In den vorigen Wochenabschnitten erläuterte die Thora die Vorschriften für die Tieropfer und welche Tiere rein und unrein sind. In unserem Wochenabschnitt geht die Thora auf die Vorschriften bezüglich des Menschen ein, wann er unrein wird und wie er sich wieder reinigen kann. Darauf erklären unsere Meister: „Wie beim Schöpfungswerk die Erschaffung des Menschen nach der von allem Vieh, Wild und Geflügel stattfand, so werden auch die Vorschriften für ihn erst nach den Vorschriften für das Vieh, Wild und Geflügel erläutert.“1
Auf die Frage, weshalb der Mensch erst nach allen anderen Lebewesen erschaffen wurde, gibt der Talmud mehrere Antworten: Der Mensch wurde am Ende der Schöpfung erschaffen, damit er in eine vollendete Welt eintrete „und sogleich damit beginne, G-tt zu dienen“. Eine weitere Antwort: Sollte der Mensch sich unwürdig verhalten, wird man ihm sagen: „Die Mücke hatte dir gegenüber Vorrang, der Wurm hatte dir gegenüber Vorrang!“2
Der Widerspruch im Menschen
Diese zwei Antworten legen die zwei entgegengesetzten Seiten im menschlichen Wesen offen. Laut der ersten Antwort gilt der Mensch als Krone der Schöpfung, weshalb G-tt für ihn die Welt erschuf und erst dann den Menschen auf sie setzte, als alles fertig war. Doch der zweiten Erklärung zufolge ist der Mensch minderwertiger als alle anderen Lebewesen, bis man über ihn sagen kann: „Die Mücke hatte dir gegenüber Vorrang!“
Tiefer betrachtet bezieht sich die erste Erklärung (die Erhabenheit des Menschen) auf seine g-ttliche Seele und die zweite Erklärung (dass der Mensch minderwertiger als alle anderen Lebewesen ist) bezieht sich auf seinen Körper.
Niedriger als die Mücke
Seitens seiner Seele, welche „wahrhaftig ein Teil G-ttes ist“3, steht der jüdische Mensch über jedem anderen Geschöpf. Darin liegt die eigentliche Erhabenheit des Menschen, welche ihn sogar über jegliche Versuchung zu einer Sünde stellt. Denn seine g-ttliche Seele verachtet ja jede Sünde. Doch seitens seines irdischen Körpers ist er sogar niedriger als die Mücke. Denn ausschließlich alle Lebewesen erfüllen ihre Aufgabe auf der Welt und verhalten sich gemäß dem Willen G-ttes. Der Mensch jedoch ist das einzige Geschöpf, das gegen G-tt rebellieren kann. Dies ist sein Körper samt seinen Trieben. Aus dieser Perspektive ist er sogar niedriger, als die Mücke.
Weil der Mensch in seinem Niveau unter jedes andere Lebewesen fallen kann, werden in der Thora die Vorschriften über den Menschen erst nach den Vorschriften über die Tiere behandelt. Denn die Thora geht immer „vom Leichten auf das Schwere“. Es ist leichter, die Tiere zu kontrollieren, als den Menschen. Deshalb erläutert die Thora zuerst „das Leichte“ (die Vorschriften über die Tiere) und geht erst dann zum „Schweren“ über (die Vorschriften über den Menschen).
Der Sinn auf Erden
Diese Widersprüchlichkeit im menschlichen Wesen lässt eine große Frage offen: Wie ist es überhaupt möglich, dass der Mensch sowohl erhabener als alle anderen Geschöpfe, wie auch minderwertiger als alle anderen Geschöpfe sein kann? Weshalb erschuf G-tt den Menschen auf solche Weise? Dies kann nur bedeuten, dass sich auch in der Minderwertigkeit des Menschen große Erhabenheit verbirgt!
Es ist zwar richtig, dass seitens seines Körpers der Mensch unter allen Lebewesen steht, doch gerade darin liegt der Sinn seiner Schöpfung. Der Wille G-ttes ist es nämlich, dass sich die erhabene Seele in den niedrigen Körper kleidet, seine Triebe bändigt und zähmt und ihn schließlich emporhebt und heiligt!
Der Sinn des Menschen auf Erden spiegelt sich in seinem Namen wider: אדם (Adam). Er heißt אדם, weil sein Körper aus der Erde (אדמה) kommt und seine Seele g-ttähnlich ist (אדמה לעליון).
Der Mensch soll in seinem niedrigen Körper seine erhabene Seele offenbaren, bis er den Willen seiner Seele (Thora und Mitzwot) über den Willen seines Körpers gestellt hat (körperliche Triebe) und dadurch wird er seiner Aufgabe auf Erden gerecht sein!
(Likutej Sichot, Band 7, Seite 74)
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