In Paraschat Bechukotai wird dem jüdischen Volk viel Gutes versprochen, falls es die Tora befolgen werde. Der Regen werde zur Zeit kommen, das Getreide und die Früchte würden reifen und gedeihen und im Lande werde Frieden herrschen.
Falls jedoch das Volk einen anderen Weg zu gehen entschliessen würde, werde sich das Glück von ihm abwenden und allerlei Tragödien werden es befallen.
Obwohl die Idee von Lohn und Strafe sicherlich eine wichtige Rolle in unserem Glauben spielt, (Maimonides, der jüdische Philosoph des 11. Jahrhunderts, rechnet den Glauben an dieses Prinzip sogar zu den dreizehn Fundamenten des jüdischen Glaubens), und obwohl eine große Anzahl dieser schlimmen Warnungen das jüdische Volk auch tatsächlich getroffen haben, liest sich dieser Abschnitt der Tora wie eine haarsträubender Horrorgeschichte, was uns dazu bringt, einen tieferen Sinn zu suchen.
Man erzählt sich folgende Episode: Dovber, der älteste Sohn von Rabbi Schneor Salman von Liadi, war gerade zwölf Jahre alt geworden. Unter normalen Umständen, leinte (las) immer sein grosser Vater am Schabbat aus der Tora. Doch an diesem Schabbat Paraschat Bechukotai war sein Vater abwesend und ein anderer musste diese Aufgabe übernehmen. Als der junge Dovber aus dem Munde des Vorlesers die schrecklichen Strafen vernehmen musste, welche die Tora beschreibt, fiel er ohnmächtig zu Boden. Wieder zu sich gekommen, wurde er gefragt, weshalb er denn letztes Jahr, als sein Vater selbst aus der Tora vorgelesen hab, nicht ähnlich reagiert habe. Er antwortete: “Wenn mein Vater den selben Abschnitt vorliest, hört man keinen Fluch!“
Diese Episode zeigt uns, dass man die Flüche und Strafwarnungen der Tora auch auf einer tieferen Dimension verstehen und interpretieren darf und kann. Denn bekanntlich hat jeder Vers und jede Idee in der Tora eine einfache und auch eine oder mehrere tiefere Erklärungen.
Der Talmud erzählt (Moed Katan 9a): Rabbi Schimon Ben Jochai sandte seinen Sohn zu Rabbi Jonathan ben Assomai und Rabbi Jehuda ben Gerim, um von ihnen einen Segen zu erhalten. Sie wünschten ihm: Es soll der g-ttliche Wille sein, dass Du säen aber nicht ernten, hereinbringen aber nicht herauslassen, ausgeben und nicht zurückerhalten wirst. Ausserdem soll Dein Haus zerstört, das Haus deines Gastgebers jedoch erbaut, Dein Tisch vermischt sein und Du sollst das erste Jahr nicht erleben. Völlig verstört kehrte er zu seinem Vater zurück und beklagte sich: „Nicht nur haben sie mich nicht gesegnet, sie haben mich gar verflucht!“ Der Vater hörte sich genau an, was die zwei Weisen gesagt hatten und erklärte seinem Sohn: „Du sollst säen und nicht schneiden bedeutet – du sollst Kinder gebären und nicht verlieren. Du sollst hereinbringen aber nicht herauslassen – Du sollst Deinen Söhnen Schwiegertöchter finden, welche in Dein Haus kommen, dieses aber nicht (wegen dem Tode deiner Söhne) wieder verlassen. Du sollst herauslassen und nicht zurückerhalten – Du sollst Töchter verheiraten und diese nie mehr in dein Haus zurückbringen müssen (weil ihre Ehemänner gestorben sind). Dein Haus soll zerstört, das Haus Deines Gastgebers jedoch erbaut sein – Die künftige Welt ist Dein Haus (denn Dort wirst Du ewig leben), diese Welt jedoch ist wie ein Gastgeber (sie ist nur temporär) und sie wünschten Dir ein langes Leben in dieser Welt. Dein Tisch soll vermischt sein – Du sollst viele Söhne und viele Töchter an deinem Tische sitzen haben. Du sollst das erste Jahr nicht erleben – Deine Frau soll nicht sterben, so dass Du keine neue Frau heiraten und mit ihr das erste Jahr feiern musst.“
Warum mussten diese Weisen dem Jüngling zuerst einen Schrecken einjagen und es seinem Vater überlassen, ihm ihre Worte zu interpretieren?
Wenn jemand einen Diamant in ein fernes Land schicken will, versucht er, diesen zu verstecken und zu tarnen, um den Eindruck zu vermitteln, es handle sich um einen wertlosen Gegenstand. So kommt der Diamant sicherer an sein Ziel. Genauso werden manchmal die allergrößten Segenssprüche in Form eines getarnten Fluches ausgesprochen, um den Segen zu tarnen und ihn so umso wirkungsvoller werden zu lassen.
Der Talmud in Brachot sagt, dass ein Mensch auch einen schweren Schicksalsschlag mit Freude akzeptieren muss. Wie ist das möglich? Wenn ein Mensch realisiert, dass jeder Schicksalsschlag ein getarnter Segen ist, der deshalb nur noch wertvoller ist, kann er sich auch mit dem Schlimmsten nicht nur abfinden sondern sogar freuen!
Diskutieren Sie mit