Im Talmud (Sota 3a) wird die Aussage gemacht, dass niemand eine Sünde begeht, es sei denn, dass "ein Geist von Torheit sich seiner bemächtigt hat"; und um diese Feststellung zu belegen, zitiert der Talmud an jener Stelle einen Vers aus der dieswöchigen Sidra (Numeri 5, 12): "Ein Mann, wenn seine Frau vom rechten Wege abweicht …" Hier ist vom Ehebruch die Rede; und der frühere Lubawitscher Rebbe s.A. bezieht sich, um das Wesen von Torheit genauer zu erhellen, ebenfalls auf diesen Vers.
Worin besteht der eigentliche Zusammenhang, das heißt also: Warum wird Ehebruch von allen möglichen Übertretungen als das Beispiel hervorgehoben, durch welches am schlüssigsten gezeigt werden kann, dass eine Sünde immer etwas Törichtes, etwas Irrationales ist? Weder der Talmud noch die chassidische Philosophie würde einen Vers einfach um seiner selbst willen zitieren, oder lediglich zu dem Zwecke, um Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen. Vielmehr werden Verse stets mit Genauigkeit ausgewählt, um ein möglichst stichhaltiges Argument anführen zu können.
Im vorliegenden Beispiel lässt sich erst einmal eine rein oberflächliche Verbindung herausstellen, nämlich zwischen "abweicht" (hebr. "Tissteh") und Narrheit (hebr. "Schtut"). Damit ist aber das Rätsel keineswegs schon gelöst. Nur auf dieser Grundlage wäre es doch nicht nötig gewesen, unseren Text überhaupt zu zitieren, nachdem es ja unzählige Aussagen unserer Weisen gibt, die nicht in dieser Form aus einer biblischen Textstelle abgeleitet werden. Daher muss als sicher hingestellt werden, dass eine tiefere Verbindung zwischen Ehebruch und der allgemeinen Definition von "Sünde" besteht, so dass man nicht allein auf den äußeren Augenschein angewiesen ist.
Hinzu kommt noch, als eine weitere Schwierigkeit, dass Ehebruch ein ganz besonders schwerwiegendes Delikt ist – warum sollte gerade dieses als Beispiel für alle Versündigungen dienen, auch für geringfügige? Mit anderen Worten: Warum wird der Höchstfall wie ein allgemein gültiger Durchschnittsfall behandelt?
Die Antwort darauf ist, dass Ehebruch (sozusagen) Urbild und "Schulbeispiel" für alle Sünden ist, und zwar – zuerst einmal – aus diesem Gunde: Nach jüdischem Gesetz trifft der Fall von Ehebruch nur auf eine verheiratete Frau zu, niemals auf ein lediges Mädchen (wie ja auch aus dem Text des zitierten Verses selbst hervorgeht). Das jüdische Volk aber, in seiner Gesamtheit, wird als G-ttes "Ehefrau" angesehen; die Bindung zwischen ihnen beiden, am Berge Sinai, war (symbolisch) die einer Hochzeit. Infolgedessen ist es so, dass jedes Mal, wenn ein Jude eine Sünde begeht, er gleichsam den "Heiratsvertrag" zwischen sich selbst und G-tt bricht. Er macht sich eines "geistigen" Ehebruches schuldig, er wird seinem G-ttlichen Partner untreu. Daraus folgt dann aber auch, dass nicht nur dieser Fall von Ehebruch, wie im genannten Verse aus unserer Sidra aufgezeigt, ein Zeichen von Torheit ist, sondern dass ein "kleines" Vergehen ebenfalls diese Torheit verrät. Denn mit jeder Sünde, wie immer sie beschaffen ist, begeht der Jude (gleichsam) einen "Ehebruch".
Hinzu kommt, als zweiter Punkt, dass der zitierte Vers aus unserer Sidra ("wenn eine Frau abweicht …") sich nicht auf eine der Ehebruch überführte, sondern lediglich auf eine des Ehebruchs verdächtigte Person bezieht; es hat ja keine Zeugen gegeben (s. den nächsten Vers). Es handelt sich also überhaupt nicht um eine positive Tatsache, sondern auf eine bedingte Situation (also: im Falle, dass …); und wenn nach der notwendigen Untersuchung und Probe der Verdacht sich nicht bestätigt, dann ist sie unschuldig und kann in Unversehrtheit zu ihrem Manne zurückkehren, wie es weiter unten heißt (Vers 28): "Sie ist davon unberührt und wird mit Kindern bedacht."
Hier ist eine weitere Parallele mit dem Juden gegeben, der – in Torheit – eine Sünde begeht. Der Bruch zwischen ihm und G-tt, der sich dadurch ergibt, ist nur ein vorübergehender. Ebenso wie eine des Ehebruchs verdächtigte Frau, wenn unschuldig, nur vorübergehend von ihrem Manne getrennt ist, so ist auch die Trennung von G-tt, die durch ein Vergehen hervorgerufen wird, nur von begrenzter Dauer.
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