Zu Beginn unseres Wochenabschnitts erwähnt die Thora alle 42 Wanderungen, die das jüdische Volk in der Wüste vom Auszug aus Ägypten bis zum Eintritt in das Heilige Land durchmachte. Nun stand es unmittelbar davor, das Heilige Land zu erobern. Warum hält es die Thora für notwendig, all diese Wanderungen zu erwähnen und warum gerade jetzt vor der Eroberung des Landes? Der Midrasch bringt dazu ein Gleichnis:1 „Dies gleicht einem König, der mit seinem kranken Sohn an einen fernen Ort reisen musste, um ihn dort zu heilen. Nachdem der Sohn wieder zu Kräften kam und sie auf dem Heimweg waren, begann sein Vater ihm von den Erlebnissen der Hinreise zu erzählen. ‚Hier haben wir geschlafen, hier hattest du starke Schmerzen, hier war dir sehr kalt usw.‘ So sprach auch G-tt zu Mose: ‚Zähle alle Orte auf, an denen sie mich erzürnten‘.“
Da in der Thora alles präzise ist, erklärt uns dieses Gleichnis nicht nur, warum die Thora alle Wanderungen erwähnt, sondern das Gleichnis gibt uns auch ein tieferes Verständnis darin, wozu die Wanderungen überhaupt notwendig waren.
Es gibt ein sinnvolles Ziel
Die Wanderungen des jüdischen Volkes in der Wüste symbolisieren die lange Wanderung des jüdischen Volkes in der „Wüste der Weltvölker“ im Laufe der Galut.2 Die Wanderung endet am Ufer des Jordans, dem Tor zum Heiligen Land; dies ist eine Anspielung auf den Maschiach, der das gesamte jüdische Volk ins Heilige Land zurückführen wird.
Von dem Gleichnis lernen wir an erster Stelle, dass diese Wanderung, auf die sich der König mit seinem Sohn begibt, zur „Heilung“ des Sohnes dient. Die Wanderung ist zwar mühselig und gefährlich, doch sie dient einem wichtigen Zweck, nämlich Heilung und Befreiung zu bringen. So handelt es sich auch mit der langwierigen Galut, deren Ziel die vollkommene Erlösung ist, welche der Welt sowohl körperliche und seelische Heilung, als auch Befreiung bringt.
Schwere Zeiten
Im Gleichnis wird betont, dass der Vater seinem Sohn von den Erlebnissen auf der Reise erst bei ihrem Rückweg erzählt. Denn während der Wanderung war es dem Sohn noch nicht möglich, den Sinn und Nutzen der Wanderung zu verstehen. Er empfand dabei nur Leid und wünschte sich, nie auf diese Reise gegangen zu sein. Doch nachdem das Ziel erreicht und der Sohn wieder gesund wurde, konnte er nachvollziehen, dass auch die qualvollen Stationen in der Wanderung notwendig waren, um gesund zu werden.
Deshalb sprach G-tt am Ende der Wanderungen zu Mose: „Zähle alle Orte auf, an denen sie mich erzürnten.“ In den Propheten steht geschrieben, dass die Juden zur vollkommenen Erlösung G-tt auch für Seinen Zorn über sie danken werden: Ich danke Dir G-tt, dass du über mich gezürnt hast.3 Denn dann wird sich herausstellen, dass auch die dunkelsten Stunden in der Galut, als G-tt über uns zürnte, von der Güte G-ttes entsprangen und absolut gut waren, bis wir G-tt sogar dafür danken werden.
Diese Brille tragen wir noch nicht
Doch zu dieser tiefgründigen Erkenntnis kann man erst zur vollkommenen Erlösung kommen. Erst dann werden wir den Sinn aller Geschehnisse in der Galut begreifen. Doch davor, während wir uns noch in der Galut befinden, sind wir noch nicht befähigt, das Gute dahinter zu erkennen. Die schlechten Ereignisse in der Galut, die uns oder anderen widerfahren, müssen uns sogar schmerzen, wie auch der Umstand an sich, dass wir uns noch in der Galut befinden. Und wir müssen alles daran setzen, die schreckliche Galut zu beenden.
Doch nachdem die vollkommene Erlösung eingetroffen sein wird, wird sich uns der eigentliche Sinn der Galut und ihrer Qualen offenbaren. Wir werden die Galut aus einer höheren Perspektive betrachten, die wir heutzutage nicht haben, nämlich, dass auch die dunkelsten Stunden in der Galut zu jener Wanderung gehörten, die uns vorwärts brachte und mit der wir schließlich die vollkommene Erlösung erreichten.
(Likutej Sichot, Band 18, Seite 390)
Diskutieren Sie mit