Ist Ihnen bei Beerdigungen schon einmal aufgefallen, wie unterschiedlich oder gar sonderbar die Teilnehmer reagieren? Die engen Angehörigen und Freunde sind beim G-ttesdienst und auf dem Friedhof tief betrübt, aber in der Schiwa kommt es dann zu vielen Gesprächen mit ganz verschiedenen Reaktionen.
Tante Selma erzählt leise vom Leben ihrer Schwester, zeigt ein Fotoalbum herum und berichtet von wichtigen Ereignissen. Onkel Nathan erzählt Witze, die — so behauptet er — der Verstorbenen gefallen haben. Vetter Hermann hat eine Liste von Kindheitserlebnissen parat, die zeigen sollen, dass die Tote keine perfekte Mutter war. Nachbarn, Freunde und Kollegen berichten von Erfolgen, Kämpfen, Marotten, Hobbys, Unfällen, Fondants und Malkursen. Alle Gespräche zusammen würden vielleicht ein Gesamtbild des Menschen ergeben.
Die Römer sagten: „Nil nisi bonum de mortus“ (sprich nicht abfällig über Tote). Das ist höflich. Aber ist es auch richtig?
Das Judentum ist eine interessante Religion, weil es uns auffordert, die Wahrheit zu suchen. Wenn wir das Leben eines Menschen von allen Seiten betrachten, erhalten wir ein ganzes, echtes, solides und ausgewogenes Bild von ihm - so wie es sein sollte. Wenn wir herausfinden, dass Tante Sadie auch nur ein Mensch war, wissen wir, dass sie genau so war, wie der Schöpfer sie haben wollte (samt Warzen usw.!).
Zaw ist ein Abschnitt, das von Opfern und Brandopfern handelt. Es folgt Wajikra, das im Wesentlichen das gleiche Thema hat. Zwei Parschijot über die Details der Buße – warum? Weil wir alle ein paar Gründe haben, tätige Reue zu üben. Aber die Tora steckt uns nicht in Sack und Asche, wie manche Leute glauben. Sie erklärt, dass wir alle Menschen und daher von Natur aus Sünder sind, weil G-tt uns so gemacht hat.
So wie die Tora das Essen der verbotenen Frucht, das Goldene Kalb und sogar Mosches Fehler nicht verschweigt, sollten auch wir unsere Fehler und Sünden nicht vergessen oder unter den Teppich kehren. Sie sind ein Teil des Stoffes, aus dem wir gemacht sind. Sie machen uns sogar groß.
Wenn Tante Sadie manchmal ihre Kinder anschrie, wie verrückt Auto fuhr, ihren Scheck für die jüdische Wohlfahrt vergaß – nun, dann waren ihre Erfolge um so größer. Ja, auch sie hat ihre Grenzen überschritten und spirituelle Gipfel erreicht. Und als Mensch wissen Sie ja, dass das nicht immer leicht ist.
Unsere Sünden sind kein Trost für uns. Aber wenn wir oder andere sündigen, brauchen wir nicht höflich vorzutäuschen, nichts sei geschehen. Sehen wir lieber die Aktivität unserer Seele um so glanzvoller — so, wie sie tatsächlich ist.
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