In diesen Tagen vor dem Jahresende und an der Schwelle des Neuen Jahres ist es angebracht, dass man sich über das vergangene Jahr Rechenschaft ablegt und, darauf fußend, Entschlüsse für das kommende fasst. Eine solche "Rechnung" kann aber nur dann aufgehen, wenn man sich selbst, seine Fähigkeiten und Aussichten richtig eingeschätzt hat. Nur so kann man Fehler und verpasste Chancen wahrhaft bereuen und die richtigen, nützlichen und wirkungsvollen Vorsätze fassen.

So ist denn gerade die Zeit vor Rosch Haschana Zeit der spirituellen "Bestandsaufnahme" ganz allgemein; und im Besonderen ist sie dazu angetan, dass man sich auf seine Bestimmung als Jude und als Mensch besinnt. Dabei wird das Menschliche noch dadurch spezifisch betont, dass Rosch Haschana der Tag der Erschaffung des Menschen war.

Als Adam erschaffen war, führte G-tt ihm alsbald seine Kräfte und Möglichkeiten vor Augen und erklärte ihm seinen Lebenszweck (Genesis 1, 28): "Füllet die Erde und bezwinget sie; herrschet über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über jedes Lebewesen, das sich auf der Erde bewegt."

Damit also wurde dem Menschen die Kraft gegeben, die ganze Welt zu erobern und über sie zu herrschen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft; ausdrücklich war dies seine Aufgabe. Wie aber konnte diese "Welteroberung" bewerkstelligt werden, und was war ihr Ziel, ihr eigentlicher Sinn? Unsere Weisen geben uns darüber Lehre und Auskunft: Als G-tt Adam geschaffen hatte, wurde dessen ganzes Ich von der Seele – seinem G-ttlichen "Ebenbilde" – durchdrungen und erhellt; und das machte ihn zum Herrscher über die ganze Schöpfung. Alle anderen Geschöpfe fanden sich ein, um ihm zu dienen und ihn als ihren Schöpfer zu krönen. Adam jedoch zeigte ihnen ihren Irrtum und sagte: "Wir wollen alle zusammen kommen, um G-tt, unseren Schöpfer, zu verehren."

Die dem Menschen zur Aufgabe gestellte "Welteroberung" besteht eben in seiner Mission, die gesamte Natur – und das schließt die Tierwelt ein – zu veredeln, zum Dienst im Sinne der Menschlichkeit (Humanität) anzuleiten, einer Humanität, die sich des "Ebenbildes G-ttes" bewusst ist, die eine Seele hat, welche einen Teil G-ttes bildet – so dass alle Natur und Schöpfung erkennt, dass G-tt unser Schöpfer ist.

Eines versteht sich von selbst: Bevor ein Mensch die Welt erobern kann, muss er erst "sich selbst besiegen", in der Weise, dass er das Irdische und Tierische in sich selbst bezwingt. Damit allerdings ist ein Tun programmiert, das genau mit den Anordnungen der Tora übereinstimmt, Leitfaden für das tägliche Leben, so dass so alles Materielle durchdrungen und erhellt wird vom Lichte des Einen G-ttes. G-tt schuf "einen" Menschen, und dieser einzigen Person auf der Erde machte er dies zur Pflicht.

Damit ist diese tiefe, und doch durchaus klare Anweisung gegeben: dass ein Mensch – jeder einzelne Mensch – befähigt ist, "die Welt zu erobern". Wenn jemand diese Aufgabe nicht ausführt, wenn jemand also diese gewaltige, von G-tt verliehene Kraft nicht nutzt, dann ist dies nicht nur ein persönlicher Verlust und ein persönliches Versagen, sondern es ist, gleichzeitig, ein Unterlassen und Vergehen der ganzen Welt gegenüber.

So sind wir in diesen Tagen der "Einkehr" angehalten, über unsere Mission im Leben gut nachzudenken: dass nämlich jeder einzelne von uns vom Schöpfer der Welt Anweisungen erhalten hat – so wie sie in der Tora stehen – und deshalb fähig ist, Welten zu erobern. Daher muss sich jeder fragen, welche Fortschritte er in dieser Richtung gemacht und wo er versagt hat, damit er dann für das kommende Jahr die passenden Entschlüsse fassen kann. G-tt schaut in das Herz und sieht sofort, ob diese Entschlüsse auch auf "Entschlossenheit" beruhen, also ob sie ehrlich gemeint sind.