Haben Sie je darüber nachgedacht, wie oft es zu Unklarheiten oder Missverständnissen kommt, wenn Menschen miteinander reden? Wenn ja, sind Sie wahrscheinlich sehr vorsichtig, bevor Sie eine Bemerkung machen.

Wie oft haben Sie sich mit anderen darüber gestritten, wer gestern was gesagt und gemeint hat? Waren Sie schon einmal der Meinung, jemand habe gelogen, um später herauszufinden, dass er die reine Wahrheit gesagt hat? Oder haben Sie jemandem Spott unterstellt, obwohl er es ernst meinte?

Wir können der Versuchung nur sehr schwer widerstehen, zu erraten, was andere Menschen im Herzen bewegt. Wir tun es, weil es zu unseren sündhaften Neigungen gehört, andere falsch zu beurteilen.


In Bo, dem Tora-Abschnitt dieser Woche, bittet Mosche den Pharao immer wieder, die Kinder Israel gehen zu lassen. Jedes Mal stimmt der Pharao scheinbar zu und nimmt sein Wort dann zurück. Genau das hat G–tt dem Mosche vorausgesagt; dennoch scheint Mosche dem Pharao zu glauben.

Wir wissen, warum Mosche nie an G–ttes Plan zweifelt: Er hat Glauben. Nicht erklärt wird, warum Mosche den Pharao nie wegen seiner Doppelzüngigkeit kritisiert. Glaubt er, der Pharao sei nur G–ttes Marionette? Das wäre keine jüdische Auffassung. Wir müssen uns mit der greifbaren Wirklichkeit auseinandersetzen.

Aber was meint G–tt, wenn er sagt, er werde “das Herz des Pharao verhärten”? Er meint, dass er weiß, was geschehen wird. Dennoch bleibt es ein Rätsel, warum Mosche den Pharao anscheinend beim Wort nimmt.

Die profane Antwort lautet: Mosche war gezwungen, den Pharao respektvoll zu behandeln. Der wahre Grund könnte sein, dass Mosche meint, er habe kein Recht, Vermutungen darüber anzustellen, was im Herzen eines anderen vorgeht. Das überlässt er G–tt, und wir sollten uns daran ein Beispiel nehmen. Erst als der Pharao sich mehrfach weigert, sein Versprechen zu halten, und als die Ägypter unter den Plagen leiden, wiederholt Mosche seine Forderung. Doch als der Pharao sagt: “Ich lasse euch ziehen mit euren Kindern”, geht Mosche wortlos. Er weiß — und wir wissen es —, dass der Pharao lügt.

Aber wissen wir genau, ob ein Freund lügt? Ob der Ehemann oder die Frau etwas verbirgt? Was unsere Kinder wirklich denken? Wir wissen es nicht. Darum dürfen wir nicht über andere richten. Vielleicht lernen sie dann, nicht über uns zu richten.