1. Da heute der zwanzigste Mar-Cheschwan ist – der Geburtstag des Rebben Admor Moharaschab, seine Seele weilt in Eden; der Vater meines Schwiegervaters – werde ich hier eine Geschichte wiedergeben1, die ich bereits einmal erzählt habe:

Der Rebbe (Moharaschab), seine Seele weilt in Eden, pflegte an jedem zwanzigsten Mar-Cheschwan – seinem Geburtstag – in das Zimmer seines Großvaters, seiner Heiligkeit des Zemach Zedek, einzutreten um von ihm dort einen Segen zu erbitten. Es ist gut möglich, dass auch die anderen Enkel des Zemach Zedek diese Angewohnheit teilten.

Bei einer dieser Gelegenheiten war der Rebbe, seine Seele ist in Eden in Tränen aufgelöst. (Er muss damals vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, da der Rebbe, seine Seele ist in Eden im Jahr 5621, und der Zemach Zedek im Nissan 5626 hinschied.) Auf die Frage des Zemach Zedek, warum er weine, antwortete er, dass er im Chumasch gelernt – oder zumindest gehört habe, dass G“tt sich Awraham zeigte (dies bezieht sich auf Wochenabschnitt Wajera). Nun weinte er und fragte, warum sich G“tt ihn nicht zeige.

Der Zemach Zedek antwortete ihn, dass ein Jude (einer anderen Version zufolge ein Jude, ein Zaddik), der im Alter von Neunundneunzig Jahren erkennt, dass er sich beschneiden muss, es würdig ist, dass G“tt sich ihn zeigt. Diese Erklärung wurde von dem Kind angenommen und er hörte auf zu weinen.

2. Nun ereignete sich diese Geschichte als der Rebbe, seine Seele ist in Eden, ein Kind war, noch vor seiner Bar-Mizwa, ja noch ehe er „das Alter der Einweisung“ erreichte. Diese Geschichte ist es aber trotzdem wert, dass man sich mit ihr beschäftigt. Denn da ja der Rebbe, seine Seele ist in Eden, diese Geschichte seinem einzigen Sohn – dem Rebben – erzählt hat, und der Rebbe sie wiederholte, versteht es sich, dass man sie der Öffentlichkeit vermitteln soll. Dies belegt, dass diese Geschichte auch uns betrifft und dass man aus ihr zwei Lehren ziehen kann – eine aus der Frage und eine aus der Antwort.

3. Das Weinen des Rebben, weil sich G"tt ihn nicht gezeigt hat bezieht sich auf jeden Juden, in welcher Situation er sich auch befinden mag, selbst wenn er noch nicht das Alter der Einweisung erreicht hat, d.h. wenn es ihn an vielen Orten an Verstand mangelt, er also unfähig ist, gewisse Dinge zu verstehen und darüber hinaus nicht in der Lage ist, sich auch nicht von einem zweiten belehren zu lassen.

– Nun mag ein solcher Mensch, der Anzahl seiner Lebensjahre nach bereits erwachsen sein, auf spiritueller Ebene jedoch trotzdem auf dem Niveau eines Kindes zurückgeblieben sein und noch nicht das Alter der Einweisung erreicht haben. Darauf bezog sich auch der Rebbe, mein Schwiegervater, als er sagte, dass sich jüdische Jahre nicht aus dem Reisepass erkennen lassen. Gemäß dem Pass mag man ein alter Jude sein, der Anzahl der wahren, spirituellen Jahren und dem Einhalten von Tora und Geboten nach, kann man aber trotzdem ein Kind sein, welches sich damit vergnügt, unterm Tisch zu sitzen und zu spielen. –

Wir lernen also, dass auch ein solcher Mensch mit aller Kraft fordern darf, dass sich G"tt ihn zeigt, mit solcher Macht, dass man dadurch zu weinen beginnt.

– Denn das Weinen kommt durch einen Einfluss zustande, der über den Verstand und über den Intellekt hinausgehen, so dass jene nicht in der Lage sind, diesen Einfluss zu ertragen. Diese "Überlastungen des Intellekts" führen dann zu Tränen2. –

Und fordern darf man, dass sich G"tt einem zeigt, wie er sich auch unseren Vater Awraham zeigte.

