Die Lesung der Wochenabschnitte der Tora ist so eingeteilt, dass der Abschnitt Nasso normalerweise jedes Jahr nach Schawuot gelesen wird. Schawuot erinnert uns an die Gabe der Tora, und als die Tora gegeben wurde, veränderte sich der spirituelle Charakter des Weltsystems völlig.

Vor der Gabe der Tora hatten g-ttgewollte Taten, wie etwa die Werke der Erzväter und -mütter, zwar eine besondere spirituelle Wirkung, aber diese Wirkung war nicht nachhaltig, sie verging wieder sobald das Werk getan war. Seit der Gabe der Tora ist es jedoch so, dass alle Gebote G-ttes die wir ausüben eine bleibende Wirkung entfalten – spirituelle Nachhaltigkeit sozusagen.

Von einem der Gelehrten des Talmuds namens Rav Josef ist überliefert, dass er für das Fest Schawuot besonders eifrige Vorbereitungen pflegte, die er wie folgt begründete: Wäre nicht die Gabe der Tora gewesen – »wie viele Josefs gäbe es am Marktplatz!« Nach dem einfachen Wortsinn kann man diese Bemerkung so verstehen, dass Rav Josef dankbar für die Möglichkeit, Tora zu lernen war – und durch sein Lernen unterschied er sich von der Menge all der ›Josefs‹, die sich am Markt tummelten.

Der Lubawitscher Rebbe hat diese Bemerkung von Rav Josef genauer unter die Lupe genommen und weist auf einen tieferen Sinn hin:

Der Marktplatz kann als Analogie zur materiellen Welt verstanden werden, diese ist – so wie ein Markt – von Separation gekennzeichnet. Alle gehen jeweils an ihrem Platz ihren Geschäften und Aufgaben nach und es ist keine Einheit erkennbar. Trotzdem ist es gerade diese – durch den ›Marktplatz‹ symbolisierte – Welt, in welcher der Mensch Gelegenheit hat, durch die Ausübung guter Taten auch etwas für die Seele zu tun.

Seit der Gabe der Tora kam in diese von Separation gekennzeichnete Welt das Potential zur Einheit. Durch Lernen und Ausüben der Tora wird eine Einheit geschaffen, die bewirkt, dass es nunmehr nicht viele einzelne ›Josefs‹ am Marktplatz gibt, sondern all die vielen spezifischen Aktivitäten zu Elementen und Bestandteilen einer höheren Synthese werden.

Nun war die Gabe der Tora keineswegs ein bloßes historisches Ereignis, sondern dient jedes Jahr auf’s Neue als Anlass und Quelle der Inspiration, unsere Verbindung mit G-tt zu vertiefen.

Dieser Gedanke findet auch seinen Ausdruck am Beginn unseres Wochenabschnittes ›Nasso‹. Das Wort bedeutet nicht nur ›zählen‹, sondern auch ›aufheben‹ – die Köpfe des jüdischen Volkes sollen nicht nur erhoben sondern auch gehoben werden. Der Kopf, der Sitz des Intellekts ist der höchste Teil des Körpers – doch er kann noch weiter erhoben werden durch Beschäftigung mit der Tora. Denn wenn jemand Tora lernt ist dies mehr als eine geistige Beschäftigung – es entsteht nachhaltige Verbindung mit G-ttes Weisheit.