In der dieswöchigen Sidra Acharej heißt es (Lev. 18, 5): "Ihr sollt (daher) Meine Satzungen und Meine Rechtsordnungen hüten, so dass, wenn der Mensch sie tut, er in ihnen lebt." Unter den biographischen Notizen des früheren Lubavitcher Rebben s.A. findet sich eine kurze Aufzeichnung über seine Großmutter, die Rebbezen Riwka, die auf diese G-ttliche Anweisung, "in ihnen zu leben", bezug hat.

Als die Rebbezen Riwka noch eine junge Frau war, litt sie an einer gewissen Krankheit. Der Arzt riet ihr, am Morgen gleich nach dem Aufwachen etwas zu essen; sie aber wollte vor dem Morgengebet nichts zu sich nehmen. So ergab es sich, dass sie von nun an sehr früh erwachte, ihr Morgengebet verrichtete und dann ihr Frühstück zu sich nahm, und dies zu einer Stunde, da alle anderen erst aufstanden. Selbstverständlich trug diese Lebensweise absolut nicht dazu bei, dass sie sich von ihrer Krankheit erholte, denn nicht nur befolgte sie die ärztliche Anweisung nicht, sondern sie beraubte sich auch noch des sehr notwendigen Schlafes.

Daraufhin ermahnte sie ihr Schwiegervater, der "Zemach Zedek" s.A: Ein Jude muss gesund und kräftig sein. In Bezug auf die Mizwot sagt die Tora (a.a.O.): "Der Mensch soll in ihnen leben" - das heißt: du sollst die Mizwot mit Leben erfüllen. Um aber Leben in die Mizwot zu bringen, musst du stark sein. Und der "Zemach Zedek" schloss mit den Worten: "Es ist viel besser, zu essen, damit man beten kann, als zu beten, dass man zu essen hat."

Die meisten menschlichen Betätigungen lassen sich unter zwei Überschriften gruppieren:

a) "Beten": Das ist all das, was wir für G-tt tun, wie die Tora lernen, beten und Mizwot ausüben. All diese Tätigkeiten fallen unter den Begriff "Beten", d. h. "G-ttesdienst".

b) "Essen": Das ist, was wir für uns selbst tun, entweder um einem fundamentalen menschlichen Bedürfnis Genüge zu tun oder um einen persönlichen Wunsch zu erfüllen, der uns wesentlich erscheint. Diese Dinge kommen unter die Überschrift "Essen", d. h. einen "Hunger" stillen.

Das menschliche "Essen-und-Beten"-Verhalten kann drei verschiedene Formen annehmen:

  1. Einmal können diese Betätigungen völlig getrennt erfolgen. Während des G-ttesdienstes (also z. B. beim Lernen, Beten oder Mizwot-Tun) steht der betreffende gänzlich auf einem geistigen Niveau. Man hat den Eindruck, dass ihm materielle Dinge überhaupt nichts bedeuten - kurzum, hier sehen wir einen Zaddik vor uns. Später jedoch, wenn derselbe Mensch sich mit materiellen Angelegenheiten abgibt, wie Geschäft oder Essen, ist auf einmal keine Spur mehr vorhanden von Heiligkeit, Geistigkeit und Lauterkeit.
  2. Ein zweiter Typ verbindet in der Tat "Essen" mit "G-ttesdienst". Er hält sich haargenau an den Gesetzeskodex (Schulchan Aruch), doch sein "G-ttesdienst" beruht auf dem Wunsche, einen gewissen "Appetit" zu befriedigen. Mit anderen Worten: Er weiss, dass er schließlich vor einem Höheren Rechenschaft ablegen muss, dass er, wenn er seinen Lohn haben will, des Herrn Geboten gehorchen muss. Sein "G-ttesdienst" kommt sozusagen einer Einzahlung in ein Bankkonto gleich, aus dem er in der Zukunft einmal entnehmen kann; es ist somit ein "G-ttesdienst, damit man zu essen hat".
  3. Die ideale Form ist, dass man isst, um G-tt dienen zu können. Dieser Mensch muss beten und G-tt dienen, das ist klar. Er will nicht weniger tun, als G-tt verlangt. Doch kümmert ihn himmlische oder irdische Belohnung wenig, seine Absicht liegt nicht darin, sich einer "Rückzahlung aus dem Konto" zu versichern - sondern sein Prinzip ist: Tora um der Tora willen. Doch ist dies noch nicht genug. Es ist außerdem erforderlich, dass sein "Essen" direkt auf den "G-ttesdienst" eingestellt ist, dass all sein Tun darauf ausgerichtet ist, Heiligkeit und Geistigkeit anzustreben. Und wenn er große Reichtümer erwirbt, dann muss er diese nutzen, um Mizwot zu tun, grosszügig Wohltätigkeit zu üben und durch sein praktisches Beispiel die ganze Gemeinde zu beeinflussen und zur Nachahmung zu bewegen: "So reich ist er, und er tut all das!"

Das ist die tiefere Bedeutung des Prinzips: "Iss, damit du beten kannst". All unsere weltlichen Angelegenheiten und die Erfüllung unserer Bedürfnisse müssen darauf ausgerichtet sein, dass man "in ihnen lebt" - um Tora und Mizwot Leben und Lebendigkeit zu geben.

Zusammenfassende Übersicht:

Was ist die innerste Bedeutung des Verses (Lev. 18, 5): Der Mensch soll die Gebote beobachten, damit "er in ihnen lebt"? All sein Tun soll darauf eingestellt sein, dass "er isst, um beten zu können".