4. Doch damit nicht genug – man darf verlangen, dass sich G"tt einem zeigt, so wie er es unserem Vater Awraham tat, nachdem dieser das Gebot seiner Beschneidung erfüllt hatte, denn in diesem Zustand war es doch, dass "G"tt sich ihn zeigte". Auch vorher sehen wir, dass sich G"tt mit Seinem Ewigen Namen dem Awraham zeigte, dies ist jedoch nicht dasselbe, wie die Offenbarung – "und Ich offenbarte Mich" – nach dem Gebot der Beschneidung, welche weit höher ist3.

Zum Zeitpunkt, zu dem sich G"tt dem Awraham nach dessen Beschneidung zeigte, hieß jener bereits Awraham, er trug also bereits den zusätzlichen Buchstaben Heh. Die Gemara bemerkt hierzu4, dass damals Awraham die Beherrschung über jene fünf Organe erlangt hatte – Augen, Ohren und männliches Glied – die sich der Kontrolle des Menschen naturgemäß entziehen. Vorher hatte er Awram geheißen und beherrschte allein jene Organe, welche ein Mensch gemäß seiner Natur beherrschen kann. Danach aber, durch alles, was er aus eigener Kraft getan hatte – und wie viel kann ein Mensch von sich aus schon tun ... – bekam er vom Himmel solche Begabungen, die man selber nicht erlangen kann und konnte so auch jene Aspekte beherrschen, die man naturgemäß nicht beherrschen kann.

Auf Grund des bereits Gesagten ist klar, dass die Offenbarung, welche unser Vater Awraham nach seiner Beschneidung erfuhr, weitaus höher war, als zuvor.

Und trotzdem kann jeder Jude – auch ein solcher, der spirituell betrachtet noch nicht das Alter der Einweisung erreicht hat – fordern, dass sich G"tt ihn zeigt, so wie er sich Awraham zeigte, als sich jener bereits auf der Stufe nach der Beschneidung befand.

5. Von der Antwort des Zemach Zedek lernen wir, dass die Offenbarung, welche Awraham zuteil wurde, aus der Erkenntnis rührte, dass er sich beschneiden muss. Daraus kann man lernen, dass zwar jeder Jude fordern kann, dass sich G"tt ihn zeigt, dass aber zuvor eine Vorbereitung erforderlich ist – man muss erkennen, dass man sich beschneiden muss, und zwar ungeachtet aller Vorzüge, über die man tatsächlich oder zumindest potentiell verfügt.

– Denn potentiell kann jeder Jude ja die höchste Stufe erreichen, wie bereits besprochen wurde, und wie ja auch geschrieben steht5, das jeder Jude verpflichtet ist, zu fragen: "wann werden meine Taten endlich die Stufe der Taten meiner Väter Awraham, Jizchak und Jaakow erreichen?" Aus der Tatsache, dass hier Awraham zusammen mit Jizchak und Jaakow aufgezählt werden, kann man erkennen, dass hier Awraham auf der Stufe nach seiner Beschneidung gemeint ist. –

Und trotzdem muss man wissen, dass man sich beschneiden muss ...

6. Doch damit nicht genug: Selbst jene, welche ihre positiven Anlagen verwirklicht haben, also die Gerechten, welche jene Körperteile beherrschen, welche man naturgemäß nicht beherrschen kann – so wie unser Vater Awraham – auch sie müssen wissen, dass sie sich noch beschneiden müssen.

– In diesem Zusammenhang soll die folgende bekannte Geschichte vom Rebben (Moharaschab), seine Seele ist in Eden, erwähnt werden. Einmal klagte der Rebbe, dass er auf einem Ohr nicht höre. Als man anfing, die Ursache zu erforschen, kam man darauf, dass der Rebbe am Schabbat zuvor einen Chassidus-Vortrag gehalten hatte und man sich aber zur gleichen Zeit in einem anderen Zimmer unterhalten hatte. Dies hatte den Rebben beim Vortrag gestört. Da im Verbreiten seiner Chassidus-Lehre seine Pflicht bestand und die Unterhaltung ihn störte, entfernte er die Hörfähigkeit aus dem Ohr, welches sich in Richtung jenes zweiten Zimmers befand.

Dies wird auch in einem Vortrag erwähnt6, dass nämlich Gerechte ihr Seh- oder Hörvermögen entfernten, wenn diese ihre g"ttliche Seele störten, denn die Gerechten beherrschen auch jene Sinne, welcher man natürlicher Weise nicht Herr ist. –

Aber auch jene, welche auf einer solch hohen Stufe stehen, müssen wissen, dass auch sie sich noch beschneiden müssen.

