Die dieswöchige Sidra kommt in der Synagoge jedes Jahr normalerweise am Schabbat unmittelbar vor dem Schawuotfeste zur Vorlesung (s. Tossafot zum Talmud, Megilla 31b unten). In der Tat ist unsere Sidra Bamidbar sehr bezeichnend für Schawuot; eine Verbindung wird gleich in den ersten Worten des Wochenabschnittes hergestellt, nämlich in G-ttes Anweisung (Num. 1, 2): "Nehmt die Gesamtsumme der ganzen Gemeinschaft der Israeliten auf." Diese Verbindung kommt allerdings erst dann klar zum Vorschein, wenn man den eigentlichen Sinn des Zählens zu begreifen sucht.
Raschi bemerkt zur Stelle: "Weil sie (die Israeliten) Ihm teuer sind, zählt Er sie zu jeder Stunde (das heißt: andauernd): Als sie aus Ägypten zogen, zählte Er sie; als sie beim Goldenen Kalb zu Fall kamen, zählte Er sie; und als Er sich anschickte, Seine Allgegenwart auf sie niederzulassen (im Stiftszelte) zählte Er sie."
In Beantwortung mehrerer Fragen, die sich aus dieser Erklärung Raschis ergeben, lässt sich folgendes sagen: Wenn immer Dinge gezählt werden, dann werden sie als gleichwertig angesehen; das heißt, dass sowohl der größte Mensch wie auch der geringste nur einmal gezählt werden, nicht mehr und nicht weniger. Und weil, wie Raschi doch sehr ausdrücklich betont, die Volkszählung ein Zeichen von G-ttes Liebe war, folgt daraus, dass von eben diesem Gesichtspunkt her jeder Jude als gleichwertig eingeschätzt wurde. Was ins Gewicht fiel, war also nicht seine Intelligenz, noch seine Stellung oder sein moralisches Ansehen, sondern allein das Wesentliche: seine jüdische Seele. Dies jedoch kann der Mensch gewöhnlich nicht sehen oder beobachten. Also folgt notwendigerweise, dass der schließliche Zweck dieser Volkszählung darin bestand, die Seele jedes Juden herauszustellen, sie freizulegen.
Damit lässt sich ein scheinbarer Widerspruch in Raschis Erklärung lösen: Einmal sagte er, das die Israeliten dauernd gezählt werden, und gleich danach verzeichnet er selbst die nicht mehr als drei Gelegenheiten, in Abständen, an denen eine Volkszählung stattfand (und auch späterhin in der Geschichte wurde das Volk nur in unregelmäßigen Zeitabständen gezählt). Was bedeutet dann aber Raschis unmissverständlicher Hinweis auf "zu jeder Stunde" (andauernd)?
Er besagt dies: Wenn es bei der Volkszählung – wie oben bemerkt – darauf ankam, die wesentliche Seele jedes Juden freizulegen, dann war dies ein Vorgang, der nicht zeitgebunden sein konnte, sondern der fortlaufend erfolgen musste. Es war eine stetige Entwicklung.
Damit auch stellt sich sofort ein wesentlicher Unterschied zwischen den drei von Raschi genannten Volkszählungen heraus: Es sind dies Entwicklungsstadien auf dem Weg zur G-ttlichen Enthüllung. Im ersten Stadium, beim Auszuge aus Ägypten, wurde die jüdische Seele durch G-ttes Liebe erst erweckt. Auf der zweiten Stufe, vor der Errichtung des Stiftszeltes (wo der Anstoß noch von draußen kam, denn sie handelten auf G-ttes Geheiß), machte sie ihren Einfluss auf das äußere Leben der Israeliten geltend. Auf der dritten Stufe jedoch, als der Dienst im Heiligtum tatsächlich begann (verwirklicht durch ihre eigenen Handlungen), da wurde durch sie all ihr Tun bestimmt, und sie selbst brachten G-ttes Allgegenwart in ihre Mitte – Zeugnis der Einheit der jüdischen Seele und G-tt.
Damit lässt sich die enge Verbindung zwischen der Sidra Bamidbar und Schawuot erkennen. Die Vereinigung zwischen G-tt und Israel bei der Offenbarung am Sinai – die wir doch zu Schawuot feiern – war so, dass G-tt Seine Enthüllung von oben herunterkommen ließ, während die Israeliten nach oben vordrangen und sich erhöhten. Wenn wir also die Volkszählung als ein Zeichen von G-ttes Liebe verstehen, dann können wir, wie bei der Sinai-Offenbarung, diese Vereinigung mit G-tt auf dem Boden der Tora und durch ihre Vermittlung "zu jeder Stunde" anstreben.
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