“Er ist kein echter Jude, weil er nicht ...”

Beenden Sie diesen Satz nicht! Denken Sie nicht einmal daran. Der Baal Schem Tow, einer unserer größten Weisen, verzweifelte nie an einem Juden, einerlei, was für ein Leben er führte. Wir haben weder die Weisheit noch die hohe Moral, um andere zu verurteilen.

Aber hat G-tt uns wirklich verboten, über andere Menschen Urteile zu fällen? Wir sehen es doch, wenn jemand Kinder mißhandelt, seine Kunden belügt oder Alkoholiker ist. Warum nicht urteilen?

Vor vielen Jahren gab es einen Film über das Thema “Erfüllte Wünsche”: Menschen auf der ganzen Welt hörten G–ttes Stimme im Radio (daran sehen Sie, wie alt der Film ist!). Das wiederholte sich einige Tage lang zur selben Zeit, und Millionen von Menschen gingen in die Gebethäuser, um für ihre Sünden Buße zu tun. Eine anrührende Geschichte, vielleicht von einem Autor, der G–tt zeigen wollte, wie er es richtig anpacken soll.

Aber im Ernst – warum spricht G–tt nicht zu uns? Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu streiten, was er von uns will.


Diese Frage wird im letzten Vers des Wochenabschnitts Nasso (“erheben”) beantwortet. Mosche wird ins Heiligtum gerufen, um die Stimme G-ttes zu hören. Warum mußte er dazu ins Heiligtum gehen, und warum konnten nicht alle Kinder Israel G–ttes Stimme hören? Weil es G–ttes Wille ist, daß wir ihm aus freier Entscheidung dienen. Er will uns nicht einschüchtern, damit wir die Mizwot befolgen. Das wäre zu einfach - und zu grob. Wir sollen von selbst zur Tora kommen und sie anerkennen, weil es richtig ist.

Ray Bradburys berühmte Science-fiction-Geschichte “Fahrenheit 451” (ebenfalls verfilmt) spiegelt G–ttes Haltung gut wider. Ein totalitärer Staat verbietet alle Bücher, und darum lernen die Menschen Shakespeare, Chaucer, Maimonides und natürlich die Bibel auswendig! Sie nehmen große Gedanken und Ideale in sich auf und drängen so die Kräfte des Bösen und der Unwissenheit zurück. Im Grunde brauchten sie die Bücher gar nicht mehr.

Daß die Tora uns als materielles Objekt vorliegt, ist ebenfalls nicht ihr wichtigster Aspekt. Wir gehorchen der Tora wegen ihrer hohen Gedanken und wegen des Lichts, das ihre Worte ausstrahlen. Mit diesen Ideen können wir dann das Leben anderer Menschen erhellen.

Wir müssen wie Mosche unser Zelt verlassen und in den Alltag hinausgehen, um G–ttes Wort zu verkünden. Warum sollen wir nicht urteilen? Wenn wir die Spiritualität eines anderen kritisieren, verurteilen wir uns selbst, weil wir unfähig sind, andere durch den Dienst an G–tt zu transformieren.