7. Der Grund dafür ist, dass wenn – spirituell gesehen – auch nur die allerdünnste Vorhaut verblieben ist, diese nach vielen Wandlungen letztlich zu niedrigen Dingen führen kann.

Und darum erwähnt der Rebbe der Zemach Zedek ja, dass es sich hier um einen Jude, einen Gerechten handelt, der mit neunundneunzig Jahren weiß, dass er sich beschneiden muss. Denn wäre er hundert Jahre wäre, dann hieße dies, dass er bereits die zehn Kräfte seiner Seele, in welch jeder sich wiederum alle zehn wiederfinden, bereits geläutert und erhoben hätte. Wenn dieser Zustand erreicht wird, dann hat man nichts mehr zu befürchten, wie ja auch geschrieben steht "bei einem Hundertjährigen ist es so, als wäre er bereits verstorben, hinweggezogen und der Welt entronnen"7.

– Denn auf den ersten Blick erscheint unverständlich, warum in den Sprüchen der Väter gesagt wird "bei einem Hundertjährigen ist es so, als wäre er bereits verstorben, hinweggezogen und der Welt entronnen", da ja zu allen anderen vermerkten Altersstufen in dieser Mischna praktische Anweisungen folgen, womit man sich beschäftigen soll: mit fünf der schriftlichen Tora, mit zehn der Mischna, mit dreizehn den Geboten usw. Was für eine Anweisung aber enthält die Aussage. "bei einem Hundertjährigen ist es so, als wäre er bereits verstorben, hinweggezogen und der Welt entronnen"? Die einfache Erklärung davon ist, dass man, wenn man alle zehn Kräfte – und zwar in ihren Einzelheiten8, also den zehn Kräften, die sie birgt9 – geläutert und erhoben hat, dann wird man ein Hundertjähriger (hebr. Sohn der hundert – Anm. d. Übers.) genannt. Dann ist es so "als wäre man bereits verstorben, hinweggezogen und der Welt entronnen". Dann haftet man nicht mehr an den Dingen dieser Welt und hat nichts mehr zu befürchten, ganz so, als hätte man keinen schlechten Trieb mehr10. –

Wenn man aber 99 Jahre alt ist, so ist die Läuterung der zehn Seelenkräfte im Einzelnen noch nicht vollständig und es kann noch immer geschehen, dass nach vielen Wandlungen dadurch ein Makel entsteht.

– Die vielen Wandlungen bedeuten nicht, dass sich der Mensch in einer Welt befindet, und ein Abstieg in eine zweite Welt führt. Denn da ja der Mensch der Schöpfung vorausging, aber auch der Abschluss der Schöpfung ist11, so kann es im Menschen selber zu vielen Wandlungen kommen. –

Und so kann es geschehen, dass dieser Makel zu niedrigen Dingen führt.

Wenn aber die allgemeine Bereitschaft zur Selbstaufgabe vorhanden ist, dann weiß man, dass man sich beschneiden muss. Man weiß, das man so, wie man ist, noch nicht taugt und dass man anders werden muss. Und dies ist die Vorarbeit, um auf die nächste, höhere Stufe zu steigen. Denn es soll ja so sein, dass "der Ewige sich ihm offenbart", so wie einst dem Awraham, nach der Erfüllung des Gebots der Beschneidung, denn man soll ja selber zum Awraham werden – mit einem zusätzlichen Heh. Man soll ja endlich in der Lage sein, alle Sinne zu beherrschen – auch jene, welche sich naturgemäß nicht beherrschen lassen.

Und noch mehr: so beherrscht man endlich den Teil der Welt, der zum eigenen Verantwortungsbereich gehört. Dies entspricht dem, was man beim Vortrag über die Gerechten gesagt hat, nämlich dass jene durch die Läuterung des eigenen Ich auch eine Läuterung ihres Teiles in der Welt bewirken.

Ebenso hier. Dadurch dass man die eigenen Sinne beherrscht, wird man auch den eigenen Teil der Welt beherrschen. Dies gilt für alle Dinge, die man benötigt um G"tt zu dienen, seien dies Kinder, Gesundheit oder Lebensunterhalt. Und all dies wird auf großzügige Weise gegeben werden.