Die dieswöchige Sidra Chaje Sara spricht von der Reise, die Abrahams Diener Elieser unternahm, um eine Frau für Isaak zu finden. Eliesers Wahl fiel auf Rebekka, und er bat ihre Eltern um Genehmigung, dass sie mit ihm nach Kanaan ziehen dürfe, um sich mit Isaak zu vermählen. Dabei sprach er diese Worte (Gen. 24, 49): "Und nun, wenn ihr meinem Herrn Güte (CHESSED) und Wahrheit (EMET) erweisen wollt..."

Eliesers Ausdrucksweise erscheint beim ersten Hinblick eigenartig. Er forderte Rebekkas Eltern auf, Abraham Güte zu erweisen, indem sie ihm Rebekka anvertrauten. Wenn sie auf diese Weise ihrer Güte durch die Tat Ausdruck verliehen, läge darin nicht schon als selbstverständlich begründet, dass sie in Wahrheit handelten? Die Antwort auf diese Frage ist leider - nein! Wirklichkeit besteht eine weite Kluft zwischen CHESSED (Güte) und EMET (Wahrheit, das ist: Aufrichtigkeit).

Der Unterschied wird klarer, wenn man ein paar Aussprüche der Lubawitscher Rebbes heranzieht:

Rabbi Schneur Salman von Liadi s.A., der Begründer des Chabad- Lubawistch-Chassidismus, hielt seine Anhänger immer dazu an, jede einzelne ihrer Taten kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie aufrichtig sei.

Der frühere Lubawitscher Rebbe, Rabbi Josef Jizchak Schneersohn s.A., lehrte: "Manche Menschen mögen meinen, wahrer G-ttesdienst bestehe aus gewaltigen, weltbewegenden Handlungen. In Wirklichkeit jedoch ist jede Handlung und Tat von größtem Wert und größter Bedeutung - vorausgesetzt dass sie auf Aufrichtigkeit beruht. Als ein Beispiel diene der einfache Ausspruch einer Bracha (eines Segensspruches); man nehme den Inhalt voll zu Herzen, und die Worte eines Gebetes seien ausgesprochen, wie sie ausgesprochen werden sollten - mit echtem Gefühl und wahrer Empfindung, und im Bewusstsein, dass man vor G-tt steht. Oder: jeder Vers in der Tora muss in der Erkenntnis studiert werden, dass er ein Wort G-ttes ist, und dasgleiche gilt für einen Vers aus Tehillim (Psalmen). Oder: man tue aufrichtige Liebe und Zuneigung zum 'Nebenmenschen kund. (Natürlich bedarf es, um diesen 'einfachen' Zustand von Aufrichtigkeit zu erlangen, gewaltiger Mühe und reichlichen Torastudiums!)"

In unserem eigenen Zeitalter ist oft eine hohe Mauer zwischen CHESSED (Güte) und EMET (Aufrichtigkeit) errichtet worden. Es gibt viel CHESSED, denn der Jude unserer Tage ist bekannt für seine Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. Aber EMET ist schwerer zu finden. Viele Menschen, die für ihre CHESSED-Taten bekannt sind, zeigen eine große Zurückhaltung, wenn sie CHESSED in Umständen von EMET zu erweisen haben, das heißt, wenn die Taten im Geheimen, nicht vor alles Öffentlichkeit, ausgeführt werden müssen; dann reagieren sie häufig viel kühler und unwilliger.

Tatsächlich ist die Kluft zwischen "Güte" und "Wahrheit" so tief, dass der große Toraerklärer Raschi sich auf den Standpunkt stellt, wahre Güte komme überhaupt nur in Taten wie (zum Beispiel) dem letzten Liebesdienst an Toten zum Ausdruck! Denn nachdem der Empfänger dieser Güte dem Erweiser nie dafür Anerkennung zollen oder einen Gegendienst leisten kann, steht dieser nicht im Verdacht, er habe mit irgendwelchen Hintergedanken oder aus eigennützigen Motiven gehandelt. Und selbst auf diesem Gebiete ist es heutzutage manchmal schwer, festzustellen, ob diese "Chessed schel Emet" (aufrichtige Güte) gänzlich uneigennützig erwiesen wird, ob nicht vielmehr der eine oder der andere gelegentlich dabei mitmacht, weniger um den Toten zu ehren als - dem Lebenden Befriedigung zu geben!

Wahre Güte muss von jeglicher Begleiterscheinung, ob direkter oder indirekter Art, frei sein - und so machte Elieser einen sehr wohl begründeten Unterschied zwischen CHESSED und EMET.

Zusammenfassende Übersicht:

Als Elieser die Eltern Rebekkas bat, seinem Herrn "Güte" und "Wahrheit" zu erweisen, war dies nicht eine unnötige Wiederholung von Wörtern. Zwischen Güte und Wahrheit besteht vielmehr ein bedeutungsvoller Unterschied; und diese Kluft zu überbrücken, ist keine leichte Aufgabe.