In seinem tiefsten Wesen ist Rosch Haschana der "Krönungstag" des Königs der Könige; und an dieser "Krönung" nimmt jeder einzelne Jude teil. Dieser Idee wird besonders in den "Malchijot" des Mussafgebetes für Rosch Haschana Ausdruck verliehen.

Unter diesen Gesichtspunkten ist eine (erst einmal frappant erscheinende) Tatsache zu verstehen: Obwohl Rosch Haschana die "Zehn Tage der Rückkehr" (auch "Zehn Bußtage" genannt) einleitet und zu diesen gehört, wird während Rosch Haschana weder das "Tachanun"-Gebet noch das Sündenbekenntnis gesagt. Sondern das Gefühl der "Zugehörigkeit zu G-tt", wie es durch den Gedanken an die "Krönung" hervorgerufen wird, erfüllt unser ganzes Gemüt so sehr, dass die Reue für die Sünden der Vergangenheit – so wichtig diese als solche ist – in dem überwältigenden Gefühl von "Ehrfurcht vor der Erhabenheit" untergeht.

In ihrem tiefsten Wesen ist "Tschuwa" selbst – im Sinne dieses Wortes als "Rückkehr (zur Quelle)" – absolut vereinbar mit dem wesentlichen Gehalt von Rosch Haschana, als dem Ereignis der "Krönung G-ttes".

Es ist eigentlich erst, wenn Rosch Haschana vorbei ist, dass die weiteren Gesichtspunkte von "Tschuwa" ins Gewicht fallen – wie die Reue für das Vergangene und Entschlossenheit für die Zukunft, zusammen mit Sündenbekenntnis, Bitte um Vergebung usw., als notwendige Folgen der "Krönung" um Rosch Haschana. Denn wenn der einzelne sich der erneuten und verstärkten Vereinigung mit dem König bewusst wird, dann muss in diesem "Untertanen" der Wille und Entschluss aufkommen, dieser noblen Beziehung würdig zu sein. Daraus folgt sofort, dass jede Mühewaltung angebracht ist, die all das beseitigt, was dieser Vereinigung irgendwie im Wege stehen und hinderlich sein könnte; und das sind alle Sünden, ob diese nun absichtlich, wissentlich oder sogar nur versehentlich begangen worden sind.

Leider ist zu konstatieren, dass aus verschiedenen Gründen die Anfeuerung, die aus dem Geiste von Rosch Haschana und den Zehn Tagen der Umkehr erwächst, nicht immer oder überall im besten Ausmaße oder zum größten Vorteil genutzt worden ist. In manchen Gemeinden wie auch bei vielen Einzelpersonen ist diese Begeisterung, am Ende dieser Periode, jedes Mal wieder zerstoben, ohne dass sich in ihrem täglichen Verhalten eine merkbare Änderung oder Besserung gezeigt hätte. Und dort wo sich auf persönlicher, individueller Ebene nichts bessert, gibt es auch keine Fortschritte auf sozialer Ebene.

Einer der hauptsächlichen Gründe für dieses Versagen ist darin zu suchen, dass das geistige Erwachen und die Anfeuerung der Hohen Feiertage gewöhnlich nicht auf die eigene Person gemünzt sind, sondern gern auf die Belange der anderen gerichtet werden. Nicht selten werden diese hervorragenden Tage als eine Gelegenheit gesehen, dass man sich in allgemeinen Erklärungen zu den Problemen der Welt ergeht – "Botschaften", welche niemanden persönlich verpflichten, am allerwenigsten diejenigen, die eigentlich unmittelbar betroffen sein sollten. Damit aber ist dann jeder "zufriedengestellt", um so mehr als eine gewisse "Berechtigung" für diese Methode darin gesehen wird, dass Rosch Haschana von universeller Bedeutung ist und die ganze Welt angeht; und in der Tat fehlt es in der Welt nicht an weltweiten, schwierigen Problemen, die dringend nach einer Lösung verlangen.

Statt sich auf solche – zugestandenermaßen schwerwiegenden – Weltprobleme zu konzentrieren, sollte man an diesen heiligen Tagen deren eigentlichen Geist zu sich sprechen lassen. Dieser Geist zeigt sich sehr deutlich in dem Gebot des Schofarblasens, der einzigen für Rosch Haschana spezifischen Mizwa. Dieses Gebot fordert nicht, dass ein ganzes Instrumentalorchester bläst, sondern lediglich ein Instrument; und auch dieses ist nicht eins, welches wundervolle musikalische Kompositionen von sich gibt. Vielmehr muss das Schofar ein einfaches Horn eines Tieres sein, und beim Schofar genügt schon "irgendeine Art von Ton". Damit wird das Einfache, das rein Persönliche, das Alltägliche angedeutet, und die Pflicht wird betont, dass man erst mit dem gewöhnlichen, täglichen Leben des einzelnen zu beginnen hat, bevor man sich – später – an die Gemeinschaft und das gesellschaftliche Leben im breiteren Rahmen wendet.