch belohnt (s. Vers 26-27). Dennoch ergibt sich auch hier ein Problem: Nachdem Schem und Japhet rückwärts gingen, folgt doch daraus schon, dass sie ihren Vater in seiner Nacktheit nicht sahen. Warum fügt die Tora dann die scheinbar überflüssigen Worte "so dass sie die Nacktheit ihres Vaters nicht sahen" hinzu?
Ein Ausspruch des Baal Schem Tov lautet: Wenn man in einem anderen einen Fehler sieht, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass man den gleichen Fehler selbst hat. Man betrachtet sich gleichsam in einem Spiegel, und wenn das darin geschaute Gesicht nicht sauber ist, so ist dies das eigene Gesicht. – Dagegen lässt sich aber sofort ein weiterer Einwand erheben, und zwar: Wäre es daher für einen Juden überhaupt unmöglich, in einem anderen Menschen einen Fehler zu konstatieren, ohne selbst gleich ähnlich fehlerhaft zu sein? Die Tora selbst sagt doch (Lev. 9, 17): "Du sollst deinen Freund ernsthaft zurechtweisen."
Zum Verständnis dieser Schwierigkeit trägt bei, was der Talmud an der bereits genannten Stelle (Pessach 3a) sagt, nämlich: "Man muss sich stets einer anständigen Ausdrucksweise befleißigen", worauf er bald danach (Pessachim 3b) die Frage stellt: "Finden wir aber in der Tora nicht auch das Wort 'unrein'?" – In der Tat kommt dieses in der Tora über einhundertmal vor.
Dieses Problem lässt sich lösen, wenn man versteht, dass im gesetzlichen (halachischen) Bereiche textliche Eindeutigkeit ungemein wichtig ist, und unter diesem Vorzeichen muss sie sogar die Erwägungen von Anstand überwiegen; um jede Unklarheit zu vermeiden, wird in einem halachischen Zusammenhang das Wort "unrein" wohl gebraucht. Bei Erzählungen jedoch soll man sich passend und anständig ausdrücken; und diese Erwägung kompensiert sogar für eine Verlängerung des Textes. Wenn immer möglich, ist also die dezentere Redeweise am Platze – ein Prinzip, das durch das Wort "unrein" in anderen (halachischen) Torastellen nicht entkräftet wird. Und selbst in halachischen Teilen zieht die Tora noch den Euphemismus vor, wenn das Gesetz sich nicht unmittelbar mit Unreinheit befasst sondern diese nur nebenbei erwähnt (vgl. Deut. 23.11).
All dies gilt nicht nur für das Reden, sondern ebenso für das Sehen. Wenn man Fehler in einem anderen Juden sieht, ist man zuerst einmal verpflichtet, die "Halacha" (also: die Aufgabe) für sich selbst zu erkennen – die darin besteht, dass man ihn zurechtweist, mit Takt und Feingefühl um ihn auf einen anderen Weg zu lenken. Wenn man dagegen einen Fehler bei anderen bloß so sieht, dass man keine Verpflichtung für sich selbst daraus entnimmt (als etwas, das man korrigieren muss), wenn man nur Kritik übt, ohne auch positiv und konstruktiv zu sein, dann geht der Ausspruch des Baal Schem Tov an, und man sieht nur sich selbst im Spiegel.
Nun versteht man sofort die Hinzufügung scheinbar überflüssiger Worte bei Schems und Japhets Handlungsweise. Die Tora betont hier, dass sie ihren Vater nicht nur "physisch" nicht sahen, sie waren sich seines Fehlers nicht einmal "bewusst"; für sie. war lediglich maßgebend, was in diesem Augenblick getan werden musste. Die tiefere "Botschaft" hier ist, dass man über die Unzulänglichkeiten eines anderen nicht nur nicht reden soll – wie Ham es getan hatte (Genesis 9, 22) – sondern nicht einmal darüber nachdenken soll, es sei denn allein, dass man die Möglichkeit vor Augen hat, jene Fehler durch das eigene Handeln zu verbessern.
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